Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 28 VG 48/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 23/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18.10.2016 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Ermittlung und Entscheidung an das Sozialgericht Köln zurückverweisen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht Köln vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) für eine behauptete Schädigung am 27.06.2014.
Der Kläger ist 1969 in L geboren und kongolesischer Staatsangehöriger. Zum Zeitpunkt der behaupteten Tat lebte er in einer Asylbewerberunterkunft in U.
Unter dem 19.05.2015 beantragte er bei dem Kläger Leistungen nach dem OEG.
Zur Begründung führte er aus, er sei am angegebenen Tattag von dem Mitbewohner F und vier weiteren Männern in der Unterkunft grundlos bedroht worden. Um sich zu retten, sei er aus dem Fenster seines Zimmers in der ersten Etage gesprungen und habe sich beim Auftreffen auf dem Boden den Knöchel gebrochen. Er bezog sich ergänzend auf die Akten des wegen dieses Vorfalls eingeleiteten Strafverfahrens.
Mit Bescheid vom 22.07.2015 wies der Beklagte den Antrag des Klägers nach Auswertung der Strafakten ab, da nicht feststellbar sei, was am Tattag geschehen sei.
Den Widerspruch des Klägers wies er mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2015 als unbegründet zurück. Hiergegen richtet sich die rechtzeitig erhobene Klage des Klägers, mit welcher er weiterhin Beschädigtenversorgung begehrt hat.
Zur Begründung hat er ausgeführt, er habe auf dem Bett gesessen, als jemand begonnen habe, von außen seine Tür einzuschlagen. Er habe daraufhin versucht, seine Geldbörse und eines seiner beiden Handies an sich zu nehmen. Die Tür sei dann eingetreten worden und der F habe mit einem gezückten Messer in der zerstörten Tür gestanden. Daraufhin habe er sein anderes Handy aus dem Fenster geworfen, sein auf dem Tisch liegendes Tablet an sich genommen und sei mit diesem aus dem Fenster gesprungen. Er benötige das Tablet, weil sich auf diesem Kontakte und Adressen befänden.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2015 zu verurteilen, ihm Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht (SG) hat zur Sachverhaltsaufklärung über den von dem Kläger behaupteten Vorfall ausschließlich die Polizeibeamten KOK’in I sowie PK N schriftlich befragt. Beide Polizeibeamten haben sinngemäß bekundet, die bei dem Vorfall eingesetzten Beamten gewesen zu sein, sich aber an Einzelheiten des Einsatzes nicht mehr erinnern zu können. Weitere Zeugen hat das SG nicht gehört.
Auf dieser Grundlage hat das SG die Klage mit Urteil vom 18.10.2016 als unbegründet abgewiesen und dazu ausgeführt:
"Die Klage ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 22.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2015 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG mit Verbindung mit dem BVG, weil sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf ihn im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG nicht feststellen lässt.
Nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG erhält Versorgung nach den Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für eine soziale Entschädigung nach dem OEG, zu denen das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG zählt, müssen grundsätzlich nachgewiesen, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Zweifel mehr besteht (LSG NRW, Urteil vom 29.09.2010, Az: L 6 (7) VG 16/05).
Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens hält es die Kammer nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maße für wahrscheinlich, dass der Kläger Opfer eines Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG geworden ist. Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vielmehr der Auffassung, dass die behauptete Tat nicht bewiesen werden konnte.
Fest steht für die Kammer alleine, dass der Kläger sich die bei ihm vorliegende Verletzung zugezogen hat. Wie es dazu gekommen ist, ist demgegenüber ungeklärt.
Dem Vortrag des Klägers, wie er ihn im gerichtlichen Verfahren geboten hat, konnte die Kammer nicht folgen. Sie hält ihn nicht für glaubhaft.
Es verwundert bereits, dass eine Person, die von einer anderen, mit einem Messer bewaffneten Person bedroht ist, bevor sie flüchtet, noch ihren Tabletcomputer an sich nimmt, weil sich hierauf wichtige Kontaktdaten befänden. Die Kammer hält dies für völlig lebensfremd und nicht nachvollziehbar.
