L 7 AS 1248/17 B ER und L 7 AS 1249/17 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 27 AS 1991/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1248/17 B ER und L 7 AS 1249/17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 22.05.2017 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 24.04.2017 bis zum 31.10.2017, längstens jedoch bis zu einer Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 14.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2017, Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für beide Rechtszüge Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, E, beigeordnet.

Gründe:

I.

Die am 00.00.1989 geborene Antragstellerin besuchte vom 01.08.2007 bis zum 31.07.2009 das H Berufskolleg E und erwarb die Fachhochschulreife. Anschließend absolvierte sie vom 01.08.2009 bis zum 15.10.2015 ein Bachelor-Studium der Betriebswirtschaftslehre. Mit Wirkung vom 15.10.2015 wurde die Antragstellerin von der Westfälischen Hochschule exmatrikuliert, nachdem sie die Modulprüfung "externes Rechnungswesen" zum dritten Mal und damit die Bachelorprüfung endgültig nicht bestanden hatte (Bescheid vom 19.09.2016).

Am 14.04.2016 beantragte die Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie wohne mietfrei bei ihrer Schwester, werde aber im Übrigen von dieser nicht weiter finanziell unterstützt. Mit Bescheid vom 25.05.2016 bewilligte der Antragsgegner Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs iHv 404 EUR monatlich von April 2016 bis März 2017.

Die Antragstellerin begann am 24.08.2016 eine schulische Ausbildung zur Erzieherin am H Berufskolleg. Es handelt sich um eine zweijährige Ausbildung mit 16 Wochen Blockpraktikum und anschließendem einjährigen Berufspraktikum. Mit Bescheid vom 19.09.2016 lehnte das Amt für Ausbildungsförderung der Stadt E die Bewilligung von BAföG ab, da die Antragstellerin die Erstausbildung nicht aus unabweisbarem Grund abgebrochen habe. Mit Bescheid vom 28.03.2017 lehnte die Bundesagentur für Arbeit die Bewilligung von Berufsausbildungsbeihilfe ab, da es sich bei der Ausbildung zur Erzieherin um eine schulische Ausbildung handele.

Am 27.09.2016 zeigte die Antragstellerin die Aufnahme der Ausbildung dem Antragsgegner an. Der Antragsgegner zahlte die bewilligten Leistungen weiter bis zum 31.03.2017.

Den Weiterbewilligungsantrag vom 09.03.2017 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 14.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2017 ab. Die Antragstellerin sei gem. § 7 Abs. 5 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen, da sie eine nach dem BAföG dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviere. Anhaltspunkte für eine besondere Härte lägen nicht vor. Gegen diese Entscheidung hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Dortmund am 24.04.2017 Klage erhoben (S 27 AS 1992/17).

Am 24.04.2017 hat die Antragstellerin beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, "Leistungen nach dem SGB II" zu bewilligen. Der Antragstellerin stünden Leistungen zu, da sie eine Ausbildungsförderung nicht erhalte.

Mit Beschluss vom 22.05.2017 hat das Sozialgericht den Antrag und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die Antragstellerin unterfalle dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II und erfülle nicht die Voraussetzungen der Rückausnahmen nach § 7 Abs. 6 SGB II.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 19.06.2017. Die Antragstellerin hat mitgeteilt, sie decke derzeit ihren Lebensbedarf nur durch Geld naher Verwandter, das sie zeitnah zurückzahlen müsse.

Auf Nachfrage durch den Senat, inwieweit die Antragstellerin ohne die Ausbildung zur Erzieherin beruflich eingegliedert werden kann, hat die Arbeitsvermittlung des Antragsgegners mitgeteilt, die Antragstellerin könne ohne die Ausbildung zur Erzieherin "auf dem Helfermarkt eine Arbeit aufnehmen". In den Bereichen "Büro, Verwaltung, Callcenter-Agent" würde regelmäßig Personal gesucht. Eine Arbeitsaufnahme auf dem Helfermarkt führe aber voraussichtlich nicht zu einer nachhaltigen Integration. Deshalb wäre es vorzuziehen, einen qualifizierten Abschluss anzustreben.

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die beantragte einstweilige Anordnung und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG Beschluss vom 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln. Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 Rn. 24 f). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 Rn. 26; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 18.07.2017 - L 7 AS 18/17 B ER und vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).

Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie hinsichtlich der Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllt. Dies gilt namentlich für die Hilfebedürftigkeit iSd §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II. Der Umstand, dass sie nach ihren eigenen Angaben Zuwendungen von der Familie erhält, steht der Glaubhaftmachung der Hilfebedürftigkeit nicht entgegen. Denn es ist überwiegend wahrscheinlich, dass diese Zuwendungen allein ihrer momentanen Mittellosigkeit geschuldet sind und Leistungen zur Substituierung der bislang nicht gezahlten Leistungen des Antragsgegners darstellen (zur Anrechnungsfreiheit derartiger Substituierungsmittel BSG Urteil vom 20.12.2011 - B 4 AS 46/11 R). Kosten für Unterkunft und Heizung fallen nach dem eigenen Vorbringen der Antragstellerin nicht an und sind bei interessengerechter Auslegung des Begehrens der Antragstellerin nicht Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (Beschwerdeschriftsatz vom 16.06.2017).

