L 7 B 110/07 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AS 41/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 B 110/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 30.03.2007 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin, der das Sozialgericht (SG) mit Beschluss vom 09.11.2007 nicht abgeholfen hat, ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Denn das SG hat mit Beschluss vom 30.03.2007 die Antragsgegnerin zu Recht einstweilen verpflichtet, die bisher gewährte Leistung für Mehrbedarf aufgrund kostenaufwändiger Ernährung von monatlich 204,52 Euro auch für den Monat März 2007 an die Antragstellerin zu zahlen.

Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

1. Das SG hat zu Recht ausgeführt, dass das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin als solcher Antrag zu qualifizieren ist. Denn mit Verwaltungsakt (Bescheid) vom 25.09.2006 bewilligte die Antragsgegnerin der (durch ihre Mutter vertretenen) Antragstellerin unter anderem die Leistung für Mehrbedarf aufgrund kostenaufwendiger Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.10.2006 bis 30.06.2007. Mit Verwaltungsakt vom 26.10.2006 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung dieses Mehrbedarfs für die Zeit ab dem 01.10.2006 auf, soweit diese Leistungen den Betrag von 60 Euro monatlich übersteigen.

Der Widerspruch der Antragstellerin hiergegen hatte keine aufschiebende Wirkung gemäß § 86a Abs.2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II. Die Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II erfasst auch Aufhebungsentscheidungen nach den §§ 45 ff. SGB X (BSG, Urteil vom 06.09.2007, B 14/7b 36/06 R; LSG NRW, Beschluss vom 21.09.2007, L 7 B 209/07 AS ERLSG NRW, Beschluss vom 31.03.2006, L 19 B 15/06 AS ER; Eicher in Eicher/Stellbrink SGB II, § 39 Rn. 12; Udsching/Link, SGb 2007, 513, 518; a.A.: Conradis in LPK–SGB II, 2. Aufl. 2007, § 39 Rn. 7). Denn auch die Aufhebung einer Bewilligung ist eine "Entscheidung" über "Leistungen" der Grundsicherung und wird infolgedessen von der Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II erfasst.

2. Bei der Entscheidung gemäß § 86 b Abs.1 Satz 1 Nr. 2 SGG hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86b Rn. 12a). Im Rahmen dieser Abwägung ist darauf abzustellen, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen, oder ob seine Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegend öffentliches Interesse gebotene Härte zur Folge hätte. Dabei ist (jedenfalls) in den Fällen, in denen wie hier das Gesetz selbst das Entfallen der aufschiebenden Wirkung anordnet, von einem Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen sofortiger Vollziehbarkeit einerseits und aufschiebender Wirkung andererseits auszugehen, so dass das Vollziehungsinteresse hier in der Regel den Vorrang hat (vgl. Keller a.a.O., Rn. 12a).

Hier bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes vom 26.10.2006, soweit die Antragstellerin ihn mit ihrem Widerspruch angegriffen hat.

a) Mit ihrem Bescheid vom 26.10.2006 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung (§ 21 Abs. 5 SGB II) mit Wirkung vom 01.10.2006 auf, soweit dieser den Betrag von 60 Euro monatlich übersteigt. Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin scheidet § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X 10) i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II als Rechtsgrundlage für diese Aufhebung von vornherein aus. Denn § 48 SGB X verlangt, dass in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Eine solche wesentliche Änderung ist hier nicht zu erkennen und auch von der Antragsgegnerin nicht behauptet worden. Die Antragsgegnerin ist vielmehr im Ergebnis der Auffassung, der Bescheid vom 25.09.2006, mit dem sie der Antragsstellerin Leistungen für Mehrbedarf aufgrund kostenaufwendiger Ernährung für die Zeit vom 01.10.2006 bis 30.06.2007 bewilligte, sei von Anfang an - nämlich bereits ab dem 01.10.2006 - rechtswidrig gewesen. Als Rechtsgrundlage für die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Aufhebung kommt daher nur § 45 SGB X in Betracht.

b) Die mit Bescheid vom 26.10.2006 ausgesprochene Leistungsaufhebung könnte bereits aus formellen Gründen rechtswidrig sein. Denn die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin vor Erlass des Verwaltungsaktes nicht die Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 24 Abs. 1 SGB X). Im Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob diese unterbliebene Anhörung wirksam dadurch nachgeholt worden ist, dass die Antragstellerin im Widerspruchsverfahren Gelegenheit hatte, sich hierzu zu äußern, und von dieser Gelegenheit auch Gebrauch gemacht hat (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X; vgl. von Wulfen in ders., SGB X, 5. Aufl. 2005, § 41 Rn. 8 m.N. zur Rechtsprechung des BSG).

c) Bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren notwendigen summarischen Prüfung der Sachlage ist nicht zu erkennen, dass der Bescheid vom 25.09.2006 rechtswidrig ist, soweit er der Antragstellerin über den monatlichen Betrag von 60 Euro hinausgehende Leistungen für Mehrbedarf aufgrund kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II für die Zeit vom 01.10.2006 bis 30.06.2007 zusprach. Es fehlt damit an einem rechtswidrigen Verwaltungsakt, der gemäß § 45 SGB X zurückgenommen werden könnte.

Denn zwischen den Beteiligten steht nicht im Streit, dass die am 08.07.1998 geborene Antragstellerin an einer Erkrankung leidet (Phenyketonurie), die eine lebenslange streng eiweißarme Diät und die Gabe einer phenylalaninfreien Aminosäuremischung erfordert. Im Rahmen dieser Diät müssen spezielle eiweißarme Lebensmittel eingesetzt werden, die nicht im üblichen Handel oder in Reformhäusern erhältlich und erheblich teurer als gewöhnliche Lebensmittel sind. Die Antragstellerin bedarf damit aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung gemäß § 21 Abs.5 SGB II. Daran hat sich weder vor noch nach dem Erlass des Bescheides vom 25.09.2006 etwas geändert.