Ebenfalls nicht nachvollziehen kann die Kammer die Widersprüchlichkeit innerhalb der verschiedenen Varianten des klägerischen Vortrags während und vor dem gerichtlichen Verfahren. Gegenüber der Polizei hat der Kläger nämlich angegeben, er habe zur Tatzeit zur Arbeit gehen wolle und sich deswegen im Hausflur der Unterkunft befunden. Der F sei mit einem Messer und vier weitere Personen mit Eisenstangen bewaffnet auf ihn zugestürmt. Dabei hätten diese gerufen, den Kläger töten zu wollen. Er sei in sein Zimmer zurück gelaufen und dort dann aus dem Fenster gesprungen. Anschließend sei er zu einem Zeugen gehumpelt und habe diesen gebeten, die Polizei zu rufen, was dieser sodann getan habe.
Die beiden Sachverhaltsvarianten unterscheiden sich in zentralen Punkten, weswegen es der Kammer nicht möglich war, einer zu folgen. Gleichzeitig führt dies aber auch zu massiven Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Klägers.
Die Kammer befindet sich mit ihrer Einschätzung in Übereinstimmung mit der Polizei (vgl. mehrere Vermerke innerhalb der Ermittlungsakte), der Staatsanwaltschaft (vgl. Einstellungsverfügung) sowie des Beklagten.
Für die Behauptungen des Klägers spricht nichts als dessen eigener, in sich widersprüchlicher, Vortrag. Die Zeugen, die von der Polizei vernommen wurden, gaben an, dass von niemandem ein Tumult oder eine Jagd beobachtet worden sei. Lediglich habe der von dem Kläger benannte F in der Unterkunft randaliert.
Der Zeuge, zu dem der Kläger gehumpelt war, gab gegenüber der Polizei an, er habe sich gerade vor seinem Haus befunden und an seinem Auto gearbeitet, als der Kläger auf einem Bein hüpfend zu ihm gekommen sei und ihn aufgefordert habe, einen Krankenwagen und die Polizei zu rufen. Dies habe er sodann getan. Der Kläger habe sich sodann auf die Vorstufe des Hauses des Zeugen gesetzt und sei von da an mit seinem Tabletcomputer, welchen er dabei gehabt habe, beschäftigt gewesen. Tumult oder ähnliches hat der Zeuge aus der Richtung der Unterkunft des Klägers nicht wahrgenommen.
Die Kammer kann auch diesbezüglich nicht als mit der üblichen Lebenserfahrung vereinbar ansehen, dass der soeben mit dem Tode bedrohte Kläger sich ruhig in 50m Entfernung zum behaupteten Tatgeschehen aufhält, dies auch nicht dann, wenn der Kläger - wie behauptet - sich vergewissern wollte, ob sein Tablet noch funktioniere. Zudem konnte der Zeuge einen Tumult in der nahegelegenen Unterkunft ebenfalls nicht beobachten oder hören.
Schließlich ändert sich auch nichts dadurch, dass die Zimmertür des Klägers beschädigt war, da sich auch insoweit nicht aufklären ließ, wie es dazu gekommen war. Die von dem Gericht befragten Polizeibeamten konnten insoweit mangels Erinnerung nichts beitragen.
Die Klage war daher abzuweisen."
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der sein erstinstanzliches Begehren unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens in vollem Umfang aufrecht hält.
Beide Beteiligten halten die Ermittlungen des SG für unzureichend - sowohl in Hinsicht auf die Frage, welche Ereignisse zu dem vom Kläger geschilderten Verletzungen führten als auch in Hinsicht auf die daraus ggf. folgenden dauernden Gesundheitsschäden.
Der Kläger und der Beklagte beantragen beide,
das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Ermittlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter gemäß §§ 155 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Einverständnis der Beteiligten als Einzelrichter entscheiden konnte, ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht (LSG) die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und wenn das LSG wegen aufwändiger Ermittlungen an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist. Die angefochtene Entscheidung des SG beruht hier auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn der erkennende Senat kann ohne die Erhebung weiterer Tatsachen in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen (hierzu unter II).
