Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 U 112/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 111/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Das Schadensbild einer durch Lösemittel wie Styrol verursachten Polyneuropathie zeichnet sich nach aktueller wissenschaftlicher Lehrmeinung durch primäre Schäden des Axons (Achsenzylinders) eine Neurons aus.
2. Sekundär oder parallel hierzu kann es insbesondere durch lipophile Lösemittel zu Schäden der Myelinscheide kommen, die zu einer Reduzierung der Nervenleitgeschwindigkeit führen.
3. Trotz in der Literatur beschriebener Einzelfälle von primären oder ausschließlichen Demyelinisierungen infolge einer Lösemittelexposition kann aktuell nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit belegt werden, dass eine demyelinisierende Polyneuropathie ohne eindeutige Schäden des Axons durch die Einwirkung von Lösemitteln verursacht worden ist.
4. Die generelle Toxizität von Tonerstaub ist nicht Gegenstand der Beurteilung im Verfahren zur Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 1303 oder 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung.
2. Sekundär oder parallel hierzu kann es insbesondere durch lipophile Lösemittel zu Schäden der Myelinscheide kommen, die zu einer Reduzierung der Nervenleitgeschwindigkeit führen.
3. Trotz in der Literatur beschriebener Einzelfälle von primären oder ausschließlichen Demyelinisierungen infolge einer Lösemittelexposition kann aktuell nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit belegt werden, dass eine demyelinisierende Polyneuropathie ohne eindeutige Schäden des Axons durch die Einwirkung von Lösemitteln verursacht worden ist.
4. Die generelle Toxizität von Tonerstaub ist nicht Gegenstand der Beurteilung im Verfahren zur Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 1303 oder 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit des Klägers. Der Kläger begann im Jahr 1970 mit einer beruflichen Tätigkeit als Koch bei der Bundeswehr, in deren Rahmen er bis zum Jahr 1987 in Küchenbetrieb tätig war. Anschließend arbeitete er ebenfalls als Koch bei dem Bundesgrenzschutz in Q-Stadt. Aus organisatorischen Gründen wurde ihm 1999 eine andere Tätigkeit beim Bundesgrenzschutz, nämlich als Vervielfältiger im Kopierraum, übertragen. Nachdem der Kläger im Mai 2003 arbeitsunfähig erkrankte, nahm er seine Tätigkeit am Kopierarbeitsplatz nicht mehr auf.
Nachdem die Beklagte durch Schreiben eines Bevollmächtigten des Klägers vom 9. November 2005 betreffend ein weiteres Verwaltungsverfahren von dem Vorliegen einer Polyneuropathie des Klägers Kenntnis erlangt hatte, leitete sie mit Schreiben vom 23. Juni 2005 Ermittlungen im Hinblick auf das Vorliegen einer Berufskrankheit ein. In seinem unter dem 6. Juni 2007 erstatteten Gutachten kam der Sachverständige Prof. Dr. K., W-Stadt, zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine Hypästhesie der Fingerspitzen sowie beider Füße sockenförmig bis zum distalen Unterschenkeldrittel mit Hypoglasie, Thermhypästhesie und Pallhypästehsie sowie eine Lagesinnstörung vorliege, der Achillessehnenreflex sei beidseitig erloschen. Bei Gangprüfungen habe eine ausgeprägte Unsicherheit mit Fallneigung bestanden. Es lägen Hinweise auf eine vorwiegend sensible Polyneuropathie vor, bei der der elektrophysiologische Befund für das Vorliegen einer leichten demyelinisierenden Polyneuropathie spreche, wobei die entsprechende Untersuchung allerdings auf Wunsch des Klägers habe abgebrochen werden müssen. Der aktenkundige Befund einer axonalen Neuropathie habe sich nicht bestätigen lassen. Daher liege eine Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung, vorbehaltlich neurer Erkenntnisse im Hinblick auf die Verursachung einer demyelinisierenden Polyneuropathie, nicht vor. Daraufhin lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1303 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger beschäftigungsbedingt nicht mit neurotoxischen Lösungsmitteln im Sinne der Berufskrankheit Nr. 1317 in Kontakt gekommen sei. Das eingeholte Zusammenhangsgutachten habe einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Tonerstäuben und den bei dem Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht belegt. Das Krankheitsbild im Sinne der Berufskrankheit Nr. 1303 sei nicht gegeben. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2008 zurück. Im Wesentlichen führte sie zur Begründung aus, dass der Kläger keinen berufsbedingten Kontakt mit Benzol oder Styrol gehabt habe, so dass es an den Voraussetzungen einer Berufskrankheit Nr. 1317 fehle. Für die Berufskrankheit nach Nr. 1303 liege nicht das erforderliche Krankheitsbild vor.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 1. Dezember 2008, der am selben Tag bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, hat der Kläger Klage erhoben und verfolgt sein Begehren auf Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit weiter. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, täglich ca. 8.000 bis 15.000 Kopien angefertigt zu haben und dabei mit Tonerstäuben in großem Ausmaß in Kontakt gekommen zu sein. Diese hätten zu der bei ihm diagnostizierten Polyneuropathie geführt. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat der Kläger die Ergebnisse der an der Universität Freiburg im Breisgau von Mersch-Sundermann et. al. durchgeführten "Untersuchungen zur genetischen Toxizität von Emissionen aus Laserdruckern in A549-Zellen im Vitrocell®-Transwell-Eypositionsysstem" sowie weitere Veröffentlichung zur Toxizität von Tonerstüben zur Akte gereicht.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte zu verurteilten, unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Juni 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2008 bei dem Klägers das Vorliegen einer Berufskrankheit gem. Nr. 1303 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und Entschädigungsleistungen nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat von Amts wegen Ermittlungen eingeleitet. Ausweislich des durch den Hersteller der von dem Kläger im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit bedienten Kopiergeräte übersandten Umweltdatenblatt zu diesen Geräten emittieren diese neben Ozon und Staub auch Styrol. Weiterhin hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlich-psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. S., das dieser Berücksichtigung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens des Dipl.-Psychologen Dr. H. vom 28. August 2011 mit Datum vom 16. November 2010 erstattet und durch eine weitere Stellungnahme vom 29. März 2011 ergänzt hat. Der Sachverständige Dr. S. kommt darin zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine demyelinisierende Polyneuropathie vorliege, während eine axonale Verlaufsform sich allenfalls im Ansatz nachweisen lasse. Daher könne ein Zusammenhang zwischen der Styrolexposition des Klägers und der diagnostizierten Polyneuropathie zwar nicht ausgeschlossen werden, er sei jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen. Das Vorliegen einer Enzephalopathie bei dem Kläger könne ausgeschlossen werden.
Weiterhin hat die Kammer zwei zusätzliche gutachterliche Stellungnahmen nach Aktenlage eingeholt betreffend die Frage des Schädigungsbildes einer durch Lösungsmittel verursachten Polyneuropathie. Der Sachverständige Dr. K. kommt unter dem 29. September 2012 zu dem Ergebnis, dass nach "klassischer Lehrmeinung" organische Lösungsmittel Polyneuropathien vom axonalen Typ mit zum Teil sekundärer Demyelinisierung verursachten. Die neuere wissenschaftliche Literaturlage sei allerdings im Hinblick auf die Frage des Schädigungsbildes nach Lösemittelexposition "nicht befreidigend". Letztlich sei es nicht zutreffend, dass bei lösemittelbedingter Polyneuropathie stets axonale Nervenschäden vorlägen, vielmehr könnten "gleichzeitig" auch demyelinisierende Schäden vorhanden sein. Es lägen neuere wissenschaftliche Erkenntnisse dafür vor, dass hochlipophile Lösemittel wie Toluol eine demyelinisierende Polyneuropathie vervorrufen könnten. Der Wirkmechanismus sei aber noch unbekannt.
Der Sachverständige Prof. Dr. V. bestätigt in seiner am 26. Juli 2011 bei Gericht eingegangen Stellungnahme, dass Lösungsmittel am Häufigsten Schäden der Axone peripherer Nerven verursachten, während Schäden der Myelinscheiden sekundär aufträten. Bisher gelte es als unwahrscheinlich, dass Lösungsmittel solche Schäden primär erzeugten ohne Beteiligung des Axons. Allerdings fänden sich Einzelfälle, in denen nach Lösemittelexposition eine periphere Neuropathie vom Markscheidentyp festgestellt worden sei. Aktuell lägen keine beweisenden Daten dafür vor, dass Lösemittel nur zu einer demyelinisierenden Polyneuropathie führen könnten. Die bisher beschriebenen Einzelfälle seien insofern wissenschaftlich nicht beweisend.
Das Gericht hat ferner die Verfahrensakte des VG R-Stadt – xxxxx – beigezogen und das darin enthalten Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Z. vom 14. September 2009 im Wege des Urkundenbeweises verwertet.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen, hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die vorbezeichneten Sachverständigengutachten und -stellungnahmen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1317 oder 1303 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung. Daher erweisen sich die angegriffenen Bescheide als rechtmäßig.
Die Kammer weist vorab darauf hin, dass vorliegend keine Entscheidung über die (allgemeine) Toxizität von Tonerstaub zu treffen war. Vielmehr kam es im Hinblick auf die in Streit stehenden Berufskrankheiten allein darauf an, ob der Kläger infolge des Kontaktes mit Lösungsmitteln an einer konkreten Erkrankung leidet. Ob die Tonerstaubexposition als solche zu einer Gesundheitsbeschädigung bei dem Kläger geführt hat, war daher nicht Gegenstand der gerichtlichen Ermittlungen oder der erfolgten Entscheidungsfindung. Denn vorliegend war allein die Frage zu beantworten, ob eine Berufskrankheit vorliegt. Dabei sind Berufskrankheiten solche Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII genannten Tätigkeiten erleidet (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ist eine Berufskrankheit die "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische".
Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK 1317 müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muss eine Polyneuropathie (oder Enzephalopathie) vorliegen, die durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische entstanden ist, deren Einwirkungen die Versicherte in Folge ihrer versicherten Tätigkeit ausgesetzt war. Dabei ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung erforderlich. Die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein, während für den ursächlichen Zusammenhang, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht (BSG, Urteil vom 22. August 2000, SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2 m.w.N.).
Der Kläger ist nach den eingeholten sachverständigen Einschätzungen an einer Polyneuropathie erkrankt. Gleichzeitig war er während seiner versicherten Tätigkeit dem Lösungsmittel Styrol ausgesetzt, das Bestandteil der Emissionen derjenigen Kopiergeräte war, die der Kläger während seiner versicherten Tätigkeit als Beschäftigter bedient und sich daher im Einwirkungsbereich dieser Emissionen aufgehalten hat. Dies ergibt sich ohne Weiteres aus dem Umweltdatenblatt, das der Hersteller der Kopiergeräte des Modells YYY, die ÜÜ. Deutschland GmbH, mit Datum vom 23. Februar 2010 dem Gericht übersandt hat. Insofern ist für die Kammer in keiner Weise nachvollziehbar, wie die Beklagte noch im hier angegriffenen Widerspruchsbescheid die Auffassung vertreten konnte, der Kläger habe während seiner versicherten Tätigkeit "keinen Umgang mit derartigen Stoffen" gehabt. Eine bloße Nachfrage bei dem Geräte-Hersteller hätte die Fehlerhaftigkeit dieser Feststellung belegt.
Allerdings lässt sich die notwendige Kausalbeziehung zwischen der beruflichen Exposition des Klägers gegenüber dem Lösungsmittel Styrol und der bei ihm vorliegenden Polyneuropathie nicht mit der notwendigen, insoweit hinreichenden Wahrscheinlichkeit belegen. Dies wiederum beruht auf dem Fehlen eines Schadensbildes der Polyneuropathie, das nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen dann zu diagnostizieren ist, wenn eine solche Polyneuropathie durch Lösungsmittel verursacht ist.
Anhand der folgenden Darstellung lässt sich der Aufbau eines Neurons nachvollziehen:
(Grafikdarstellung nicht möglich)
Dabei findet sich ein vom Zellkörper weg leitender Fortsatz der Nervenzelle, der so genannte Achsenzylinder (das Axon). Dieses Axon ist umgeben von einer isolierenden Schicht aus Lipiden, Protein und Wasser, dem Myelin, das im Hinblick auf das Axon die so genannte Myelinscheide bildet, die ihrerseits im Abstand von ca. 1 mm durch Ranvier-Schnürringe unterbrochen wird (vgl. hierzu die Erläuterungen zu den verwendeten Stichwörtern Pschyrembel®, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl., 2004).
Wie bereits der Sachverständige Prof. Dr. K. im Verwaltungsverfahren hat auch der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. S. ausgeführt, dass nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand eine durch Lösemittel verursachte Polyneuropathie primär zu Schädigungen des Axons selbst führen und – wenn überhaupt – erst sekundär zu Schäden an der Myelinscheide.
Die zur Verifikation dieser Prämisse herangezogenen Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. V. haben diese Ausgangsthese im Ergebnis bestätigt. Insbesondere hat der Sachverständige Prof. Dr. V. ausgeführt, dass keine beweisenden Daten vorliegen, denen zufolge Lösungsmittel zu einer nur demyelinisierenden Polyneuropathie führen können; vorliegende Beschreibungen von solchen Krankheitsbildern infolge von Lösungsmittelexposition besäßen nur Einzelfallcharakter und könnten keinen wissenschaftlichen Beweis liefern.
Der Sachverständige Dr. K. bestätigt diesen Befund insofern, als die aktuelle Literaturlage unbefriedigend sei, da offensichtlich eine eindeutige Aussage nicht getroffen werden könne. Er bestätigt dabei zunächst Umstand, dass nach klassischer Lehrmeinung Lösungsmittel zu einer Polyneuropathie vom axonalen Typ mit zum Teil sekundärer Demyelinisierung führten.
Dr. K. verweist allerdings auf die im Jahr 2010 der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg vorgelegte Dissertation von Hannes Lücking, Enzephalopathie und Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel – Review aktueller Literatur und Patientenuntersuchung am Institut für Arbeitsmedizin der Universität Erlangen, der auf S. 74 ff. ausführt:
"Die Pathologie der PNP beruht nach Aussage mehrerer Studien im Wesentlichen auf zwei verschiedenen Mechanismen: zum einen kommt es durch Einlagerung der lipophilen Lösungsmittel in die Myelinscheiden der Nerven zu akuten Beeinträchtigungen mit verminderter NLG. Zum anderen findet sich, vermutlich durch eine Konformationsänderung von Proteinen, eine Ansammlung von Neurofilamenten mit resultierender Schädigung der Axone. Der Beginn der Schädigung liegt meist distal und schreitet nach proximal fort, was einer distalen, symmetrischen sensiblen (später sensomotorischen) PNP entspricht.