Streitig ist es zwischen den Beteiligten vielmehr allein, in welchem Umfang der Antragstellerin insoweit Leistungen zuzusprechen sind. Die Antragstellerin bewilligte der Antragsgegnerin zuletzt Leistungen für einen Mehrbedarf aufgrund kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von monatlich 204,52 Euro. Aufgrund der Stellungnahme einer Ärztin des Gesundheitsamtes des Kreises N vom 21.09.2006 vertrat die Antragsgegnerin dann offenbar die Auffassung, die Antragstellerin könne Leistungen für einen Mehrbedarf aufgrund kostenaufwendiger Ernährung nur noch in Höhe von 60 Euro pro Monat begehren. Diese Aussage einer Ärztin hat die Antragsgegnerin rechtlich ungeprüft übernommen und dem hier streitigen Teilaufhebungsbescheid vom 26.10.2006 zugrunde gelegt.

Im Beschwerdeverfahren ist die Antragsgegnerin von ihrer ursprünglichen Einschätzung, die Antragstellerin habe einen Mehrbedarf aufgrund kostenaufwändiger Ernährung nur in Höhe von 60 Euro monatlich, sodann abgerückt. Mit Schriftsatz vom 25.06.2007 vertrat sie nunmehr die Auffassung, die Lebensmittelkosten für die phenylalaninarme Diät für ein sieben- bis neunjähriges Kind betrügen monatlich 180 bis 200 Euro. Hiervon sei jedoch ein Betrag von 76,59 Euro abzuziehen. Denn dies sei der Anteil für Nahrungsmittel, der in der Regelleistung (Sozialgeld) nach § 28 SGB II in Höhe von 207 Euro (jetzt 208 Euro) mit 37 % enthalten sei. Die Antragstellerin könne deshalb einen Mehrbedarf aufgrund kostenaufwendiger Ernährung in Höhe von 129,21 Euro monatlich beanspruchen.

Ob dies zutrifft, wird im sozialgerichtlichen Haupsacheverfahren zu klären sein. Dabei wird insbesondere zu prüfen sein, ob die Kosten für die von der Antragstellerin zwingend einzuhaltende spezielle Diätform tatsächlich und in voller Höhe um das der Antragstellerin gewährte Sozialgeld gemäß § 28 SGB II zu mindern ist, soweit dieses Sozialgeld den Bedarf für Ernährung abdeckt.

Hierbei wird insbesondere auch zu klären sein, ob die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin zutrifft, dass in der Regelleistung nach § 28 SGB II ein Anteil für Nahrungsmittel von 37 % enthalten ist. Mit dieser Rechtsauffassung orientiert sich die Antragsgegnerin offenbar an den Durchführungsbestimmungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 20 SGB II, die davon ausgehen, dass von der Regelleistung 38 % auf den Bedarf für Nahrung, Getränke und Tabakwaren entfalllen (vgl. Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II § 20 Rn. 29). Der Anteil der Ernährung am Regelsatz wird jedoch unterschiedlich bestimmt (hierzu Lang a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Grund dieser Differenz ist, das der Normgeber des SGB II darauf verzichtet hat, die Bemessungen der Regelleistung im Einzelnen zu bestimmen; in § 20 Abs. 1 SGB II werden nur beispielshaft ("insbesondere") einige Bedarfe aufgezählt. Der Normgeber hat zur Bemessung der Regelleistung vielmehr auf die Regelung im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) einschließlich der dortigen Regelsatzverordnung (Regelsatz-VO) verwiesen (BT-Drucksache 15/1516, S. 56). Die Regelsatz-VO ist jedoch erst nach dem SGB II in Kraft getreten und hat zwischenzeitlich auch Veränderungen der Bedarfssituation berücksichtigt (Brünner in LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 20 Rn. 29). Speziell für Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft ist (noch) schwieriger zu bestimmen, in welchem Umfang die einzelnen Bedarfe dort berücksichtigt sein sollen (vgl. Brünner a.a.O., Rn. 35).

Sicherzustellen ist in jedem Fall, dass der Antragstellerin die zur Einhaltung ihrer Diät erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Denn das Universitätsklinikum N, das die Antragstellerin behandelt, hat in seiner ärztlichen Bescheinigung vom 30.10.2006 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine "Diätunterbrechung oder Nicheinhaltung wegen mangelhafter finanzieller Möglichkeiten zur Beschaffung der speziellen eiweißarmen Lebensmittel" zur Folge hat, dass "diese Kinder schwere geistige und körperliche Beeinträchtigungen hierdurch erleiden". Nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die Verwaltung - und damit insbesondere die Antragsgegnerin - hat sich angesichts ihrer Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG)) schützend und fördernd vor die grundgesetzlichen Grundrechte zu stellen. Somit hat auch die Antragsgegnerin dafür Sorge zu tragen, dass das Recht der Antragstellerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß § Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gefährdet oder verletzt wird. Im vorliegenden Zusammenhang ist nicht allein das soziokulturelle, sondern das physiologische Existenzminimum der Antragstellerin betroffen.

3. Der Senat hat das Rubrum klarstellend berichtigt und statt der Muttter C L die Tochter B L als Antragstellerin aufgenommen. Denn das SGB II gewährt Individualansprüche. Die Antragstellerin selbst ist Inhaberin des Anspruches auf Leistungen für einen Mehrbedarf aufgrund kostenaufwendiger Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II. Bereits das SG hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Mutter der Antragstellerin in diesem Verfahren die Rechte ihrer minderjährigen Tochter als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft geltend macht.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer ensprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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