I.
Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 2 Nr. 2 SGG, ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG siehe Urteile des Landessozialgerichts (LSG) NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008 - L 2 KN 165/08 -). Hier liegen mehrere solcher wesentlicher Entscheidungsmängel vor: Das SG hat den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gemäß §§ 103 und 106 SGG nicht genügt (hierzu unter 1.). Ferner hat es den Anspruch des Klägers auf ein faires Verfahren verletzt, weil es ihm keinen Dolmetscher im Termin zur Verfügung stellte (hierzu unter 2.).
1. Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil sich das SG - auch ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung - zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen.
Das SG konnte hier angesichts der in Frage stehenden unübersichtlichen Beweislage nicht ohne weitere Ermittlungen über den geltend gemachten Anspruch gemäß § 1 OEG entscheiden. Denn hierzu hat das SG von Amts wegen und ohne Bindung an strafrechtliche Entscheidungen festzustellen, ob ein vorsätzlicher tätlicher Angriff i.S.d. § 1 OEG vorlag. Dies hat das SG im Ansatz zutreffend auch erkannt. Es genügt für eigene Ermittlungen, aber nicht - wie es das SG hier tat - auf fremde Bewertungen (der Strafverfolgungsbehörde bzw. der Strafgerichte) - oder bloße Zeugen vom Hörensagen (hier der nach dem streitigen Vorfall herbeigerufenen Polizeibeamten) abzustellen, wenn direkte Tatzeugen vorhanden sind (was hier der Fall ist). Insbesondere der angeschuldigte Täter aber auch Zeugen, die den Vorfall als persönlich wahrnahmen, sind ergänzend persönlich durch das SG als Zeugen zu vernehmen. Sonstige Umstände, die diese Beweiserhebung entbehrlich machen würden, liegen nicht vor. Insbesondere beweist der Umstand, dass sich nicht (mehr) anhand von Spuren feststellen lässt, ob, von wem und ggf. wann die Tür zum Zimmer des Klägers gewaltsam gegen seinen Willen aufgebrochen wurde, für sich genommen nicht, dass keine Gewalttat gegen den Kläger vorlag, so dass die Beweislage derzeit weiterhin offen ist.
2. Zudem ist der Kläger, - wie sich im Termin vor dem erkennenden Senat gezeigt hat - der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig. Er ist daher mit Hilfe eines vereidigten Dolmetschers auch selbst nochmals ergänzend zum Geschehensablauf genau zu befragen um den Sachverhalt aufzuklären und um ihm rechtliches Gehör zu gewähren. Nur dann ist seinem grundrechtlichen Anspruch ist ein faires Verfahren hinreichend Rechnung getragen. Auch lässt sich nur so klären, ob die vom SG bezeichneten Widersprüche in den Angaben des Klägers u. U. auf Übersetzungsfehlern beruhen.
3. Erst wenn der genaue Geschehensablauf auch dann nicht festzustellen wäre, käme es u. U. auf die vom SG spekulativ in den Raum gestellte Annahme an, wie sich ein Mensch nach einem Angriff wie dem vom Kläger vorgetragenem "nach üblicher Lebenserfahrung" verhält. Seriöse empirische Untersuchungen sind hierzu allerdings bislang nicht bekannt und vom SG auch nicht benannt.
II.
Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind wesentlich. Auch kann ohne weitere Ermittlungen nicht in der Sache entschieden werden. Hierbei handelt es sich um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG gebieten (so auch LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07 a. a. O.). Andernfalls bestünde nicht zuletzt auch die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden.
III.
Das erkennende Gericht macht von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer baldigen Sachentscheidung und dem o. g. Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits im entschiedenen Sinne Gebrauch. Es überwiegen vorliegend die Schutzinteressen der (mit der Zurückverweisung einverstandenen) Beteiligten an einem ordnungsgemäßen Verfahren.
