Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 25 AL 279/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 62/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.09.2006 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 22.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2005 verpflichtet, dem Kläger Arbeitslosengeld ab dem 01.11.2005 für 960 Kalendertage zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für 780 oder für 960 Tage hat.
Der am 00.00.1948 geborene Kläger war ab dem 09.01.1995 als gewerblicher Mitarbeiter bei der W Gewürze GmbH & Co. KG (W-KG) in X beschäftigt. Am 08.04.2005 kündigte die W-KG das Arbeitsverhältnis fristlos. Am 11.04.2005 meldete der Kläger sich arbeitslos und beantragte Alg. In den Angaben zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses erklärte er, er habe Kündigungsschutzklage erhoben und wolle in die Firma zurück. Eine Beratung über die Möglichkeit, den Beginn des Anspruchs zu verschieben, fand nicht statt. Mit Bescheid vom 29.04.2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig Alg. Gleichzeitig machte sie ihren Erstattungsanspruch gegenüber der W-KG geltend. Am 25.08.2005 schlossen der Kläger und die W-KG im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Wuppertal einen Vergleich, demzufolge das Arbeitsverhältnis aufgrund fristloser betriebsbedingter Kündigung der W-KG mit sozialer Auslauffrist zum 31.10.2005 beendet wurde. Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses blieb der Kläger unter Anrechnung des ihm zustehenden Urlaubs von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt. Die W-KG verpflichtete sich, das Arbeitsverhältnis ab April 2005 auf der Basis eines Bruttomonatsgehaltes von 1.969,74 EUR abzurechnen und die sich daraus ergebenden Nettobeträge an den Kläger auszuzahlen, soweit die Ansprüche nicht auf die Beklagte übergegangen waren. Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit, dass sein Anspruch auf Alg ruhe und sie das vom 09.04. bis zum 31.08.2005 gezahlte Alg in Höhe von 3.998,40 EUR von der W-KG erstattet verlange. Die W-KG befriedigte den Erstattungsanspruch der Beklagten. Diese bewilligte dem Kläger daraufhin Alg ab dem 01.11.2005 für die Dauer von 780 Tagen (Bescheid vom 22.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2005).
Mit der dagegen zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er sei erstmals ab dem 01.11.2005 arbeitslos und habe daher wegen zwischenzeitlicher Vollendung des 57. Lebensjahres am 18.10.2005 Anspruch auf Alg für 960 Tage. Vor dem 01.11.2005 sei Arbeitslosigkeit wegen des fortbestehenden Arbeitsverhältnisses nicht eingetreten. Die Arbeitslosmeldung am 11.04.2005 sei nur vorsorglich erfolgt.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 08.09.2006). Maßgeblich sei das Lebensalter des Klägers bei Entstehung des Anspruchs. Der Anspruch sei am 09.04.2005 entstanden, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt habe. Insbesondere sei er arbeitslos gewesen. Hieran habe sich wegen der Freistellung durch die W-KG auch nichts geändert, denn das Beschäftigungsverhältnis sei ihretwegen nicht wieder aufgelebt. Zu keinem anderen Ergebnis führe es, dass die W-KG das gezahlte Alg erstattet habe. Aufgrund dessen habe der Alg-Anspruch lediglich geruht, er sei aber nicht erloschen. Eine längere Anspruchsdauer ergebe sich auch nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, weil die Beklagte hinsichtlich der Möglichkeit zur Verschiebung des Anspruchsbeginns keine Pflicht zur Spontanberatung gehabt habe.
Mit der Berufung trägt der Kläger vor, er hätte im Falle einer zutreffenden Beratung durch die Beklagte darüber, dass es hinsichtlich der Anspruchsdauer allein auf den erstmaligen Antrag ankomme, den Zeitraum bis zur Wiederaufnahme der Zahlungen durch die W-KG überbrücken können: Seine Ehefrau arbeite vollschichtig als Packerin und verdiene in etwa 1.250 EUR netto monatlich. Zwar hätten damit die laufenden Verbindlichkeiten wie Warmmiete (659,57 EUR monatlich) und Kreditschulden (755,03 EUR monatlich) nicht vollständig befriedigt werden können. Er hätte in diesem Fall jedoch einen Dispositionskredit im Umfang von bis zu 7.700,00 EUR in Anspruch nehmen können. Zudem habe er über ein Bausparguthaben von 2.000,00 EUR verfügt, das er im Notfall ohne Verlust hätte kündigen können. Eingedenk eines sonst drohenden Anspruchsverlustes in Höhe von 5.292,00 EUR hätte er die mit einer finanziellen Überbrückung anfallenden Kreditzinsen in Kauf genommen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.09.2006 die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 22.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2005 ab dem 01.11.2005 Arbeitslosengeld für 960 Kalendertage zuzubilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt ihre Verwaltungsentscheidung und das Urteil des SG.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 16.01.2007 Bezug genommen, in dem sich die Beteiligten mit einer Entscheidung des Senates ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben. Der Senat hat die den Kläger betreffende Leistungsakte der Beklagten beigezogen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die Berufung ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, soweit die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger für länger als 780 Kalendertage Alg zu bewilligen. Der Kläger hat Anspruch auf Alg für 960 Kalendertage.
