S 4 AL 3858/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AL 3858/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Nahtlosigkeitsregelung des § 125 SGB III findet auch dann noch Anwendung, wenn vor oder während des Laufes eines Zeitraumes, für den Arbeitslosengeld beansprucht wird eine negative Entscheidung des Rentenversicherungsträgers ergeht.
1. Der Bescheid vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... wird abgeändert und dem Kläger Arbeitslosengeld über den 12. Oktober 2003 hinaus gewährt. 2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger über den 12.10.2003 hinaus Arbeitslosengeld zu gewähren ist.

Der am ... geborene Kläger war seit 21.05.2001 als Kraftfahrer bei der ... GmbH beschäftigt. Seit 21.01.2002 war er arbeitsunfähig krank. Seither ruht das Arbeitsverhältnis. Bis zur Aussteuerung am 21.07.2003 bezog der Kläger Krankengeld. Das Arbeitsverhältnis ist nach den Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 26.09.2005 zum 30.11.2003 beendet worden.

Am 23.06.2003 beantragte der Kläger bei der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Der Rentenversicherungsträger lehnte diese Leistung mit Bescheid vom ... (Widerspruchsbescheid vom ...) ab, weil der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig (mindestens 6 Stunden) tätig sein könne. Hiergegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Reutlingen (Az.: S 3 R 1170/04). Der Rechtsstreit ist noch anhängig.

Am 28.07.2003 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Zahlung von Arbeitslosengeld. Dabei erklärt er, er könne die letzte Tätigkeit nicht mehr ausüben, stelle sich jedoch im Rahmen des ärztlicherseits festgestellten Leistungsvermögens dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Mit Bescheid vom ... bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld ab 28.07.2003 bis 12.10.2003. Hierbei ging die Beklagte offensichtlich davon aus, dass ab 01.09.2003 Arbeitsunfähigkeit bestand und gewährte entsprechend der Regelung des § 126 SGB III für 6 Wochen weiterhin Arbeitslosengeld (Bl. 199 der Leistungsakte).

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend, er habe im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung (§ 125 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III)) Anspruch auf Arbeitslosengeld über den 12.10.2003 hinaus. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2003 zurück. Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger habe im Arbeitslosengeldantrag angegeben, dass der gesetzliche Rentenversicherungsträger den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt habe. Somit sei zum Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung bereits eine Feststellung bezüglich der Erwerbsminderung getroffen worden. Leistungen im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung des § 125 SGB III könnten deshalb nicht gewährt werden. Unerheblich hierbei sei, ob die Entscheidung des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers rechtskräftig sei oder nicht. Dem Kläger könne infolge der seit 01.09.2003 bestehenden Arbeitsunfähigkeit nach § 126 SGB III Arbeitslosengeld längstens für die Dauer von 6 Wochen gewährt werden.

Hiergegen hat der Kläger am ... Klage zum Sozialgericht Reutlingen erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, aufgrund der Rechtsprechung des BSG sei die Beklagte bis zur Bestandskraft des Rentenbescheides verpflichtet, Arbeitslosengeld zu gewähren. Die Kammer hat Dr ..., Facharzt für Allgemeinmedizin, als sachverständige Zeugen schriftlich gehört. Dieser hat unter dem 12.10.2004 mitgeteilt, der Kläger sei seit Januar 2002 arbeitsunfähig.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... abzuändern und ihm Arbeitslosengeld über den 12. Oktober 2003 hinaus zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die gerichtlichen Vorakten (S 3 R 1170/04) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtene Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat der Kläger Anspruch auf Arbeitslosengeld über den 12.10.2003 hinaus.

Anspruch auf Arbeitslosengeld haben gemäß § 117 Abs. 1 SGB III (in der im Jahr 2003 geltenden Fassung) Arbeitnehmer, die 1. arbeitslos sind, 2. sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und 3. die Anwartschaftszeit erfüllt haben.

Arbeitslos ist gemäß § 118 Abs. 1 SGB III ein Arbeitnehmer, der 1. vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit) und 2. eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht (Beschäftigungssuche).

Eine Beschäftigung sucht gemäß § 119 Abs. 1 SGB III, wer 1. alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und 2. den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).

Nach § 119 Abs. 2 SGB III steht den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung, wer arbeitsfähig und seine Arbeitsfähigkeit entsprechend arbeitsbereit ist.

Arbeitsfähig ist gemäß § 119 Abs. 3 SGB III ein Arbeitsloser, der 1. eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufnehmen und ausüben, 2. an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung des Erwerbslebens teilnehmen und 3. Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf.

Der Kläger hat sich am 28.07.2003 arbeitslos gemeldet. Aufgrund seiner vorangegangenen Beschäftigung hat er einen Anspruch auf Arbeitslosengeld für eine Dauer von 360 Tagen erworben. Schließlich war der Kläger ab 28.07.2003 und über den 12.10.2003 hinaus arbeitslos. Er hat nicht in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden. Dem steht nicht entgegen, dass das Arbeitsverhältnis bei der ... GmbH erst zum 30.11.2003 beendet wurde. Denn das Arbeitsverhältnis hat im Hinblick auf die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht erfüllt werden können, weshalb von einem Verzicht des Arbeitgebers auf sein Direktionsrecht auszugehen ist. Auch der Kläger hat seine Dienstbereitschaft nicht mehr aufrechterhalten, wie sich aus der Arbeitslosmeldung sowie der Stellung des Rentenantrags ergibt. Ferner hat der Kläger eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung gesucht. Zur Beschäftigungssuche gehört zwar auch die Arbeitsfähigkeit (§ 119 Abs. 3 SGB III). Diese lag beim Kläger nicht vor, da er aufgrund seiner lang anhaltenden Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage war, "eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufzunehmen und auszuüben (vgl. § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III).

