S 2 AS 841/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 841/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ist bei Klageerhebung ein notwendiges Vorverfahren noch nicht durchgeführt bzw. abgeschlossen worden, setzt das Gericht den Rechtsstreit aus.
2. Bei einer behördlichen Kostenfestsetzungsentscheidung handelt es sich - anders als bei der Kostengrundentscheidung, die Teil des Widerspruchsbescheides ist - um einen selbständig anfechtbaren Verwaltungsakt, hinsichtlich dessen vor Klageerhebung ein Vorverfahren durchgeführt werden muss.
3. Die Durchführung des Vorverfahrens wird weder dadurch entbehrlich, dass die für die Entscheidung über den Widerspruch zuständige Stelle auch schon die Kostenfestsetzungsentscheidung getroffen hat, noch dadurch, dass die Behörde im gerichtlichen Verfahren deutlich macht, dass sie bei einer Entscheidung über den Widerspruch keine Abhilfe vornehmen würde.
Der Rechtsstreit wird bis zur Durchführung des Vorverfahrens ausgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Höhe der von der Beklagten zu tragenden außergerichtlichen Kosten der Klägerin in einem Vorverfahren im materiellen Kontext des Sozialgesetzbuchs (SGB) II.

Mit Bescheiden vom 4. August 2005 hob die Beklagte Entscheidungen über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 19. Januar 2005 bis zum 31. Juli 2005 teilweise auf und lehnte einen Antrag der Klägerin auf Fortzahlung der Leistungen nach dem SGB II über den 31. Juli 2005 hinaus ab. Hiergegen legte die Klägerin am 25. August 2005 Widerspruch ein. In dieses Vorverfahren schaltete sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 20. Oktober 2005 ein.

Mit Bescheid vom 1. Dezember 2005 hob die Beklagte den angefochtenen Bescheid vom 4. August 2005 in vollem Umfang auf und erklärte sich zur Übernahme der im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten bereit, soweit diese notwendig waren und nachgewiesen werden. Mit weiterem Bescheid vom 1. Dezember 2005 bewilligte sie der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 19. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005.

Am 23. Januar 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, über die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu entscheiden und machte Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von insgesamt 672,80 EUR geltend.

Mit auf den 31. Januar 2005 datiertem Schreiben setzte die Beklagte am 31. Januar 2006 die erstattungsfähigen Kosten auf 301,60 EUR fest. Das Schreiben war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen, nach der gegen diese Entscheidung Klage erhoben werden könne.

Am 2. März 2006 erhob die Klägerin Klage mit dem Ziel, die Beklagte zur Zahlung von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 672,80 EUR zu verurteilen.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

II.

1. Sofern die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreites bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, kann das Gericht gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreites oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen ist. Diese Regelung ist entsprechend anzuwenden, wenn eine Klage vor Abschluss des Vorverfahrens erhoben wird (siehe nur BSG, Urteil vom 30.01.1980, Az.: 9 RV 40/79; Hessisches LSG, Beschluss vom 18.11.2005, Az.: L 4 B 103/05 SB; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 78 Rdnr. 3a). In einem solchen Fall weist das Gericht die Klage nicht als unzulässig ab, sondern setzt den Rechtsstreit bis zur Entscheidung über den Widerspruch aus (BSG, Urteil vom 30.01.1980, Az.: 9 RV 40/79; Hessisches LSG, Beschluss vom 18.11.2005, Az.: L 4 B 103/05 SB; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 78 Rdnr. 3a), da diese zwingende Sachurteilsvoraussetzung ist (Schlegel, in: Hennig [Hrsg.], SGG, § 78 [1996] Rdnr. 6).

2. Entsprechend war hier der Rechtsstreit auszusetzen, da bezüglich des streitgegenständlichen, auf den 31. Januar 2005 datierten Bescheides bislang kein Vorverfahren durchgeführt worden ist.

a) Bei der Festsetzung des von der Behörde zu erstattenden Betrages handelt es sich um einen selbständig anfechtbaren Verwaltungsakt (von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 63 Rdnr. 45). Insofern unterscheidet sich die Kostenfestsetzungs- oder Kostenhöheentscheidung von der Kostengrundentscheidung, die im Widerspruchsbescheid selbst getroffen wird und gegen die direkt Klage erhoben werden kann (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 61; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 68 Rdnr. 25, § 73 Rdnr. 15 und 19). Gegen die Kostenfestsetzungsentscheidung ist wie bei allen Verwaltungsakten grundsätzlich vor Erhebung einer Klage gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 SGG das Vorverfahren durchzuführen (Krasney, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 63 SGB X [13. Erg.-Lfg.] Rdnr. 32; von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 63 Rdnr. 45; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 18.04.1988, Az.: 6 C 41/85; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 64).

b) Ausnahmen von der Notwendigkeit der Durchführung eines Vorverfahrens liegen nicht vor. Dies gilt insbesondere für die ausdrücklich im Gesetz geregelten Ausnahmen des § 78 Abs. 1 Satz 2 SGG sowie für die weiteren explizit gesetzlich geregelten Ausnahmefälle (siehe dazu Schlegel, in: Hennig [Hrsg.], SGG, § 78 [1996] Rdnr. 13). Aber auch ungeschriebene Gründe für die Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens liegen nicht vor.

Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, dass ohne Durchführung eines Vorverfahrens Klage möglich sei, wenn die Widerspruchsstelle durch Festsetzung eines bestimmten Betrages die Kostenfestsetzung überflüssig gemacht hat (von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 63 Rdnr. 45), betrifft dies ersichtlich nicht die Fälle, in denen eine neben der Kostengrundentscheidung selbständige Kostenfestsetzungsentscheidung getroffen wurde, sondern die Fälle, in denen bereits in der Kostengrundentscheidung selbst – zum Beispiel bei Vertretungen durch Verbände – ein fester Betrag genannt ist (vgl. von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 63 Rdnr. 41). Da für die Kostenfestsetzungsentscheidung gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 SGB X diejenige Stelle zuständig ist, die die Kostengrundentscheidung getroffen hat (siehe auch Krasney, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 63 SGB X [13. Erg.-Lfg.] Rdnr. 24; von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 63 Rdnr. 42), sofern nicht ein Ausschuss oder ein Beirat die Kostenentscheidung getroffen hat, würde im übrigen ein Verzicht auf die Durchführung eines Vorverfahrens nur deshalb, weil die für die Entscheidung über den (potentiellen) Widerspruch zuständige Stelle bereits die Kostenfestsetzungsentscheidung getroffen hat, nicht die Ausnahme, sondern die Regel werden. Entsprechend geht die Auffassung der Beklagten, dass sie die Kostenfestsetzung überflüssig gemacht habe, indem sie bereits einen bestimmten Betrag festgesetzt hat, fehl: Die Festsetzung des Betrages stellt gerade die Kostenfestsetzungsentscheidung dar.

Auch ein Festhalten seitens der Beklagten an der getroffenen Entscheidung im gerichtlichen Verfahren, insbesondere in der Klageerwiderung oder im sonstigen Vorbringen, macht das Vorverfahren nicht entbehrlich (so auch Schlegel, in: Hennig [Hrsg.], SGG, § 78 [1996] Rdnr. 17; a.A. BVerwG, Urteil vom 20.04.1994, Az.: 11 C 2/93; VGH Mannheim, Urteil vom 23.07.1998, Az.: 8 S 3189/96). Dies gilt nicht nur für Angelegenheiten der Sozialversicherung, bei denen Ausgangs- und Widerspruchsbehörde nicht identisch sind (vgl. dazu BSG, Urteil vom 23.05.1989, Az.: 12 RK 43/88; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 78 Rdnr. 3c; vgl. auch BSG, Urteil vom 03.03.1999, Az.: B 6 KA 10/98 R), sondern auch in den übrigen Fällen, in denen zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbehörde nicht differenziert wird (Schlegel, in: Hennig [Hrsg.], SGG, § 78 [1996] Rdnr. 17). Eine andere Sichtweise würde die gesetzliche Verankerung des Vorverfahrens als Sachentscheidungsvoraussetzung im gerichtlichen Rechtsstreit leer laufen lassen, weil es dann den Beteiligten möglich wäre, das Vorverfahren zu umgehen, indem einerseits der Kläger sofort nach Erlass des Ausgangsbescheides Klage erhebt und die Beklagte andererseits sich zu dieser Klage in der Sache einlässt. Die zwingende Sachurteilsvoraussetzung eines durchgeführten Vorverfahrens steht aber nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten und auch nicht des Gerichtes, das auch dann nicht darauf verzichten kann, wenn der Zweck des Vorverfahrens nicht mehr erreicht werden kann (Schlegel, in: Hennig [Hrsg.], SGG, § 78 [1996] Rdnr. 6). Deswegen kann es auch keine Rolle spielen, ob sich die für die Widerspruchsentscheidung zuständige Behörde im Klageverfahren zur Sache umfassend abschließend geäußert und deshalb der Zweck des Vorverfahrens, nämlich u.a. die Gerichte von vermeidbaren Klageverfahren zu entlasten, nicht erreicht werden kann (so aber BVerwG, Urteil vom 18.04.1988, Az.: 6 C 41/85).

Schließlich lässt auch die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung im auf den 31. Januar 2005 datierten Bescheid die Durchführung des Vorverfahrens nicht entbehrlich werden (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20.04.1994, Az.: 11 C 2/93; VGH Mannheim, Urteil vom 23.07.1998, Az.: 8 S 3189/96; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 68 Rdnr. 36). Die verfahrensrechtlichen Folgen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung sind vielmehr in § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG abschließend geregelt. Dass ein Rechtsbehelf überflüssig wird, wenn über ihn nicht belehrt wird, ist dort nicht bestimmt (so zur Parallelvorschrift des § 58 VwGO ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 20.04.1994, Az.: 11 C 2/93; VGH Mannheim, Urteil vom 23.07.1998, Az.: 8 S 3189/96).

3. Die Beklagte wird in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben, ob gegen den auf den 31. Januar 2005 datierten Bescheid fristgerecht Widerspruch eingelegt worden ist bzw. ob in der Klageerhebung angesichts der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung die Einlegung des Widerspruchs zu sehen ist (vgl. insofern BSG, Urteil vom 23.05.1989, Az.: 12 RK 43/88).
Rechtskraft
Aus
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