L 11 KR 666/17 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 423/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 666/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 11.10.2017 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das SG hat dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im angefochtenen Beschluss zu Recht stattgegeben. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG) und merkt zum Beschwerdevorbringen an:

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Die Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind offen. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog. Behandlungssicherungspflege). Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege besteht neben dem Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung (vgl. § 13 Abs. 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI)). Zur Behandlungssicherungspflege gehören alle Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden. Die Hilfeleistungen umfassen Maßnahmen verschiedenster Art, insbesondere Kriseninterventionen. Auch die Beobachtung eines Versicherten durch eine medizinische Fachkraft wird grundsätzlich von dem Anspruch auf Behandlungssicherungspflege erfasst, wenn die medizinische Fachkraft wegen der Gefahr von ggf. lebensgefährdenden Komplikationen jederzeit einsatzbereit sein muss (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10.11.2005 - B 3 KR 38/04 R -; Senat, Beschlüsse vom 08.06.2015 - L 11 KR 202/15 B ER - und 18.11.2012 - L 11 KR 179/12 B ER -).

Offen ist, ob die Voraussetzungen der das Gesetz konkretisierenden Nr. 24 der Anlage zur Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie (HKP-Richtlinie) i.d.F. vom 17.09.2009 (letzte Änderung: 16.03.2017, BAnz AT 24.11.2017 B1 in Kraft getreten am 25.11.201) gegeben sind.

Nach den vorliegenden medizinischen Stellungnahmen spricht einiges dafür, dass der Antragsteller einen Anspruch auf spezielle Krankenbeobachtung im verordneten Umfang hat. Die Vitalfunktionen können möglicherweise täglich lebensbedrohlich gestört werden. Dies folgt insbesondere aus der Stellungnahme der Ärztin für kinder- und Jugendmedizin L vom 07.11.2017. Danach besteht die Grundproblematik der Aspiration des eigenen Speichels und der Unfähigkeit, Sekret abzuhusten, fort. Das Auftreten lebensbedrohlicher Situationen sei nur durch die permanente Überwachung des Antragstellers und Absaugen bei ersten Anzeichen noch vor einer Anzeige eines Abfalls der Sauerstoffsättigung durch das Gerät verhindert worden. Die Antragsgegnerin meint, eine häusliche Krankenpflege sei nicht mehr erforderlich, weil in den vergangenen zwei Jahren keine lebensbedrohliche Situation mehr dokumentiert worden sei. Dies allein ist aber nicht ausreichend. Wenn während der Zeit, in der häusliche Krankenpflege erbracht wurde, nur pflegerische Interventionen das Eintreten lebensbedrohlicher Situationen verhindert haben, kann aus dem Eintritt des mit der Krankenbeobachtung verfolgten Ziels nicht der Schluss gezogen werden, dass selbige nicht mehr erforderlich ist.

Da dem Hauptsacheverfahren nicht jegliche Erfolgsaussicht abgesprochen werden kann, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dazu sind vor allem die Folgen zu berücksichtigen, die die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Antragsteller hätte. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger kann das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Angesichts der überragend hohen Bedeutung, die dem Leben als Rechtsgut in der grundgesetzlichen Ordnung zukommt (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 -), sind in Verfahren wie dem vorliegenden an die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hohe Anforderungen zu stellen (hierzu Senat, Beschlüsse vom 28.06.2013 - L 11 SF 74/13 ER - und 19.11.2012 - L 11 KR 473/12 B ER -). Sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass - was auf Grundlage der vorliegenden Unterlagen möglich erscheint - der Antragsteller auf eine jederzeitige Interventionsmöglichkeit einer dritten Person angewiesen ist, käme der Rechtsschutz in der Hauptsache, sofern zwischenzeitlich eine lebensbedrohliche Situation auftreten sollte, zu spät. Das Unterliegen der Antragsgegnerin hat demgegenüber allenfalls wirtschaftliche Auswirkungen. In Anwendung dieser Kriterien fällt die Abwägung vorliegend wegen des möglicherweise bedrohten Rechtsguts Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) zu Gunsten des Antragstellers aus. Das gegenläufige finanzielle Risiko für die Antragsgegnerin erachtet der Senat derzeit als hinnehmbar (hierzu Senat, Beschlüsse vom 08.06.2015 - L 11 KR 202/15 B ER -, 28.06.2013 - L 11 SF 74/13 ER - und 19.11.2012 - L 11 KR 473/12 B ER -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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