L 1 AL 10/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 37 AL 318/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 10/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 7/7a AL 40/06 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Auf Revision wird Urteil des LSG aufghoben!
Sache zur erneuten Verhandlung an LSG zurück.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 6.1.2006 geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.7.2005 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld aufgrund eines Bemessungsentgelts in Höhe von 129,92 EUR zu gewähren. Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Berechnung seines Arbeitslosengeldes nach dem zwei Jahre zurück liegenden höheren Verdienst.

Er war seit September 1969 im Metallunternehmen H mbH (im Folgenden H) beschäftigt, zuletzt als Ausbilder. Im Jahr 2004 schloss die H mit ihrem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung, nach der für die die Monate April 2004 bis März 2005 (einschließlich) die sonst fällige Sonderzahlung einbehalten und das Gehalt der Mitarbeiter um 4 % gekürzt wurde, um die Arbeitsplätze zu sichern. 2005 wurde der Betrieb der H eingestellt und der Kläger betriebsbedingt zum Ende des Monats Arpril 2005 gekündigt.

Die Beklagte berechnete das vom Kläger beantragte Arbeitslosengeld nach dem Verdienst des Jahres 2004 (Bescheid vom 11.5.2005). Den Rechtsbehelf des Klägers, mit dem dieser die Berücksichtigung des höheren Verdiensts des Jahres 2003 aus der Zeit vor der Betriebsvereinbarung begehrte, wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 28.7.2005).

Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 6.1.2006 (S 37 AL 318/05) bestätigt und zur Begründung die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen der Vorschrift des § 130 Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III), der in Härtefälllen ausnahmsweise die Berücksichtigung des zwei Jahre zurück liegenden Arbeitsentgelts bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes zulässt, lägen nicht vor. Denn eine solche unbillige Härte habe das Bundessozialgerichts bislang erst bei einem Gehaltsunterschied von 25 % festgestellt (SozR 4100 § 112 Nr. 6 und Nr. 19). Andere Gesichtspunkte wie etwa der Grund, warum das Gehalt kurz vor der Arbeitslosigkeit gesunken sei, könnten keine Berücksichtigung finden.

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der ebenso wie die Beklagte der Entscheidung des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung zugestimmt hat.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

wie erkannt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich neben der Rechtsprechung des BSG auf ihre Verwaltungsvorschriften, die für einen Härtefall einen Gehaltsunterschied von mindestens 10 % vorgeben.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts war zu ändern, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinem sozialen Recht aus § 130 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB III auf Berücksichtigung seines zwei Jahre zurückliegenden Verdiensts bei Berechnung des Arbeitslosengeldes.

Die Berechnung nach dem niedrigeren Jahresentgelt des unmittelbar vor der Arbeitslosigkeit liegenden Jahres stellt hier eine unbillige Härte dar. Zwar hat das Sozialgericht zutreffend festgestellt, dass der Gehaltsunterschied im Fall des Klägers, bezogen auf den auf zwei Jahre zeitlich erweiterten Bemesssungsrahmen ", lediglich" 6,47 % beträgt und damit die von der Beklagen für zwingend gehaltene Grenze nicht erreicht.

Nicht gefolgt werden kann dem Sozialgericht jedoch darin, dass die Gründe für den Gehaltsunterschied bei der Feststellung eines Härtefalls stets außer Betracht zu bleiben haben. Denn der unbestimmte Rechtsbegriff der "unbilligen Härte", den das Gesetz in § 130 Abs. 3 Nr. 2 SGB II gebraucht, ist kein rein rechnerisches, sondern ein wertausfüllungsbedürfiges Kriterium. Dabei sind die Wertungselemente dem Zweck der Bestimmung zu entnehmen. Auszugehen ist vom Grundzweck des Arbeitslosengeldes, das dazu dient, den Arbeitnehmern, das solidarisch versicherte Risiko des Lohnverlusts für einen angemessenen Zeitraum auszugleichen. Wann eine unbillige Härte i.S.d. § 130 Abs. 3 Nr. 2 SGB III vorliegt und deswegen auch ein länger zurückliegender Verdienst zu berücksichtigen ist, kann daher nicht unabhängig vom Versicherungs- und vom Solidargedanken beurteilt werden. Dieser wird unter anderem dadurch geprägt, dass der Versicherte die versicherte Gefahr - hier Wegfall des Arbeitsplatzes - durch zumutbare eigene Anstrengungen möglichst klein halten soll, um so die Solidargemeinschaft zu entlasten. Es wäre ein Wertungswiderspruch, solche pflichtgemäßen Anstrengungen bei Eintritt des Versicherungsfalls nicht zu Gunsten, sondern zu Lasten des Versicherten zu bewerten. Genau dies aber geschieht im Fall des Klägers wegen des Lohnverzichts der Belegschaft der H zur Arbeitsplatzsicherung nach dem Berechnungsmodell der Beklagten. Denn danach sind die betroffenen Arbeitnehmer doppelt belastet: einmal durch den Lohnverzicht und das zweite mal durch das niedrigere Arbeitslosengeld. Dass sich der Zweck der Betriebsvereinbarung, die Arbeitsplätze zu erhalten, nicht dauerhaft verwirklichen ließ, fällt demgegenüber nicht in den Verantwortungsbereich der Arbeitnehmer, sondern in das über die Beklagte versicherte allgemeine Wirtschaftsrisko.

Der Gehaltsunterschied von immerhin 6,47 % ist auch nicht unwesentlich, sondern bewegt sich im Ergebnis bei einer wirtschaftlich deutlich spürbaren Auswirkung, die nach Auffassung des erkennenden Gerichts jedenfalls ab einer Grenze von 5 % überschritten ist.

Es entspricht daher der Billigkeit, für die Berechnung des Arbeitslosengeldes der betroffenen Arbeitnehmer auf die Zeit vor dem freiwilligen Lohnverzicht abzustellen, so wie dies § 130 Abs. 3 Nr. 2 SGB III für die Zeit von zwei Jahren vor Eintritt der Arbeitslosigkeit ermöglicht. Die anders lautenden internen Verwaltungsvorschriften der Beklagten, die das unterhalb der Grenze von 10 % Gehaltsunterschied ausschließen sollen, sind insoweit wegen des Verstoßes gegen höherrangiges Rechts unbeachtlich.

Da das Bundessozialgericht bislang weder über die Mindestgrenze für das Vorliegen einer unbilligen Härte i.S.d. § 130 Abs. 3 Nr. 2 SGB III noch über die dabei zu berücksichtigenden Gründe eines etwaigen Gehaltsunterschieds entschieden hat, war die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zuzulassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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