Periphere Nervenschäden lassen sich v. a. mit der Elektroneurographie gut objektivieren. Von Vorteil ist dabei die Möglichkeit der objektiven Verlaufskontrolle und die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Individuen bzw. mit bekannten Normwerten. Klinisch fallen v. a. Parästhesien und Schwäche der distalen Extremitäten auf sowie Reflexabschwächungen oder -verluste und Störungen des Vibrationsempfindens auf. Elektroneurographisch kommt es zu einer Verminderung der NLG als Zeichen der Schädigung der Myelinisierung und zu einer Abnahme der Potentialamplitude als Zeichen der axonalen Schädigung.
Es zeigte sich, dass die NLG schon in frühen Stadien der Erkrankung pathologische Befunde zeigt. Die Verlaufskontrolle mittels NLG konnte auch belegen, dass kurzfristige Expositionsfolgen reversibel sind, bei einer langjährigen Exposition, insbesondere wenn diese über 30 Jahre dauerte, jedoch mit einem Fortbestehen der Symptomatik zu rechnen ist, nicht aber mit einer Progredienz."
Dr. K. schließt daraus, dass zumindest lipophile Lösemittel mit den aus Lipiden bestehenden Myelinscheiden interagieren und hier zu spezifischen Schäden in Form der Demyelinisierung führen können. Allerdings berichtet auch Lücking von einer parallel vorliegenden axonalen Schädigung.
Vor diesem Hintergrund geht die Kammer davon aus, dass aktuell (noch) ein Erkenntnisstand der wissenschaftlichen Forschung dahingehend anzunehmen ist, dass bei einer durch Lösemittel verursachten Polyneuropathie primär axonale Schäden auftreten, die von einer Demyelinisierung begleitet werden können. Diese kann nach den Erkenntnissen von Lücking, der selbst aber nur eine Literaturauswertung ohne eigene empirische Untersuchung vorgenommen hat, auch bereits frühzeitig einsetzen und nicht erst zwingend nach einer längeren Exposition, die (deutlich) vor der Schädigung der Myelinscheide zu axonalen Schäden führt. Eine reine oder weithin primäre Demyelinisierung ohne Schädigung des Axons durch Lösemittel kann aber wissenschaftlich nicht belegt werden. Die auch seitens des Sachverständigen Prof. Dr. V. bezeichneten Einzelfälle lassen nach Überzeugung der Kammer in Übereinstimmung mit dessen Wertung nicht die Schlussfolgerung zu, dass eine alleinige oder weithin primäre Schädigung der Myelinscheide ohne Beteiligung des Axons Folge einer Lösemittelexposition sein könnte.
Ausgehend von dieser naturwissenschaftlichen Prämisse kann ein kausaler Zusammenhang zwischen der Exposition des Klägers gegenüber Styrol als Bestandteil von Tonerstaub und der bei ihm vorliegenden Polyneuropathie nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Denn wie bereits der Sachverständige Prof. Dr. K. im Verwaltungsverfahren hat auch der Sachverständige Dr. S. gerichtlichen Verfahren festgestellt, dass der Kläger an einer im "überwiegenden Umfang" demyelinisierenden Polyneuropathie leidet. Ein axonaler Umbau in der Muskulatur hat sich demnach bei ihm "allenfalls im Ansatz" nachweisen lassen. Ein Schädigungsmuster im Axon sei nicht zu belegen gewesen.
Damit fehlt es an einem solchen Schadensbild, wie es für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Lösemittelexposition des Klägers und der Polyneuropathie erforderlich wäre. Daher kann eine solche der gerichtlichen Entscheidung nicht zugrund gelegt werden.
Soweit aus dem Befundbericht des den Kläger behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. Y. vom 9. August 2005 hervorgeht, dass eine "eindeutige axonale Veränderung" bei dem Kläger nachweisbar sei, folgt die Kammer dem aufgrund der sachverständigen Feststellung nicht.
Auch eine lösungsmittelbedingte Enzephalopathie liegt nicht vor. Dieses Krankheitsbild konnte der Sachverständige Dr. S. unter Berücksichtigung des eingeholten Zusatzgutachtens ausschließen, ohne dass seitens der Kammer an dieser Bewertung Zweifel bestünden oder seitens des Klägers vorgetragen worden wären.
Scheidet damit die Anerkennung der Polyneuropathie des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung aus, kommt auch eine solche nach Nr. 1303 nicht in Betracht, da insoweit ein Spezialitätsverhältnis besteht und die Berufskrankheit nach Nr. 1303 sonstige Schäden durch Halogenkohlenwasserstoffe oder Benzol, seine Homologe oder Styrol erfasst, die hier nicht in Rede stehen (vgl. HessLSG, Urt. v. 6.7.2007 – L 7 U 8/06 – juris Rn. 53).