Zwar ist die Antragstellerin grundsätzlich gem. § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen, da sie - wie der Antragsgegner zutreffend festgestellt hat - eine Ausbildung absolviert, die im Rahmen des BAföG dem Grunde nach förderungsfähig ist. Zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, dass auch die Rückausnahmetatbestände des § 7 Abs. 6 SGB II nicht einschlägig sind.

Der Anordnungsanspruch folgt jedoch aus § 27 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB II. Jedenfalls im Wege der Folgenabwägung sind der Antragstellerin Leistungen zu erbringen.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Auszubildende im Sinne des § 7 Abs. 5 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe (u.a.). des Abs. 3. Hiernach können die hier streitigen Leistungen für Regelbedarfe erbracht werden, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eine besondere Härte bedeutet. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist eine besondere Härte anzunehmen. Gem. § 27 Abs. 3 Satz 3 SGB II ist eine besondere Härte auch anzunehmen, wenn Auszubildende, deren Bedarf sich nach §§ 12 oder 13 Abs. 1 Nr. 1 BAföG bemisst, aufgrund von § 10 Abs. 3 BAföG keine Leistungen zustehen, diese Ausbildung im Einzelfall für die Eingliederung der oder des Auszubildenden in das Erwerbsleben zwingend erforderlich ist und ohne die Erbringung von Leistungen zum Lebensunterhalt der Abbruch der Ausbildung droht; in diesem Fall sind Leistungen als Zuschuss zu erbringen.

Der BAföG-Bedarf der Antragstellerin bemisst sich nach § 12 BAföG, da sie eine Fachschule besucht. Sie ist zwar nicht nach § 10 Abs. 3 BAföG von Ausbildungsförderungsleistungen ausgeschlossen, da sie die dort genannten Altersgrenzen nicht überschreitet. Die in § 27 Abs. 3 Satz 3 SGB II enthaltene Wertung ist jedoch auf die Anwendung der Härteregelung des § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II zu übertragen. Ebenso wie Personen, die die in § 10 Abs. 3 BAföG enthaltenen Altersgrenzen überschritten haben, hat die Antragstellerin nach der dem bestandskräftigen Bescheid der Stadt E vom 19.09.2016 zugrundeliegenden Rechtsauffassung keine Möglichkeit mehr, für eine schulische Ausbildung BAföG-Leistungen zu erhalten. Ebenso wie Personen, die die Altersgrenzen des § 10 Abs. 3 BAföG überschritten haben, ist sie dauerhaft von Leistungen nach diesem Gesetz ausgeschlossen.

Der Senat lässt angesichts der Eilbedürftigkeit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren offen, ob der Bescheid des Amtes für Ausbildungsförderung der Stadt E vom 19.09.2016 rechtmäßig ist. Hieran bestehen Zweifel, denn im Gegensatz zu den Ausführungen des Amtes für Ausbildungsförderung in dem genannten Bescheid hat sich nach der hier vorliegenden Aktenlage die Antragstellerin nicht "zum Abbruch des Studiums entschlossen", sondern sie hat eine Prüfung ohne weitere Wiederholungsmöglichkeit endgültig nicht bestanden, so dass sie von der Hochschule exmatrikuliert worden ist (Bescheid der Westfälischen Hochschule vom 09.10.2015). Zweifel am Bestehen eines Anspruchs nach dem BAföG ist im Hauptsacheverfahren - ggf. nach Beiladung des Trägers der Ausbildungsförderung - nachzugehen. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sieht der Senat sich an die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides des BAföG-Amtes gebunden.

Der Antragsgegner hat zugestanden (Stellungnahme der Arbeitsvermittlung vom 18.07.2017), dass die Antragstellerin ohne die Ausbildung allein auf Helferstellen vermittelt werden kann und diese nicht zu einer nachhaltigen Integration in das Arbeitsleben führen würden. Auch für den Senat ist nicht ersichtlich, wie die Antragstellerin, die bislang über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt, ohne eine solche nachhaltig in das Erwerbsleben integriert werden soll. Schließlich ist glaubhaft, dass ohne die Leistungen zum Lebensunterhalt der Abbruch der Ausbildung droht, da diese jedenfalls während der schulischen Phasen nicht vergütet wird und nicht anzunehmen ist, dass die Antragstellerin ohne Rechtspflicht während der gesamten Ausbildungsdauer von der Familie unterstützt werden kann.

Eine Beschränkung der Zahlung der Leistungen allein als Darlehen ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht geboten. Sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass Leistungen lediglich als Darlehen zustehen (ggf. in Anwendung von § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II), bliebe der im Eilverfahren tenorierte Zahlungsanspruch unberührt und würde lediglich eine Rückzahlungspflicht begründet.

Der Senat hat die Dauer der Leistungsverpflichtung in Anlehnung an § 41 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II auf sechs Monate beschränkt. Evtl. Vergütungen in den Praxisphasen sind nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften auf die Leistung anzurechnen, wobei, da es sich um Leistungen handelt, die im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zugesprochen worden sind, Freibeträge unberücksichtigt bleiben können.

Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe folgt aus §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 ff Abs. 4 ZPO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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