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) für eine behauptete Schädigung am 27.06.2014.
Der Kläger ist 1969 in L geboren und kongolesischer Staatsangehöriger. Zum Zeitpunkt der behaupteten Tat lebte er in einer Asylbewerberunterkunft in U.
Unter dem 19.05.2015 beantragte er bei dem Kläger Leistungen nach dem OEG.
Zur Begründung führte er aus, er sei am angegebenen Tattag von dem Mitbewohner F und vier weiteren Männern in der Unterkunft grundlos bedroht worden. Um sich zu retten, sei er aus dem Fenster seines Zimmers in der ersten Etage gesprungen und habe sich beim Auftreffen auf dem Boden den Knöchel gebrochen. Er bezog sich ergänzend auf die Akten des wegen dieses Vorfalls eingeleiteten Strafverfahrens.
Mit Bescheid vom 22.07.2015 wies der Beklagte den Antrag des Klägers nach Auswertung der Strafakten ab, da nicht feststellbar sei, was am Tattag geschehen sei.
Den Widerspruch des Klägers wies er mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2015 als unbegründet zurück. Hiergegen richtet sich die rechtzeitig erhobene Klage des Klägers, mit welcher er weiterhin Beschädigtenversorgung begehrt hat.
Zur Begründung hat er ausgeführt, er habe auf dem Bett gesessen, als jemand begonnen habe, von außen seine Tür einzuschlagen. Er habe daraufhin versucht, seine Geldbörse und eines seiner beiden Handies an sich zu nehmen. Die Tür sei dann eingetreten worden und der F habe mit einem gezückten Messer in der zerstörten Tür gestanden. Daraufhin habe er sein anderes Handy aus dem Fenster geworfen, sein auf dem Tisch liegendes Tablet an sich genommen und sei mit diesem aus dem Fenster gesprungen. Er benötige das Tablet, weil sich auf diesem Kontakte und Adressen befänden.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2015 zu verurteilen, ihm Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht (SG) hat zur Sachverhaltsaufklärung über den von dem Kläger behaupteten Vorfall ausschließlich die Polizeibeamten KOK’in I sowie PK N schriftlich befragt. Beide Polizeibeamten haben sinngemäß bekundet, die bei dem Vorfall eingesetzten Beamten gewesen zu sein, sich aber an Einzelheiten des Einsatzes nicht mehr erinnern zu können. Weitere Zeugen hat das SG nicht gehört.
Auf dieser Grundlage hat das SG die Klage mit Urteil vom 18.10.2016 als unbegründet abgewiesen und dazu ausgeführt:
"Die Klage ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 22.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2015 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG mit Verbindung mit dem BVG, weil sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf ihn im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG nicht feststellen lässt.
Nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG erhält Versorgung nach den Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für eine soziale Entschädigung nach dem OEG, zu denen das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG zählt, müssen grundsätzlich nachgewiesen, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Zweifel mehr besteht (LSG NRW, Urteil vom 29.09.2010, Az: L 6 (7) VG 16/05).
Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens hält es die Kammer nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maße für wahrscheinlich, dass der Kläger Opfer eines Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG geworden ist. Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vielmehr der Auffassung, dass die behauptete Tat nicht bewiesen werden konnte.
Fest steht für die Kammer alleine, dass der Kläger sich die bei ihm vorliegende Verletzung zugezogen hat. Wie es dazu gekommen ist, ist demgegenüber ungeklärt.
Dem Vortrag des Klägers, wie er ihn im gerichtlichen Verfahren geboten hat, konnte die Kammer nicht folgen. Sie hält ihn nicht für glaubhaft.
Es verwundert bereits, dass eine Person, die von einer anderen, mit einem Messer bewaffneten Person bedroht ist, bevor sie flüchtet, noch ihren Tabletcomputer an sich nimmt, weil sich hierauf wichtige Kontaktdaten befänden. Die Kammer hält dies für völlig lebensfremd und nicht nachvollziehbar.