Nach § 127 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in der hier gemäß § 434l Abs. 1 SGB III noch anwendbaren, bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung beträgt die Dauer des Anspruchs auf Alg nach einem Versicherungspflichtverhältnis mit einer Dauer von insgesamt 64 Monaten und nach Vollendung des 57. Lebensjahres 32 Monate (entsprechend 960 Kalendertage). Da der Kläger bei der W-KG sogar länger als 64 Monate in einem Beschäftigungsverhältnis und damit einem Versicherungspflichtverhältnis (§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III) gestanden hat, kommt es allein darauf an, ob er zum Zeitpunkt der Entstehung des Stammrechts auf Alg (vgl. zu diesem Kriterium Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 127 Rdrn. 34) das 57. Lebensjahr vollendet hatte.
Ausgehend von dem am 11.04.2005 ist das Stammrecht des Klägers auf Alg, wie das SG insoweit zutreffend entschieden hat, bereits am 09.04.2005 entstanden. Denn zu diesem Zeitpunkt haben alle Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg vorgelegen: Der Kläger war arbeitslos (§§ 118 Abs. 1 Nr. 1, 119 Abs. 1 SGB III): Aufgrund der fristlosen Kündigung und der damit verbundenen, in der Folgezeit nicht aufgehobenen endgültigen Freistellung von der Arbeitsleistung stand er nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 SGB III). Dass er auch die weiteren Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit im Sinne von § 119 Abs. 1 SGB III (Eigenbemühungen und Verfügbarkeit) erfüllt hat, steht zwischen den Beteiligten bindend fest und auch im Übrigen außer Zweifel. Der Kläger hat sich zudem arbeitslos gemeldet (§ 118 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) und die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 118 Abs. 1 Nr. 3 SGB III), da er in den letzten drei Jahren vor Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Alg-Anspruch mindestens zwölf Monate in dem bei der W-KG bestehenden Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte (§§ 123 Satz 1 Nr. 1, 124 Abs. 1 SGB III in der gemäß § 434j Abs. 3 SGB III hier anwendbaren, bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung). Da zwischenzeitlich keine neue Anwartschaft begründet worden ist, ist das Stammrecht auch durch die Erstattung des gezahlten Alg seitens der W-KG nicht neu entstanden (vgl. BSG, Urteil v. 03.12.1998, B 7 AL 34/98 R, SozR 3-4100 § 117 Nr. 17).
Der Kläger hat bis zur erstmaligen Entscheidung über den Anspruch auf Alg, die in der vorläufigen Bewilligung durch Bescheid vom 29.04.2005 gemäß § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III zu sehen ist, gegenüber der Beklagten keinen Gebrauch von der seit dem 01.01.2005 bestehenden Möglichkeit gemacht zu bestimmen, dass der Anspruch zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll (§ 118 Abs. 2 SGB III in der Fassung des 3. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003). Damit hat er auch nicht rechtzeitig gegenüber der Beklagten festgelegt, dass sein Stammrecht auf Alg später, insbesondere nach Vollendung des 57. Lebensjahres, entstehen soll (vgl. zu dieser Bedeutung des § 118 SGB III Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 118 Rdnr. 31).
Der Kläger ist jedoch aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe er auf der Grundlage des § 118 Abs. 2 SGB III eine Bestimmung dahingehend getroffen, dass das Stammrecht erst zum 01.11.2005 und damit zu einem Zeitpunkt nach Vollendung des 57. Lebensjahres entstehen soll.
Wie das Bundessozialgericht bereits entschieden hat, hat es schon vor Inkrafttreten des § 118 Abs. 2 SGB III zu den Pflichten der Beklagten gehört, den Arbeitslosen über die Möglichkeit zu beraten, die Dauer des Alg-Anspruchs durch geeignete und gesetzlich zulässige Dispositionen zu gestalten (BSG, Urteil v. 05.09.2006, B 7a AL 70/05 R, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Diese Verpflichtung besteht in besonderer Weise seit dem 01.01.2005. Denn die Vorschrift des § 118 Abs. 2 SGB III soll gerade dem bis zum 31.12.2004 bestehenden Zustand abhelfen, wonach der Arbeitslose die Möglichkeit der Anspruchsentstehung nach Arbeitslosmeldung und damit die Anspruchsdauer nicht mehr beeinflussen konnte. Dies könne, so die amtliche Begründung des Fraktionsentwurfs, in Einzelfällen zu erheblichen Nachteilen etwa dann führen, wenn der Arbeitslose bei einer späteren Anspruchsentstehung ein höheres Lebensalter erreicht habe und deshalb einen Anspruch mit längerer Dauer erwerben könnte (FraktE, BT-Drucks. 15/1515, S. 82). Das damit erklärte Ziel, die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitslosen gerade hinsichtlich einer längeren Anspruchsdauer deutlich zu erweitern, lässt sich jedoch wirksam nur erreichen, wenn die Beklagte Arbeitslose in geeigneten Fällen auch spontan über ihr Bestimmungsrecht nach § 118 Abs. 2 SGB III berät (ebenso Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 118 Rdnr. 33).