Trotz der erheblichen Gesundheitsstörungen, bezüglich derer der Sachverständige Dr. S. jegliche Simulation oder Aggravation seitens des Klägers ausgeschlossen hat, kann bezüglich der hier streitgegenständlichen Erkrankungen letztlich keine Entschädigungspflicht der Beklagten festgestellt werden. Ob der Kläger generell infolge seiner Belastung mit Tonerstaub über die Feststellungen der Kammer im Urteil vom 22. September 2009 (4 U 119/06 – juris) hinaus (entschädigungspflichtige) Gesundheitsschäden erlitten hat, muss daher weiter offenbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit des Klägers. Der Kläger begann im Jahr 1970 mit einer beruflichen Tätigkeit als Koch bei der Bundeswehr, in deren Rahmen er bis zum Jahr 1987 in Küchenbetrieb tätig war. Anschließend arbeitete er ebenfalls als Koch bei dem Bundesgrenzschutz in Q-Stadt. Aus organisatorischen Gründen wurde ihm 1999 eine andere Tätigkeit beim Bundesgrenzschutz, nämlich als Vervielfältiger im Kopierraum, übertragen. Nachdem der Kläger im Mai 2003 arbeitsunfähig erkrankte, nahm er seine Tätigkeit am Kopierarbeitsplatz nicht mehr auf.
Nachdem die Beklagte durch Schreiben eines Bevollmächtigten des Klägers vom 9. November 2005 betreffend ein weiteres Verwaltungsverfahren von dem Vorliegen einer Polyneuropathie des Klägers Kenntnis erlangt hatte, leitete sie mit Schreiben vom 23. Juni 2005 Ermittlungen im Hinblick auf das Vorliegen einer Berufskrankheit ein. In seinem unter dem 6. Juni 2007 erstatteten Gutachten kam der Sachverständige Prof. Dr. K., W-Stadt, zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine Hypästhesie der Fingerspitzen sowie beider Füße sockenförmig bis zum distalen Unterschenkeldrittel mit Hypoglasie, Thermhypästhesie und Pallhypästehsie sowie eine Lagesinnstörung vorliege, der Achillessehnenreflex sei beidseitig erloschen. Bei Gangprüfungen habe eine ausgeprägte Unsicherheit mit Fallneigung bestanden. Es lägen Hinweise auf eine vorwiegend sensible Polyneuropathie vor, bei der der elektrophysiologische Befund für das Vorliegen einer leichten demyelinisierenden Polyneuropathie spreche, wobei die entsprechende Untersuchung allerdings auf Wunsch des Klägers habe abgebrochen werden müssen. Der aktenkundige Befund einer axonalen Neuropathie habe sich nicht bestätigen lassen. Daher liege eine Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung, vorbehaltlich neurer Erkenntnisse im Hinblick auf die Verursachung einer demyelinisierenden Polyneuropathie, nicht vor. Daraufhin lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1303 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger beschäftigungsbedingt nicht mit neurotoxischen Lösungsmitteln im Sinne der Berufskrankheit Nr. 1317 in Kontakt gekommen sei. Das eingeholte Zusammenhangsgutachten habe einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Tonerstäuben und den bei dem Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht belegt. Das Krankheitsbild im Sinne der Berufskrankheit Nr. 1303 sei nicht gegeben. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2008 zurück. Im Wesentlichen führte sie zur Begründung aus, dass der Kläger keinen berufsbedingten Kontakt mit Benzol oder Styrol gehabt habe, so dass es an den Voraussetzungen einer Berufskrankheit Nr. 1317 fehle. Für die Berufskrankheit nach Nr. 1303 liege nicht das erforderliche Krankheitsbild vor.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 1. Dezember 2008, der am selben Tag bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, hat der Kläger Klage erhoben und verfolgt sein Begehren auf Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit weiter. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, täglich ca. 8.000 bis 15.000 Kopien angefertigt zu haben und dabei mit Tonerstäuben in großem Ausmaß in Kontakt gekommen zu sein. Diese hätten zu der bei ihm diagnostizierten Polyneuropathie geführt. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat der Kläger die Ergebnisse der an der Universität Freiburg im Breisgau von Mersch-Sundermann et. al. durchgeführten "Untersuchungen zur genetischen Toxizität von Emissionen aus Laserdruckern in A549-Zellen im Vitrocell®-Transwell-Eypositionsysstem" sowie weitere Veröffentlichung zur Toxizität von Tonerstüben zur Akte gereicht.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte zu verurteilten, unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Juni 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2008 bei dem Klägers das Vorliegen einer Berufskrankheit gem. Nr. 1303 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und Entschädigungsleistungen nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat von Amts wegen Ermittlungen eingeleitet. Ausweislich des durch den Hersteller der von dem Kläger im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit bedienten Kopiergeräte übersandten Umweltdatenblatt zu diesen Geräten emittieren diese neben Ozon und Staub auch Styrol. Weiterhin hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlich-psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. S., das dieser Berücksichtigung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens des Dipl.-Psychologen Dr. H. vom 28. August 2011 mit Datum vom 16. November 2010 erstattet und durch eine weitere Stellungnahme vom 29. März 2011 ergänzt hat. Der Sachverständige Dr. S. kommt darin zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine demyelinisierende Polyneuropathie vorliege, während eine axonale Verlaufsform sich allenfalls im Ansatz nachweisen lasse. Daher könne ein Zusammenhang zwischen der Styrolexposition des Klägers und der diagnostizierten Polyneuropathie zwar nicht ausgeschlossen werden, er sei jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen. Das Vorliegen einer Enzephalopathie bei dem Kläger könne ausgeschlossen werden.
