S 9 U 2473/16

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Meiningen (FST)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 9 U 2473/16
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 216/17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 19. Januar 2017 aufgehoben und dem Kläger ratenfreie Prozesskostenhilfe ab 3. August 2017 bewilligt sowie Rechtsanwalt , beigeordnet.

Gründe:

I.

Der Kläger erlitt am 27. Juni 2014 einen Arbeitsunfall. Er schlug mit seinem Gesicht frontal auf einen Stahlträger auf, nachdem eine schwere Eisentraverse an seinen Hinterkopf anprallte.

Zur Feststellung der Unfallfolgen und der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) veranlasste die Beklagte bei Prof. Dr. Dr. H. vom U. Klinikum J. ein Erstes Rentengutachten und berechtigte ihn, Zusatzgutachten zu veranlassen. Fernmündlich teilte dessen Sekretariat der Beklagten mit, dass eine psychiatrische Zusatzbegutachtung erforderlich sei, welche im Klinikum nicht erfolgen könne. Daraufhin veranlasste diese eine Begutachtung durch den Psychologen Dr. Dipl.-Psych. U. Nach seinem Gutachten vom 18. Februar 2016 ergab sich kein Anhalt für das Vorliegen einer klinisch relevanten psychischen Störungslage. Aufgrund dieses Gutachtens und der Zusatzgutachten des Prof. Dr. Dr. Sch. (Mund-Kiefer-Gesichtschirurgisches Zusatzgutachten), des Prof. Dr. G. (HNO-Zusatzgutachten), des Prof. Dr. M. (augenärztliches Zusatzgutachten) und seines eigenen Ersten Rentengutachtens schätzte Prof. Dr. Dr. H. die Gesamt-MdE auf 20 v.H. Mit Bescheid vom 10. Juni 2015 gewährte die Beklagte dem Kläger unter Anerkennung diverser Unfallfolgen eine Verletztenrente bei einer MdE von 20 v.H. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 17. November 2011).

Mit seiner Klage hat der Kläger - wie im Widerspruchsverfahren - lediglich vorgetragen, dass in Anbetracht der Schwere der Verletzungen und der weitergehenden Beeinträchtigungen die MdE mit 20 v.H. zu gering bemessen sei. Seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 17. Januar 2017 abgelehnt. Erfolgsaussichten der Klage seien nicht ersichtlich; die Gutachten des Prof. Dr. Dr. H. und der Zusatzgutachter seien ausreichend und stützten die Entscheidung der Beklagten.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde. Er hat vorgetragen, die psychiatrische und neurologische Problematik sei nicht ausreichend gewürdigt worden. Insbesondere sei eine Begutachtung durch Psychologen nicht ausreichend, da sie für das psychiatrische Fachgebiet nicht ausreichend qualifiziert seien.

Der Kläger beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 19. Januar 2017 aufzuheben und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ..., zu bewilligen.

Die Beklagte hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist begründet.

Nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO), erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (Abs. 1 Satz 1).

Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn das Gericht nach vorläufiger Prüfung den Standpunkt des Antragstellers auf Grund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder doch für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 73a Rn. 7a). Der Erfolg braucht nicht sicher zu sein, muss aber nach den bisherigen Umständen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Ist ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte, ist der Antrag auf Gewährung von PKH abzulehnen (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Februar 1998 - B 13 RJ 83/97 R; BVerfG, Beschluss vom 24. April 2012 - 1 BvR 2869/11, beide nach juris).

Nach dem sich aus der Gerichts- und Behördenakte sowie dem Vortrag des Beschwerdeführers ergebenden Sachstand ist bei summarischer Überprüfung ein Klageerfolg im Verfahren der ersten Instanz derzeit nicht ausgeschlossen, sondern erfordert weitere Ermittlungen des Sozialgerichts.

Zumindest ist im Rahmen der Amtsermittlung eine Begutachtung auf psychiatrischem Fachgebiet erforderlich. Dr. S. (T. Kliniken, S., Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin) diagnostizierte mit Bericht vom 23. September 2014 eine Anpassungsstörung mit Beeinträchtigung des emotionalen Lebens und stellte die Differenzialdiagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS); eine weitere psychotherapeutische Behandlung sei indiziert. Dies bestätigte die von der Beklagten befragte Psychologische Psychotherapeutin Dr. M. in ihrer beratenden Stellungnahme vom 12. November 2014 und regte eine psychotherapeutische Weiterbehandlung bei der Diagnose Anpassungsstörung mit inkompletten Teilen einer PTBS an. Im weiteren Zeitablauf führte die Psychologische Psychotherapeutin K. als Anlage zum ärztlichen Entlassungsbericht der Fachklinik Bad L. (Aufenthalt 26. November bis 20. Dezember 2014) aus, dass sich der Kläger in einem ädaquaten Bewältigungsprozess befand und deswegen die engmaschig geplante Therapie reduziert werden konnte. Akut habe sich kein Behandlungsbedarf ergeben, was sich jedoch für die Zukunft (Zeitpunkt der Materialentfernung) ändern könne. Aufgrund dieser Stellungnahme ging Dr. S. (Bericht vom 10. Dezember 2014) ebenfalls davon aus, dass (aktuell) kein weiterer psychotherapeutischer Behandlungsbedarf mehr gegeben war. Im Abschlussbericht einer Arbeitsplatzbezogenen Rehabilitation vom 13. April bis 12. Mai 2015 führte Dr. H. wiederum aus, dass eine - gegebenenfalls stationäre - traumaspezifische Psychotherapie unerlässlich sei. Dies bestätigte Dr. M. in ihrer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 11. Juni 2015, wobei sie die Erforderlichkeit der stationären Therapie unterstrich. Nachdem der Kläger - familiär bedingt - keine stationäre Therapie antreten wollte, suchte er Dr. Dipl.-Psych. M. auf, die am 30. Juni 2015 attestierte, dass sich aktuell keine Behandlungsbedürftigkeit mehr ergebe und keine PTBS mehr diagnostizieren ließe. Abschließend nahm Dr. Dipl.-Psych. U. mit seinem Gutachten vom 18. Februar 2016 zu psychischen Gesundheitsstörungen des Klägers Stellung und verneinte ebenfalls deren Vorliegen.

Dieser Sachverhalt zeigt, dass Erkrankungen im psychiatrischen Bereich nicht abwegig waren, sondern nur different gewürdigt wurden. Die Diagnose und Beurteilung dieser Beeinträchtigungen erfolgte nicht durch einen Psychiater sondern durch Psychologen. Tatsächlich handelt es sich aber bei der Feststellung und Würdigung der Gesundheitsbeeinträchtigungen um eine medizinische Fragestellung, die hier durch einen Facharzt für Psychiatrie oder Psychosomatik zu klären ist. Psychologen können in solchen Fällen nur zur zusätzlichen oder erweiternden Einschätzung hinzugezogen werden (z.B. durch testpsychologische Zusatzgutachten), jedoch nicht - wie hier geschehen - anstelle des Facharztes die alleinige Würdigung und Beurteilung medizinischer Sachverhalte übernehmen.

Nachdem weitere Ermittlungen von Amts wegen für notwendig sind, kann eine Erfolgsaussicht und damit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht abgelehnt werden (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 73a Rn. 7a).

Die Bewilligung der PKH kommt allerdings erst ab dem 3. August 2017 in Betracht, weil erst dann eine vollständige PKH-Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nebst Nachweisen zur Akte gereicht worden ist und Bewilligungsreife vorgelegen hat.
Rechtskraft
Aus
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