Ein derartiger geeigneter Fall hat hier vorgelegen. Der Kläger hätte durch Ausübung des Bestimmungsrechts nach § 118 Abs. 2 SGB III die Entstehung seines Alg-Stammrechts auf frühestens den 18.10.2005 verschieben und damit in den Genuss einer längeren Anspruchsdauer kommen können.
Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass zwischen der Arbeitslosmeldung und der Vollendung des 57. Lebensjahres des Klägers gut sechs Monate gelegen haben. Wie das Bundessozialgericht (a.a.O.) bereits entschieden hat, steht auch ein längerer zu überbrückender Zeitraum (im konkreten Fall fünf Monate zuzüglich eines Ruhenszeitraums von sieben Monaten) einer Beratungspflicht nicht von vornherein entgegen. Vielmehr sind die mit einer solchen Überbrückung verbundenen individuellen Umstände, die einer Ausübung des Bestimmungsrechts nach § 118 SGB II gegebenenfalls entgegenstehen könnten (z.B. die Frage des zwischenzeitlichen Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes), gerade im Rahmen der Beratung zu erörtern. Sie machen sie daher keinesfalls entbehrlich.
Der Senat braucht dabei nicht zu entscheiden, ob die Beklagte stets eine Beratungspflicht trifft, wenn zwischen Arbeitslosmeldung und Vollendung einer bestimmten Altersgrenze ein Zeitraum von etwa einem halben Jahr liegt. Denn jedenfalls besteht eine Beratungspflicht dann, wenn nach den Angaben des Arbeitslosen bei Arbeitslosmeldung oder in unmittelbarem Zusammenhang damit konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit erkennbar sind, dass es dem Arbeitslosen gelingen wird, die betreffende Zeitspanne aus eigener wirtschaftlicher Kraft ohne Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu überbrücken. Das kann einmal der Fall sein, wenn das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer entsprechend bemessenen Abfindung beendet worden ist. Beratungsanlass gibt es aber auch dann, wenn der Arbeitslose - wie hier der Kläger - hinreichend deutlich zu erkennen gibt, dass die Arbeitslosigkeit auf einer fristlosen Kündigung beruht, gegen die er sich arbeitsgerichtlich zur Wehr setzt. In diesem Fall ist nämlich nach allgemeiner gerichtsbekannter Erfahrung zumindest bei den nordrhein-westfälischen Arbeitsgerichten mit einer zeitnahen Terminierung zu rechnen, wobei bereits im Gütetermin mit nennenswerter Häufigkeit statt der fristlosen eine fristgerechte Kündigung oder aber, wie beim Kläger, eine fristlose Kündigung mit sozialer Auslauffrist vereinbart wird. So ist auch im vorliegenden Fall bereits am 20.04.2005 die Ladung zum Gütetermin am 17.05.2005 erfolgt. Dass es nicht schon in diesem Termin, sondern erst im Kammertermin zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit sozialer Auslauffrist im Vergleichswege gekommen ist, war bei Arbeitslosmeldung noch nicht absehbar und konnte die Beklagte daher von ihrer Beratungspflicht nicht entbinden.
Zu einer möglichst weitgehenden Beratungspflicht über die Möglichkeit, die Entstehung des Stammrechts nach § 118 Abs. 2 SGB III zu verschieben, besteht auch im Hinblick auf das zum 01.01.2005 veränderte gesetzgeberische Schutzkonzept bei Eintritt des Risikos der Arbeitslosigkeit besonderer Anlass. Seit Inkrafttreten des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) müssen Arbeitslose, die wie der Kläger vor Vollendung des 57. Lebensjahres arbeitslos werden, ungeachtet der Höhe ihres vormaligen Einkommens im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld einen erheblichen Zeitraum unter weit gehendem Einsatz gegebenenfalls bestehenden Vermögens mit einer lediglich existenzsichernden Leistung überbrücken. Insofern besteht eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem bis zum 31.12.2004 möglichen, am vormaligen Einkommen orientierten Bezug von Anschluss-Arbeitslosenhilfe. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass der frühestmögliche Bezug einer Altersrente nach Arbeitslosigkeit für den Kläger mit Abschlägen im Alter von 62 Jahren und 10 Monaten besteht (§ 237 Abs. 3 i.V.m. Anlage 19 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI]). Insofern kommt der möglichst weitgehenden Überbrückung des bis dahin verbleibenden Zeitraums gesteigerte Bedeutung zu. Das gilt umso mehr, als der Kläger auch nach dem gesetzgeberischen Schutzkonzept kaum Aussichten auf erneute Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis hat, wie allein die Bestimmung des § 428 SGB III belegt.