Ebenfalls nicht nachvollziehen kann die Kammer die Widersprüchlichkeit innerhalb der verschiedenen Varianten des klägerischen Vortrags während und vor dem gerichtlichen Verfahren. Gegenüber der Polizei hat der Kläger nämlich angegeben, er habe zur Tatzeit zur Arbeit gehen wolle und sich deswegen im Hausflur der Unterkunft befunden. Der F sei mit einem Messer und vier weitere Personen mit Eisenstangen bewaffnet auf ihn zugestürmt. Dabei hätten diese gerufen, den Kläger töten zu wollen. Er sei in sein Zimmer zurück gelaufen und dort dann aus dem Fenster gesprungen. Anschließend sei er zu einem Zeugen gehumpelt und habe diesen gebeten, die Polizei zu rufen, was dieser sodann getan habe.
Die beiden Sachverhaltsvarianten unterscheiden sich in zentralen Punkten, weswegen es der Kammer nicht möglich war, einer zu folgen. Gleichzeitig führt dies aber auch zu massiven Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Klägers.
Die Kammer befindet sich mit ihrer Einschätzung in Übereinstimmung mit der Polizei (vgl. mehrere Vermerke innerhalb der Ermittlungsakte), der Staatsanwaltschaft (vgl. Einstellungsverfügung) sowie des Beklagten.
Für die Behauptungen des Klägers spricht nichts als dessen eigener, in sich widersprüchlicher, Vortrag. Die Zeugen, die von der Polizei vernommen wurden, gaben an, dass von niemandem ein Tumult oder eine Jagd beobachtet worden sei. Lediglich habe der von dem Kläger benannte F in der Unterkunft randaliert.
Der Zeuge, zu dem der Kläger gehumpelt war, gab gegenüber der Polizei an, er habe sich gerade vor seinem Haus befunden und an seinem Auto gearbeitet, als der Kläger auf einem Bein hüpfend zu ihm gekommen sei und ihn aufgefordert habe, einen Krankenwagen und die Polizei zu rufen. Dies habe er sodann getan. Der Kläger habe sich sodann auf die Vorstufe des Hauses des Zeugen gesetzt und sei von da an mit seinem Tabletcomputer, welchen er dabei gehabt habe, beschäftigt gewesen. Tumult oder ähnliches hat der Zeuge aus der Richtung der Unterkunft des Klägers nicht wahrgenommen.
Die Kammer kann auch diesbezüglich nicht als mit der üblichen Lebenserfahrung vereinbar ansehen, dass der soeben mit dem Tode bedrohte Kläger sich ruhig in 50m Entfernung zum behaupteten Tatgeschehen aufhält, dies auch nicht dann, wenn der Kläger - wie behauptet - sich vergewissern wollte, ob sein Tablet noch funktioniere. Zudem konnte der Zeuge einen Tumult in der nahegelegenen Unterkunft ebenfalls nicht beobachten oder hören.
Schließlich ändert sich auch nichts dadurch, dass die Zimmertür des Klägers beschädigt war, da sich auch insoweit nicht aufklären ließ, wie es dazu gekommen war. Die von dem Gericht befragten Polizeibeamten konnten insoweit mangels Erinnerung nichts beitragen.
Die Klage war daher abzuweisen."
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der sein erstinstanzliches Begehren unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens in vollem Umfang aufrecht hält.
Beide Beteiligten halten die Ermittlungen des SG für unzureichend - sowohl in Hinsicht auf die Frage, welche Ereignisse zu dem vom Kläger geschilderten Verletzungen führten als auch in Hinsicht auf die daraus ggf. folgenden dauernden Gesundheitsschäden.
Der Kläger und der Beklagte beantragen beide,
das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Ermittlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter gemäß §§ 155 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Einverständnis der Beteiligten als Einzelrichter entscheiden konnte, ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht (LSG) die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und wenn das LSG wegen aufwändiger Ermittlungen an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist. Die angefochtene Entscheidung des SG beruht hier auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn der erkennende Senat kann ohne die Erhebung weiterer Tatsachen in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen (hierzu unter II).