Insoweit greift jedoch zu Gunsten des Klägers § 125 Abs. 1 SGB III ein. Voraussetzung für die Fiktion der objektiven Verfügbarkeit nach dieser Vorschrift ist, dass der Arbeitslose wegen einer mehr als 6-monatigen Minderung seiner Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf den für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn weder Berufsunfähigkeit noch Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt worden ist.

Zunächst unterliegt es keinem Zweifel, dass der Kläger in seiner Leistungsfähigkeit für einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum - also länger als 6 Monate - gemindert war. Der Kläger war ab 21.01.2002 arbeitsunfähig krank und bezog bis zur Aussteuerung am 21.07.2003 Krankengeld. Die Arbeitsunfähigkeit bestand nach den Angaben des behandelnden Arztes Dr ... auch weiterhin (s. Auskunft vom 12.10.2004). Somit kann angesichts der dargelegten Dauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers von einer nur vorübergehenden Minderung der Leistungsfähigkeit keine Rede sein (BSG SozR 3-4100 § 105 a Nr. 2 S. 8). Auch fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass die die Arbeitsunfähigkeit bedingende Erkrankung des Klägers andere Tätigkeiten (als die zuletzt ausgeübte) auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt zugelassen hätte.

Dass der zuständige Rentenversicherungsträger den Kläger noch für vollschichtig leistungsfähig gehalten hat (Bescheid vom ..., Widerspruchsbescheid vom ...) und dementsprechend die Gewährung einer Versichertenrente bislang ablehnt, berührt den Anwendungsbereich des § 125 SGB III nicht. Die Nahtlosigkeitsregelung dieser Bestimmung findet auch dann noch Anwendung, wenn vor oder während des Laufes eines Zeitraumes, für den Arbeitslosengeld beansprucht wird, eine negative Entscheidung des Rentenversicherungsträgers ergeht. § 125 Abs. 1 SGB III enthält die Regelungen über die sogenannte "Nahtlosigkeit" zwischen den Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Zweck der Nahtlosigkeit besteht darin, dauernd leistungsgeminderten Arbeitslosen, die nach den allgemeinen Regelungen den Anspruch auf Arbeitslosengeld mangels Erfüllung der Voraussetzungen der §§ 117, 119 SGB III nicht zu begründen vermögen, für die Zeit bis zur Feststellung von Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger den Anspruch gegen die Arbeitsverwaltung zu sichern. Damit soll der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die Rentenversicherung einerseits und die Arbeitslosenversicherung andererseits die Voraussetzungen, die jeweils für die in ihre Zuständigkeit fallenden sozialen Leistungen gelten, verneinen, und Meinungsverschiedenheiten über die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Versicherten zu seinen Lasten gehen. Dies bedeutet: Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB III "wenn weder Berufsunfähigkeit noch Erwerbsunfähigkeit festgestellt worden ist" verliert die Fiktion der Verfügbarkeit ihre Wirksamkeit erst dann, wenn der Rentenversicherungsträger positiv Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit festgestellt hat (Urteil des BSG vom 09.09.1999 - B 11 AL 13/99 R -; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 12.12.2003 - L 8 AL 4897/02). Eine positive Entscheidung des Rentenversicherungsträgers liegt bislang hier nicht vor. Der Rentenrechtsstreit (S 5 R 1170/04) ist noch nicht abgeschlossen.

Außer der zu fingierenden objektiven Verfügbarkeit (Arbeitsfähigkeit) kann dem Kläger auch die subjektive Verfügbarkeit (Arbeitsbereitschaft) im Sinne des § 119 Abs. 2 SGB III nicht abgesprochen werden. Diese Anspruchsvoraussetzung, die von § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB III nicht fingiert wird, ist im Falle des Klägers zweifelsfrei gegeben. Erklärungen darüber, dass er nicht bereit sei, sich im Rahmen des verbliebenen Restleistungsvermögens dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Der Kläger hat bei Arbeitslosmeldung am 28.07.2003 ausdrücklich erklärt, er stelle sich im Rahmen des ärztlicherseits festgestellten Leistungsvermögens dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist vorliegend § 126 SGB III nicht anwendbar. Diese Vorschrift setzt Arbeitsunfähigkeit während des Bezuges von Arbeitslosengeld voraus. Für diesen Fall wird trotz fehlender Verfügbarkeit für 6 Wochen eine Fortzahlung der Leistungen gewährleistet um einen Wechsel des Versicherungsträgers zu ersparen. Damit wird deutlich, dass für die Anwendung von § 126 SGB III die objektive Verfügbarkeit bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bestanden haben muss. Im vorliegenden Fall ist jedoch die Verfügbarkeit von Anfang an lediglich im Sinne der Fiktion des § 125 SGB III gegeben, sodass für § 126 SGB III insoweit kein Raum ist.

Lediglich ergänzend wird auf folgendes hingewiesen: Sofern die Fähigkeit, eine 15-stündige wöchentliche Tätigkeit ausüben zu können, vorliegend bejaht werden würde, wäre hierdurch der Anwendungsbereich des § 125 Abs. 1 SGB III ausgeschlossen. In diesem Fall wäre Arbeitslosengeld ohne Anwendung des § 125 SGB III zu gewähren, da hiermit die objektive Verfügbarkeit nach § 119 Abs. 3 SGB III bejaht werden müsste.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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