Die Beklagte konnte die konkreten, ihre Beratungspflicht auslösenden Gesichtspunkte auch anlässlich der Arbeitslosmeldung des Klägers bzw. in unmittelbarem Zusammenhang feststellen. Das Alter des Klägers war bei Arbeitslosmeldung bekannt. Ebenso wusste die Sachbearbeitung bereits bei Antragsabgabe von dem bevorstehenden Gütetermin vor dem Arbeitsgericht. Der betreffende Termin ist nämlich mit grüner Schrift auf Blatt 2 des Antrags eingetragen worden. Der Kläger hat zudem von Anfang an seinen Willen deutlich gemacht, im Arbeitsverhältnis mit der W-KG zu verbleiben.
Sind somit die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erfüllt, so hätte der Kläger bei ordnungsgemäßer Beratung auch die Entscheidung getroffen, die Entstehung des Anspruchs auf Alg nach § 118 Abs. 2 SGB III möglicherweise in mehreren zeitlichen Etappen, im Ergebnis jedoch über die Vollendung des 57. Lebensjahres hinaus zu verschieben.
Wie sein Prozessbevollmächtigter im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter mit nachvollziehbaren Erwägungen erläutert hat, ist er von Anfang an von guten Erfolgsaussichten der Kündigungsschutzklage jedenfalls im Sinne des später tatsächlich geschlossenen Vergleichs ausgegangen und hat den Kläger entsprechend beraten.
Der Kläger hatte zudem die Möglichkeit, den Zeitraum bis zur Wiederaufnahme der Entgeltzahlungen durch die W-KG, auf den es im Falle einer ordnungsgemäßen Beratung maßgeblich angekommen wäre, durch eigene finanzielle Mittel zu überbrücken. Insofern hat er glaubhaft dargelegt, dass zum einen das – wenn auch vergleichsweise geringe – Nettogehalt seiner Ehefrau, zum anderen die Inanspruchnahme eines Dispositionskredites sowie die Auflösung eines Bausparvertrages zur Verfügung gestanden hätten. Für den Senat bestehen angesichts dessen keine durchgreifenden Bedenken, dass der Kläger sich gegebenenfalls für eine Überbrückung entschieden hätte. Das gilt umso mehr, als die für einen Dispositionskredit anfallenden Zinsen außer Verhältnis zu dem andernfalls verloren gehenden Alg von über 5.000 EUR gestanden hätten.
Weitere wirtschaftliche Risiken sind für den Fall der Überbrückung nicht ersichtlich. Soweit der Kläger Alg vorübergehend nicht in Anspruch genommen hätte, wäre er nach §§ 10 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch, 25 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch über seine versicherungspflichtig beschäftigte Ehefrau beitragsfrei familienversichert gewesen.
Der Annahme, dass der Kläger sich für eine Verschiebung der Entstehung des Stammrechts entschieden hätte, steht nicht entgegen, dass er mit der Berufungsbegründung hat vortragen lassen, es wäre ihm unzumutbar gewesen, mit der Arbeitslosmeldung bis zur Vollendung des 57. Lebensjahres zu warten. Wie dargelegt, wäre dies nicht die zwingende Konsequenz gewesen. Vielmehr hätte der Kläger seine Entscheidung, das Stammrecht entstehen zu lassen, an die jeweilige Verfahrenslage in dem arbeitsgerichtlichen Kündigungsrechtsstreit anpassen können. Spätestens nach Ablauf der im Vergleich vor dem ArbG vereinbarten Widerrufsfrist hätte danach festgestanden, dass die W-KG ihre Gehaltszahlungen wieder aufnehmen würde und wirtschaftlicher Bedarf für Alg nicht mehr bestand.
Die Anspruchsdauer verkürzt sich im Falle des Klägers auch nicht aus anderen Gründen. Insbesondere ist keine Sperrzeit eingetreten, die zu einer Verkürzung der Anspruchsdauer führen würde (§§ 128 Abs. 1 Nr. 4, 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III). Ausweislich der in den Verwaltungsakten befindlichen Sitzungsniederschrift des ArbG ist die Kündigung letztlich aus Gründen der Strukturveränderung bei der W-KG betriebsbedingt aufrechterhalten worden. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass ein arbeitsvertragswidriges Verhalten des Klägers ursächlich für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gewesen ist, bestehen danach nicht mehr. Auch die Beklagte hat keinen Anlass zu weiteren dahingehenden Ermittlungen gesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfragen zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für 780 oder für 960 Tage hat.