I.
Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 2 Nr. 2 SGG, ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG siehe Urteile des Landessozialgerichts (LSG) NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008 - L 2 KN 165/08 -). Hier liegen mehrere solcher wesentlicher Entscheidungsmängel vor: Das SG hat den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gemäß §§ 103 und 106 SGG nicht genügt (hierzu unter 1.). Ferner hat es den Anspruch des Klägers auf ein faires Verfahren verletzt, weil es ihm keinen Dolmetscher im Termin zur Verfügung stellte (hierzu unter 2.).
1. Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil sich das SG - auch ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung - zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen.
Das SG konnte hier angesichts der in Frage stehenden unübersichtlichen Beweislage nicht ohne weitere Ermittlungen über den geltend gemachten Anspruch gemäß § 1 OEG entscheiden. Denn hierzu hat das SG von Amts wegen und ohne Bindung an strafrechtliche Entscheidungen festzustellen, ob ein vorsätzlicher tätlicher Angriff i.S.d. § 1 OEG vorlag. Dies hat das SG im Ansatz zutreffend auch erkannt. Es genügt für eigene Ermittlungen, aber nicht - wie es das SG hier tat - auf fremde Bewertungen (der Strafverfolgungsbehörde bzw. der Strafgerichte) - oder bloße Zeugen vom Hörensagen (hier der nach dem streitigen Vorfall herbeigerufenen Polizeibeamten) abzustellen, wenn direkte Tatzeugen vorhanden sind (was hier der Fall ist). Insbesondere der angeschuldigte Täter aber auch Zeugen, die den Vorfall als persönlich wahrnahmen, sind ergänzend persönlich durch das SG als Zeugen zu vernehmen. Sonstige Umstände, die diese Beweiserhebung entbehrlich machen würden, liegen nicht vor. Insbesondere beweist der Umstand, dass sich nicht (mehr) anhand von Spuren feststellen lässt, ob, von wem und ggf. wann die Tür zum Zimmer des Klägers gewaltsam gegen seinen Willen aufgebrochen wurde, für sich genommen nicht, dass keine Gewalttat gegen den Kläger vorlag, so dass die Beweislage derzeit weiterhin offen ist.
2. Zudem ist der Kläger, - wie sich im Termin vor dem erkennenden Senat gezeigt hat - der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig. Er ist daher mit Hilfe eines vereidigten Dolmetschers auch selbst nochmals ergänzend zum Geschehensablauf genau zu befragen um den Sachverhalt aufzuklären und um ihm rechtliches Gehör zu gewähren. Nur dann ist seinem grundrechtlichen Anspruch ist ein faires Verfahren hinreichend Rechnung getragen. Auch lässt sich nur so klären, ob die vom SG bezeichneten Widersprüche in den Angaben des Klägers u. U. auf Übersetzungsfehlern beruhen.
3. Erst wenn der genaue Geschehensablauf auch dann nicht festzustellen wäre, käme es u. U. auf die vom SG spekulativ in den Raum gestellte Annahme an, wie sich ein Mensch nach einem Angriff wie dem vom Kläger vorgetragenem "nach üblicher Lebenserfahrung" verhält. Seriöse empirische Untersuchungen sind hierzu allerdings bislang nicht bekannt und vom SG auch nicht benannt.
II.
Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind wesentlich. Auch kann ohne weitere Ermittlungen nicht in der Sache entschieden werden. Hierbei handelt es sich um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG gebieten (so auch LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07 a. a. O.). Andernfalls bestünde nicht zuletzt auch die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden.
III.
Das erkennende Gericht macht von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer baldigen Sachentscheidung und dem o. g. Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits im entschiedenen Sinne Gebrauch. Es überwiegen vorliegend die Schutzinteressen der (mit der Zurückverweisung einverstandenen) Beteiligten an einem ordnungsgemäßen Verfahren.
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
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