Weiterhin hat die Kammer zwei zusätzliche gutachterliche Stellungnahmen nach Aktenlage eingeholt betreffend die Frage des Schädigungsbildes einer durch Lösungsmittel verursachten Polyneuropathie. Der Sachverständige Dr. K. kommt unter dem 29. September 2012 zu dem Ergebnis, dass nach "klassischer Lehrmeinung" organische Lösungsmittel Polyneuropathien vom axonalen Typ mit zum Teil sekundärer Demyelinisierung verursachten. Die neuere wissenschaftliche Literaturlage sei allerdings im Hinblick auf die Frage des Schädigungsbildes nach Lösemittelexposition "nicht befreidigend". Letztlich sei es nicht zutreffend, dass bei lösemittelbedingter Polyneuropathie stets axonale Nervenschäden vorlägen, vielmehr könnten "gleichzeitig" auch demyelinisierende Schäden vorhanden sein. Es lägen neuere wissenschaftliche Erkenntnisse dafür vor, dass hochlipophile Lösemittel wie Toluol eine demyelinisierende Polyneuropathie vervorrufen könnten. Der Wirkmechanismus sei aber noch unbekannt.
Der Sachverständige Prof. Dr. V. bestätigt in seiner am 26. Juli 2011 bei Gericht eingegangen Stellungnahme, dass Lösungsmittel am Häufigsten Schäden der Axone peripherer Nerven verursachten, während Schäden der Myelinscheiden sekundär aufträten. Bisher gelte es als unwahrscheinlich, dass Lösungsmittel solche Schäden primär erzeugten ohne Beteiligung des Axons. Allerdings fänden sich Einzelfälle, in denen nach Lösemittelexposition eine periphere Neuropathie vom Markscheidentyp festgestellt worden sei. Aktuell lägen keine beweisenden Daten dafür vor, dass Lösemittel nur zu einer demyelinisierenden Polyneuropathie führen könnten. Die bisher beschriebenen Einzelfälle seien insofern wissenschaftlich nicht beweisend.
Das Gericht hat ferner die Verfahrensakte des VG R-Stadt – xxxxx – beigezogen und das darin enthalten Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Z. vom 14. September 2009 im Wege des Urkundenbeweises verwertet.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen, hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die vorbezeichneten Sachverständigengutachten und -stellungnahmen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1317 oder 1303 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung. Daher erweisen sich die angegriffenen Bescheide als rechtmäßig.
Die Kammer weist vorab darauf hin, dass vorliegend keine Entscheidung über die (allgemeine) Toxizität von Tonerstaub zu treffen war. Vielmehr kam es im Hinblick auf die in Streit stehenden Berufskrankheiten allein darauf an, ob der Kläger infolge des Kontaktes mit Lösungsmitteln an einer konkreten Erkrankung leidet. Ob die Tonerstaubexposition als solche zu einer Gesundheitsbeschädigung bei dem Kläger geführt hat, war daher nicht Gegenstand der gerichtlichen Ermittlungen oder der erfolgten Entscheidungsfindung. Denn vorliegend war allein die Frage zu beantworten, ob eine Berufskrankheit vorliegt. Dabei sind Berufskrankheiten solche Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII genannten Tätigkeiten erleidet (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ist eine Berufskrankheit die "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische".
Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK 1317 müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muss eine Polyneuropathie (oder Enzephalopathie) vorliegen, die durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische entstanden ist, deren Einwirkungen die Versicherte in Folge ihrer versicherten Tätigkeit ausgesetzt war. Dabei ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung erforderlich. Die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein, während für den ursächlichen Zusammenhang, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht (BSG, Urteil vom 22. August 2000, SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2 m.w.N.).