Der am 00.00.1948 geborene Kläger war ab dem 09.01.1995 als gewerblicher Mitarbeiter bei der W Gewürze GmbH & Co. KG (W-KG) in X beschäftigt. Am 08.04.2005 kündigte die W-KG das Arbeitsverhältnis fristlos. Am 11.04.2005 meldete der Kläger sich arbeitslos und beantragte Alg. In den Angaben zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses erklärte er, er habe Kündigungsschutzklage erhoben und wolle in die Firma zurück. Eine Beratung über die Möglichkeit, den Beginn des Anspruchs zu verschieben, fand nicht statt. Mit Bescheid vom 29.04.2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig Alg. Gleichzeitig machte sie ihren Erstattungsanspruch gegenüber der W-KG geltend. Am 25.08.2005 schlossen der Kläger und die W-KG im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Wuppertal einen Vergleich, demzufolge das Arbeitsverhältnis aufgrund fristloser betriebsbedingter Kündigung der W-KG mit sozialer Auslauffrist zum 31.10.2005 beendet wurde. Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses blieb der Kläger unter Anrechnung des ihm zustehenden Urlaubs von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt. Die W-KG verpflichtete sich, das Arbeitsverhältnis ab April 2005 auf der Basis eines Bruttomonatsgehaltes von 1.969,74 EUR abzurechnen und die sich daraus ergebenden Nettobeträge an den Kläger auszuzahlen, soweit die Ansprüche nicht auf die Beklagte übergegangen waren. Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit, dass sein Anspruch auf Alg ruhe und sie das vom 09.04. bis zum 31.08.2005 gezahlte Alg in Höhe von 3.998,40 EUR von der W-KG erstattet verlange. Die W-KG befriedigte den Erstattungsanspruch der Beklagten. Diese bewilligte dem Kläger daraufhin Alg ab dem 01.11.2005 für die Dauer von 780 Tagen (Bescheid vom 22.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2005).
Mit der dagegen zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er sei erstmals ab dem 01.11.2005 arbeitslos und habe daher wegen zwischenzeitlicher Vollendung des 57. Lebensjahres am 18.10.2005 Anspruch auf Alg für 960 Tage. Vor dem 01.11.2005 sei Arbeitslosigkeit wegen des fortbestehenden Arbeitsverhältnisses nicht eingetreten. Die Arbeitslosmeldung am 11.04.2005 sei nur vorsorglich erfolgt.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 08.09.2006). Maßgeblich sei das Lebensalter des Klägers bei Entstehung des Anspruchs. Der Anspruch sei am 09.04.2005 entstanden, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt habe. Insbesondere sei er arbeitslos gewesen. Hieran habe sich wegen der Freistellung durch die W-KG auch nichts geändert, denn das Beschäftigungsverhältnis sei ihretwegen nicht wieder aufgelebt. Zu keinem anderen Ergebnis führe es, dass die W-KG das gezahlte Alg erstattet habe. Aufgrund dessen habe der Alg-Anspruch lediglich geruht, er sei aber nicht erloschen. Eine längere Anspruchsdauer ergebe sich auch nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, weil die Beklagte hinsichtlich der Möglichkeit zur Verschiebung des Anspruchsbeginns keine Pflicht zur Spontanberatung gehabt habe.
Mit der Berufung trägt der Kläger vor, er hätte im Falle einer zutreffenden Beratung durch die Beklagte darüber, dass es hinsichtlich der Anspruchsdauer allein auf den erstmaligen Antrag ankomme, den Zeitraum bis zur Wiederaufnahme der Zahlungen durch die W-KG überbrücken können: Seine Ehefrau arbeite vollschichtig als Packerin und verdiene in etwa 1.250 EUR netto monatlich. Zwar hätten damit die laufenden Verbindlichkeiten wie Warmmiete (659,57 EUR monatlich) und Kreditschulden (755,03 EUR monatlich) nicht vollständig befriedigt werden können. Er hätte in diesem Fall jedoch einen Dispositionskredit im Umfang von bis zu 7.700,00 EUR in Anspruch nehmen können. Zudem habe er über ein Bausparguthaben von 2.000,00 EUR verfügt, das er im Notfall ohne Verlust hätte kündigen können. Eingedenk eines sonst drohenden Anspruchsverlustes in Höhe von 5.292,00 EUR hätte er die mit einer finanziellen Überbrückung anfallenden Kreditzinsen in Kauf genommen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.09.2006 die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 22.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2005 ab dem 01.11.2005 Arbeitslosengeld für 960 Kalendertage zuzubilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt ihre Verwaltungsentscheidung und das Urteil des SG.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 16.01.2007 Bezug genommen, in dem sich die Beteiligten mit einer Entscheidung des Senates ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben. Der Senat hat die den Kläger betreffende Leistungsakte der Beklagten beigezogen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die Berufung ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, soweit die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger für länger als 780 Kalendertage Alg zu bewilligen. Der Kläger hat Anspruch auf Alg für 960 Kalendertage.