Der Kläger ist nach den eingeholten sachverständigen Einschätzungen an einer Polyneuropathie erkrankt. Gleichzeitig war er während seiner versicherten Tätigkeit dem Lösungsmittel Styrol ausgesetzt, das Bestandteil der Emissionen derjenigen Kopiergeräte war, die der Kläger während seiner versicherten Tätigkeit als Beschäftigter bedient und sich daher im Einwirkungsbereich dieser Emissionen aufgehalten hat. Dies ergibt sich ohne Weiteres aus dem Umweltdatenblatt, das der Hersteller der Kopiergeräte des Modells YYY, die ÜÜ. Deutschland GmbH, mit Datum vom 23. Februar 2010 dem Gericht übersandt hat. Insofern ist für die Kammer in keiner Weise nachvollziehbar, wie die Beklagte noch im hier angegriffenen Widerspruchsbescheid die Auffassung vertreten konnte, der Kläger habe während seiner versicherten Tätigkeit "keinen Umgang mit derartigen Stoffen" gehabt. Eine bloße Nachfrage bei dem Geräte-Hersteller hätte die Fehlerhaftigkeit dieser Feststellung belegt.
Allerdings lässt sich die notwendige Kausalbeziehung zwischen der beruflichen Exposition des Klägers gegenüber dem Lösungsmittel Styrol und der bei ihm vorliegenden Polyneuropathie nicht mit der notwendigen, insoweit hinreichenden Wahrscheinlichkeit belegen. Dies wiederum beruht auf dem Fehlen eines Schadensbildes der Polyneuropathie, das nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen dann zu diagnostizieren ist, wenn eine solche Polyneuropathie durch Lösungsmittel verursacht ist.
Anhand der folgenden Darstellung lässt sich der Aufbau eines Neurons nachvollziehen:
(Grafikdarstellung nicht möglich)
Dabei findet sich ein vom Zellkörper weg leitender Fortsatz der Nervenzelle, der so genannte Achsenzylinder (das Axon). Dieses Axon ist umgeben von einer isolierenden Schicht aus Lipiden, Protein und Wasser, dem Myelin, das im Hinblick auf das Axon die so genannte Myelinscheide bildet, die ihrerseits im Abstand von ca. 1 mm durch Ranvier-Schnürringe unterbrochen wird (vgl. hierzu die Erläuterungen zu den verwendeten Stichwörtern Pschyrembel®, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl., 2004).
Wie bereits der Sachverständige Prof. Dr. K. im Verwaltungsverfahren hat auch der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. S. ausgeführt, dass nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand eine durch Lösemittel verursachte Polyneuropathie primär zu Schädigungen des Axons selbst führen und – wenn überhaupt – erst sekundär zu Schäden an der Myelinscheide.
Die zur Verifikation dieser Prämisse herangezogenen Sachverständigen Dr. K. und Prof. Dr. V. haben diese Ausgangsthese im Ergebnis bestätigt. Insbesondere hat der Sachverständige Prof. Dr. V. ausgeführt, dass keine beweisenden Daten vorliegen, denen zufolge Lösungsmittel zu einer nur demyelinisierenden Polyneuropathie führen können; vorliegende Beschreibungen von solchen Krankheitsbildern infolge von Lösungsmittelexposition besäßen nur Einzelfallcharakter und könnten keinen wissenschaftlichen Beweis liefern.
Der Sachverständige Dr. K. bestätigt diesen Befund insofern, als die aktuelle Literaturlage unbefriedigend sei, da offensichtlich eine eindeutige Aussage nicht getroffen werden könne. Er bestätigt dabei zunächst Umstand, dass nach klassischer Lehrmeinung Lösungsmittel zu einer Polyneuropathie vom axonalen Typ mit zum Teil sekundärer Demyelinisierung führten.
Dr. K. verweist allerdings auf die im Jahr 2010 der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg vorgelegte Dissertation von Hannes Lücking, Enzephalopathie und Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel – Review aktueller Literatur und Patientenuntersuchung am Institut für Arbeitsmedizin der Universität Erlangen, der auf S. 74 ff. ausführt:
"Die Pathologie der PNP beruht nach Aussage mehrerer Studien im Wesentlichen auf zwei verschiedenen Mechanismen: zum einen kommt es durch Einlagerung der lipophilen Lösungsmittel in die Myelinscheiden der Nerven zu akuten Beeinträchtigungen mit verminderter NLG. Zum anderen findet sich, vermutlich durch eine Konformationsänderung von Proteinen, eine Ansammlung von Neurofilamenten mit resultierender Schädigung der Axone. Der Beginn der Schädigung liegt meist distal und schreitet nach proximal fort, was einer distalen, symmetrischen sensiblen (später sensomotorischen) PNP entspricht.
Periphere Nervenschäden lassen sich v. a. mit der Elektroneurographie gut objektivieren. Von Vorteil ist dabei die Möglichkeit der objektiven Verlaufskontrolle und die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Individuen bzw. mit bekannten Normwerten. Klinisch fallen v. a. Parästhesien und Schwäche der distalen Extremitäten auf sowie Reflexabschwächungen oder -verluste und Störungen des Vibrationsempfindens auf. Elektroneurographisch kommt es zu einer Verminderung der NLG als Zeichen der Schädigung der Myelinisierung und zu einer Abnahme der Potentialamplitude als Zeichen der axonalen Schädigung.
Es zeigte sich, dass die NLG schon in frühen Stadien der Erkrankung pathologische Befunde zeigt. Die Verlaufskontrolle mittels NLG konnte auch belegen, dass kurzfristige Expositionsfolgen reversibel sind, bei einer langjährigen Exposition, insbesondere wenn diese über 30 Jahre dauerte, jedoch mit einem Fortbestehen der Symptomatik zu rechnen ist, nicht aber mit einer Progredienz."
Dr. K. schließt daraus, dass zumindest lipophile Lösemittel mit den aus Lipiden bestehenden Myelinscheiden interagieren und hier zu spezifischen Schäden in Form der Demyelinisierung führen können. Allerdings berichtet auch Lücking von einer parallel vorliegenden axonalen Schädigung.
Vor diesem Hintergrund geht die Kammer davon aus, dass aktuell (noch) ein Erkenntnisstand der wissenschaftlichen Forschung dahingehend anzunehmen ist, dass bei einer durch Lösemittel verursachten Polyneuropathie primär axonale Schäden auftreten, die von einer Demyelinisierung begleitet werden können. Diese kann nach den Erkenntnissen von Lücking, der selbst aber nur eine Literaturauswertung ohne eigene empirische Untersuchung vorgenommen hat, auch bereits frühzeitig einsetzen und nicht erst zwingend nach einer längeren Exposition, die (deutlich) vor der Schädigung der Myelinscheide zu axonalen Schäden führt. Eine reine oder weithin primäre Demyelinisierung ohne Schädigung des Axons durch Lösemittel kann aber wissenschaftlich nicht belegt werden. Die auch seitens des Sachverständigen Prof. Dr. V. bezeichneten Einzelfälle lassen nach Überzeugung der Kammer in Übereinstimmung mit dessen Wertung nicht die Schlussfolgerung zu, dass eine alleinige oder weithin primäre Schädigung der Myelinscheide ohne Beteiligung des Axons Folge einer Lösemittelexposition sein könnte.
Ausgehend von dieser naturwissenschaftlichen Prämisse kann ein kausaler Zusammenhang zwischen der Exposition des Klägers gegenüber Styrol als Bestandteil von Tonerstaub und der bei ihm vorliegenden Polyneuropathie nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Denn wie bereits der Sachverständige Prof. Dr. K. im Verwaltungsverfahren hat auch der Sachverständige Dr. S. gerichtlichen Verfahren festgestellt, dass der Kläger an einer im "überwiegenden Umfang" demyelinisierenden Polyneuropathie leidet. Ein axonaler Umbau in der Muskulatur hat sich demnach bei ihm "allenfalls im Ansatz" nachweisen lassen. Ein Schädigungsmuster im Axon sei nicht zu belegen gewesen.
Damit fehlt es an einem solchen Schadensbild, wie es für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Lösemittelexposition des Klägers und der Polyneuropathie erforderlich wäre. Daher kann eine solche der gerichtlichen Entscheidung nicht zugrund gelegt werden.
Soweit aus dem Befundbericht des den Kläger behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. Y. vom 9. August 2005 hervorgeht, dass eine "eindeutige axonale Veränderung" bei dem Kläger nachweisbar sei, folgt die Kammer dem aufgrund der sachverständigen Feststellung nicht.
Auch eine lösungsmittelbedingte Enzephalopathie liegt nicht vor. Dieses Krankheitsbild konnte der Sachverständige Dr. S. unter Berücksichtigung des eingeholten Zusatzgutachtens ausschließen, ohne dass seitens der Kammer an dieser Bewertung Zweifel bestünden oder seitens des Klägers vorgetragen worden wären.
Scheidet damit die Anerkennung der Polyneuropathie des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung aus, kommt auch eine solche nach Nr. 1303 nicht in Betracht, da insoweit ein Spezialitätsverhältnis besteht und die Berufskrankheit nach Nr. 1303 sonstige Schäden durch Halogenkohlenwasserstoffe oder Benzol, seine Homologe oder Styrol erfasst, die hier nicht in Rede stehen (vgl. HessLSG, Urt. v. 6.7.2007 – L 7 U 8/06 – juris Rn. 53).
Trotz der erheblichen Gesundheitsstörungen, bezüglich derer der Sachverständige Dr. S. jegliche Simulation oder Aggravation seitens des Klägers ausgeschlossen hat, kann bezüglich der hier streitgegenständlichen Erkrankungen letztlich keine Entschädigungspflicht der Beklagten festgestellt werden. Ob der Kläger generell infolge seiner Belastung mit Tonerstaub über die Feststellungen der Kammer im Urteil vom 22. September 2009 (4 U 119/06 – juris) hinaus (entschädigungspflichtige) Gesundheitsschäden erlitten hat, muss daher weiter offenbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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