Nach § 127 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in der hier gemäß § 434l Abs. 1 SGB III noch anwendbaren, bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung beträgt die Dauer des Anspruchs auf Alg nach einem Versicherungspflichtverhältnis mit einer Dauer von insgesamt 64 Monaten und nach Vollendung des 57. Lebensjahres 32 Monate (entsprechend 960 Kalendertage). Da der Kläger bei der W-KG sogar länger als 64 Monate in einem Beschäftigungsverhältnis und damit einem Versicherungspflichtverhältnis (§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III) gestanden hat, kommt es allein darauf an, ob er zum Zeitpunkt der Entstehung des Stammrechts auf Alg (vgl. zu diesem Kriterium Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 127 Rdrn. 34) das 57. Lebensjahr vollendet hatte.
Ausgehend von dem am 11.04.2005 ist das Stammrecht des Klägers auf Alg, wie das SG insoweit zutreffend entschieden hat, bereits am 09.04.2005 entstanden. Denn zu diesem Zeitpunkt haben alle Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg vorgelegen: Der Kläger war arbeitslos (§§ 118 Abs. 1 Nr. 1, 119 Abs. 1 SGB III): Aufgrund der fristlosen Kündigung und der damit verbundenen, in der Folgezeit nicht aufgehobenen endgültigen Freistellung von der Arbeitsleistung stand er nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 SGB III). Dass er auch die weiteren Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit im Sinne von § 119 Abs. 1 SGB III (Eigenbemühungen und Verfügbarkeit) erfüllt hat, steht zwischen den Beteiligten bindend fest und auch im Übrigen außer Zweifel. Der Kläger hat sich zudem arbeitslos gemeldet (§ 118 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) und die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 118 Abs. 1 Nr. 3 SGB III), da er in den letzten drei Jahren vor Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Alg-Anspruch mindestens zwölf Monate in dem bei der W-KG bestehenden Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte (§§ 123 Satz 1 Nr. 1, 124 Abs. 1 SGB III in der gemäß § 434j Abs. 3 SGB III hier anwendbaren, bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung). Da zwischenzeitlich keine neue Anwartschaft begründet worden ist, ist das Stammrecht auch durch die Erstattung des gezahlten Alg seitens der W-KG nicht neu entstanden (vgl. BSG, Urteil v. 03.12.1998, B 7 AL 34/98 R, SozR 3-4100 § 117 Nr. 17).
Der Kläger hat bis zur erstmaligen Entscheidung über den Anspruch auf Alg, die in der vorläufigen Bewilligung durch Bescheid vom 29.04.2005 gemäß § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III zu sehen ist, gegenüber der Beklagten keinen Gebrauch von der seit dem 01.01.2005 bestehenden Möglichkeit gemacht zu bestimmen, dass der Anspruch zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll (§ 118 Abs. 2 SGB III in der Fassung des 3. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003). Damit hat er auch nicht rechtzeitig gegenüber der Beklagten festgelegt, dass sein Stammrecht auf Alg später, insbesondere nach Vollendung des 57. Lebensjahres, entstehen soll (vgl. zu dieser Bedeutung des § 118 SGB III Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 118 Rdnr. 31).
Der Kläger ist jedoch aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe er auf der Grundlage des § 118 Abs. 2 SGB III eine Bestimmung dahingehend getroffen, dass das Stammrecht erst zum 01.11.2005 und damit zu einem Zeitpunkt nach Vollendung des 57. Lebensjahres entstehen soll.
Wie das Bundessozialgericht bereits entschieden hat, hat es schon vor Inkrafttreten des § 118 Abs. 2 SGB III zu den Pflichten der Beklagten gehört, den Arbeitslosen über die Möglichkeit zu beraten, die Dauer des Alg-Anspruchs durch geeignete und gesetzlich zulässige Dispositionen zu gestalten (BSG, Urteil v. 05.09.2006, B 7a AL 70/05 R, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Diese Verpflichtung besteht in besonderer Weise seit dem 01.01.2005. Denn die Vorschrift des § 118 Abs. 2 SGB III soll gerade dem bis zum 31.12.2004 bestehenden Zustand abhelfen, wonach der Arbeitslose die Möglichkeit der Anspruchsentstehung nach Arbeitslosmeldung und damit die Anspruchsdauer nicht mehr beeinflussen konnte. Dies könne, so die amtliche Begründung des Fraktionsentwurfs, in Einzelfällen zu erheblichen Nachteilen etwa dann führen, wenn der Arbeitslose bei einer späteren Anspruchsentstehung ein höheres Lebensalter erreicht habe und deshalb einen Anspruch mit längerer Dauer erwerben könnte (FraktE, BT-Drucks. 15/1515, S. 82). Das damit erklärte Ziel, die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitslosen gerade hinsichtlich einer längeren Anspruchsdauer deutlich zu erweitern, lässt sich jedoch wirksam nur erreichen, wenn die Beklagte Arbeitslose in geeigneten Fällen auch spontan über ihr Bestimmungsrecht nach § 118 Abs. 2 SGB III berät (ebenso Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 118 Rdnr. 33).
Ein derartiger geeigneter Fall hat hier vorgelegen. Der Kläger hätte durch Ausübung des Bestimmungsrechts nach § 118 Abs. 2 SGB III die Entstehung seines Alg-Stammrechts auf frühestens den 18.10.2005 verschieben und damit in den Genuss einer längeren Anspruchsdauer kommen können.
Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass zwischen der Arbeitslosmeldung und der Vollendung des 57. Lebensjahres des Klägers gut sechs Monate gelegen haben. Wie das Bundessozialgericht (a.a.O.) bereits entschieden hat, steht auch ein längerer zu überbrückender Zeitraum (im konkreten Fall fünf Monate zuzüglich eines Ruhenszeitraums von sieben Monaten) einer Beratungspflicht nicht von vornherein entgegen. Vielmehr sind die mit einer solchen Überbrückung verbundenen individuellen Umstände, die einer Ausübung des Bestimmungsrechts nach § 118 SGB II gegebenenfalls entgegenstehen könnten (z.B. die Frage des zwischenzeitlichen Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes), gerade im Rahmen der Beratung zu erörtern. Sie machen sie daher keinesfalls entbehrlich.
Der Senat braucht dabei nicht zu entscheiden, ob die Beklagte stets eine Beratungspflicht trifft, wenn zwischen Arbeitslosmeldung und Vollendung einer bestimmten Altersgrenze ein Zeitraum von etwa einem halben Jahr liegt. Denn jedenfalls besteht eine Beratungspflicht dann, wenn nach den Angaben des Arbeitslosen bei Arbeitslosmeldung oder in unmittelbarem Zusammenhang damit konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit erkennbar sind, dass es dem Arbeitslosen gelingen wird, die betreffende Zeitspanne aus eigener wirtschaftlicher Kraft ohne Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu überbrücken. Das kann einmal der Fall sein, wenn das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer entsprechend bemessenen Abfindung beendet worden ist. Beratungsanlass gibt es aber auch dann, wenn der Arbeitslose - wie hier der Kläger - hinreichend deutlich zu erkennen gibt, dass die Arbeitslosigkeit auf einer fristlosen Kündigung beruht, gegen die er sich arbeitsgerichtlich zur Wehr setzt. In diesem Fall ist nämlich nach allgemeiner gerichtsbekannter Erfahrung zumindest bei den nordrhein-westfälischen Arbeitsgerichten mit einer zeitnahen Terminierung zu rechnen, wobei bereits im Gütetermin mit nennenswerter Häufigkeit statt der fristlosen eine fristgerechte Kündigung oder aber, wie beim Kläger, eine fristlose Kündigung mit sozialer Auslauffrist vereinbart wird. So ist auch im vorliegenden Fall bereits am 20.04.2005 die Ladung zum Gütetermin am 17.05.2005 erfolgt. Dass es nicht schon in diesem Termin, sondern erst im Kammertermin zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit sozialer Auslauffrist im Vergleichswege gekommen ist, war bei Arbeitslosmeldung noch nicht absehbar und konnte die Beklagte daher von ihrer Beratungspflicht nicht entbinden.
Zu einer möglichst weitgehenden Beratungspflicht über die Möglichkeit, die Entstehung des Stammrechts nach § 118 Abs. 2 SGB III zu verschieben, besteht auch im Hinblick auf das zum 01.01.2005 veränderte gesetzgeberische Schutzkonzept bei Eintritt des Risikos der Arbeitslosigkeit besonderer Anlass. Seit Inkrafttreten des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) müssen Arbeitslose, die wie der Kläger vor Vollendung des 57. Lebensjahres arbeitslos werden, ungeachtet der Höhe ihres vormaligen Einkommens im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld einen erheblichen Zeitraum unter weit gehendem Einsatz gegebenenfalls bestehenden Vermögens mit einer lediglich existenzsichernden Leistung überbrücken. Insofern besteht eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem bis zum 31.12.2004 möglichen, am vormaligen Einkommen orientierten Bezug von Anschluss-Arbeitslosenhilfe. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass der frühestmögliche Bezug einer Altersrente nach Arbeitslosigkeit für den Kläger mit Abschlägen im Alter von 62 Jahren und 10 Monaten besteht (§ 237 Abs. 3 i.V.m. Anlage 19 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI]). Insofern kommt der möglichst weitgehenden Überbrückung des bis dahin verbleibenden Zeitraums gesteigerte Bedeutung zu. Das gilt umso mehr, als der Kläger auch nach dem gesetzgeberischen Schutzkonzept kaum Aussichten auf erneute Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis hat, wie allein die Bestimmung des § 428 SGB III belegt.
Die Beklagte konnte die konkreten, ihre Beratungspflicht auslösenden Gesichtspunkte auch anlässlich der Arbeitslosmeldung des Klägers bzw. in unmittelbarem Zusammenhang feststellen. Das Alter des Klägers war bei Arbeitslosmeldung bekannt. Ebenso wusste die Sachbearbeitung bereits bei Antragsabgabe von dem bevorstehenden Gütetermin vor dem Arbeitsgericht. Der betreffende Termin ist nämlich mit grüner Schrift auf Blatt 2 des Antrags eingetragen worden. Der Kläger hat zudem von Anfang an seinen Willen deutlich gemacht, im Arbeitsverhältnis mit der W-KG zu verbleiben.
Sind somit die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erfüllt, so hätte der Kläger bei ordnungsgemäßer Beratung auch die Entscheidung getroffen, die Entstehung des Anspruchs auf Alg nach § 118 Abs. 2 SGB III möglicherweise in mehreren zeitlichen Etappen, im Ergebnis jedoch über die Vollendung des 57. Lebensjahres hinaus zu verschieben.
Wie sein Prozessbevollmächtigter im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter mit nachvollziehbaren Erwägungen erläutert hat, ist er von Anfang an von guten Erfolgsaussichten der Kündigungsschutzklage jedenfalls im Sinne des später tatsächlich geschlossenen Vergleichs ausgegangen und hat den Kläger entsprechend beraten.
Der Kläger hatte zudem die Möglichkeit, den Zeitraum bis zur Wiederaufnahme der Entgeltzahlungen durch die W-KG, auf den es im Falle einer ordnungsgemäßen Beratung maßgeblich angekommen wäre, durch eigene finanzielle Mittel zu überbrücken. Insofern hat er glaubhaft dargelegt, dass zum einen das – wenn auch vergleichsweise geringe – Nettogehalt seiner Ehefrau, zum anderen die Inanspruchnahme eines Dispositionskredites sowie die Auflösung eines Bausparvertrages zur Verfügung gestanden hätten. Für den Senat bestehen angesichts dessen keine durchgreifenden Bedenken, dass der Kläger sich gegebenenfalls für eine Überbrückung entschieden hätte. Das gilt umso mehr, als die für einen Dispositionskredit anfallenden Zinsen außer Verhältnis zu dem andernfalls verloren gehenden Alg von über 5.000 EUR gestanden hätten.
Weitere wirtschaftliche Risiken sind für den Fall der Überbrückung nicht ersichtlich. Soweit der Kläger Alg vorübergehend nicht in Anspruch genommen hätte, wäre er nach §§ 10 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch, 25 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch über seine versicherungspflichtig beschäftigte Ehefrau beitragsfrei familienversichert gewesen.
Der Annahme, dass der Kläger sich für eine Verschiebung der Entstehung des Stammrechts entschieden hätte, steht nicht entgegen, dass er mit der Berufungsbegründung hat vortragen lassen, es wäre ihm unzumutbar gewesen, mit der Arbeitslosmeldung bis zur Vollendung des 57. Lebensjahres zu warten. Wie dargelegt, wäre dies nicht die zwingende Konsequenz gewesen. Vielmehr hätte der Kläger seine Entscheidung, das Stammrecht entstehen zu lassen, an die jeweilige Verfahrenslage in dem arbeitsgerichtlichen Kündigungsrechtsstreit anpassen können. Spätestens nach Ablauf der im Vergleich vor dem ArbG vereinbarten Widerrufsfrist hätte danach festgestanden, dass die W-KG ihre Gehaltszahlungen wieder aufnehmen würde und wirtschaftlicher Bedarf für Alg nicht mehr bestand.
Die Anspruchsdauer verkürzt sich im Falle des Klägers auch nicht aus anderen Gründen. Insbesondere ist keine Sperrzeit eingetreten, die zu einer Verkürzung der Anspruchsdauer führen würde (§§ 128 Abs. 1 Nr. 4, 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III). Ausweislich der in den Verwaltungsakten befindlichen Sitzungsniederschrift des ArbG ist die Kündigung letztlich aus Gründen der Strukturveränderung bei der W-KG betriebsbedingt aufrechterhalten worden. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass ein arbeitsvertragswidriges Verhalten des Klägers ursächlich für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gewesen ist, bestehen danach nicht mehr. Auch die Beklagte hat keinen Anlass zu weiteren dahingehenden Ermittlungen gesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfragen zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
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