S 4 R 405/10

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 405/10
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 12/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 05.01.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 wird insoweit aufgehoben, als der darin geforderte Erstattungsbetrag hinsichtlich des Zeitraumes vom 01.07.1994 bis 31.12.2003 den Betrag von 40.990,82 Euro übersteigt.

Der Bescheid vom 07.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 wird insoweit aufgehoben, als darin der Bescheid vom 17.06.2004 hinsichtlich der Rentenhöhe für die Zeit vom 01.01.2004 bis 31.01.2010 aufgehoben worden ist.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rückforderung von Hinterbliebenenrente.

Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 23.07.1987 die Gewährung von Hinterbliebenenrente. Dabei gab sie an, kein Erwerbseinkommen zu haben. Durch Bescheid vom 12.08.1987 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab dem 08.06.1987 Hinterbliebenenrente. Durch Bescheid vom 17.06.2004 berechnete die Beklagte die Hinterbliebenenrente der Klägerin neu und gewährte ihr für die Zeit ab dem 01.08.2004 monatlich 717,63 Euro Hinterbliebenenrente. Am 10.11.2009 erkundigte sich die Klägerin bei der Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten nach der Höhe ihrer späteren Altersrente. Dabei kam zur Sprache, dass die Klägerin bereits am 01.03.1988 eine Beschäftigung aufgenommen hatte, aufgrund derer sie Erwerbseinkommen erzielte. Durch Bescheid vom 05.01.2010 berechnete die Beklagte die Hinterbliebenenrente der Klägerin für die Zeit vom 01.07.1994 bis 31.01.2010 neu. Gleichzeitig hob sie den Bescheid vom 12.08.1987 hinsichtlich der Rentenhöhe gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) ab dem 01.07.1994 auf und forderte von der Klägerin gemäß § 50 SGB X einen Betrag in Höhe von 85.994,11 Euro zurück. Hiergeben erhob die Klägerin mit der Begründung Widerspruch, sie habe mit Schreiben vom 09.04.1994 der Beklagten die Änderung ihrer Einkommensverhältnisse zum 01.02.1994 mitgeteilt. Durch Bescheid vom 07.09.2010 hob die Beklagte den Bescheid vom 17.06.2004 hinsichtlich der Rentenhöhe für die Zeit gemäß § 45 SGB X ab dem 01.01.2004 auf. Durch Widerspruchsbescheid vom 19.08.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Durch bestandskräftigen Bescheid vom 20.08.2010 berechnete die Beklagte die Hinterbliebenenrente der Klägerin für die Zeit ab dem 01.07.2010 unter entsprechender Anrechnung ihres Erwerbseinkommens neu.

Am 10.12.2010 hat die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vortrags im Verwaltungsverfahren Klage erhoben.

Die Klägerin beantragt,
die Bescheide vom 05.01.2010 und 07.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 insoweit aufzuheben, als darin die Bescheide vom 12.08.1987 und 17.06.2004 hinsichtlich der Rentenhöhe für die Zeit vom 01.07.1994 bis 31.01.2010 aufgehoben worden sind und die Erstattung eines Betrages in Höhe von 85.994,11 EUR gefordert worden ist.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vom 19.08.2010. Ein Schreiben vom 09.04.1994, durch das die Klägerin nach ihrem Vortrag ihre geänderten Einkommensverhältnisse zum 01.02.1994 mitgeteilt haben will, sei bei ihr nicht eingegangen. Im Übrigen sei die Aufnahme der Beschäftigung bereits am 01.03.1988 erfolgt, worüber die Klägerin keine Mitteilung gemacht habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Klage ist in dem Umfang des Tenors begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

Der Bescheid vom 05.01.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 ist insoweit rechtmäßig, als durch ihn der Bescheid vom 12.08.1987 hinsichtlich der Rentenhöhe gemäß § 48 SGB X ab dem 01.07.1994 bis zum 31.12.2003 aufgehoben worden ist.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Sofern der ursprüngliche Verwaltungsakt rechtmäßig ergangen ist, ist eine Änderung regelmäßig dann "wesentlich" im Sinne dieser Vorschrift, wenn durch sie dem ursprünglich erlassenen Verwaltungsakt nachträglich die Rechtsgrundlage entzogen wird. Daher sind in der Regel alle Änderungen wesentlich, die dazu führen, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht hätte erlassen dürfen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1986 - 7 RAr 55/84 -). Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand des materiellen Rechts. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse - also rückwirkend - aufgehoben werden, soweit

1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Vorliegend lässt sich die rückwirkende Aufhebung jedenfalls auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 SGB X stützen.

Die Klägerin erzielte mit Aufnahme ihrer Erwerbstätigkeit zum 01.03.1988 Einkommen, das jedenfalls ab 01.07.1994 - zum Wegfall des Anspruchs führte.

Sie war zudem verpflichtet, der Beklagten die Aufnahme ihrer Erwerbstätigkeit mitzuteilen. Diese Pflicht ergab sich aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch Allgemeiner Teil - (SGB I). Danach hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen. Das gilt selbst dann, wenn die mitzuteilenden Änderungen dem Leistungsträger- bekannt sein sollten (vgl. BSG, Urteil vom 29. November 1989 - 7 RAr 138/88 -). Dieser ihr obliegenden Mitteilungspflicht ist die Klägerin nicht nachgekommen. Sie nahm bereits zum 01.03.1988 eine Erwerbstätigkeit auf, ohne die Beklagte darüber zu informieren. Soweit die Klägerin vorträgt, sie habe mit Schreiben vom 09.04.1994 der Beklagten die Änderung ihrer Einkommensverhältnisse zum 01.02.1994 mitgeteilt, kann sie jedenfalls den Nachweis darüber nicht führen, dass ein solches Schreiben bei der Beklagten eingegangen ist. Im Übrigen lässt ihr Vortrag offen, warum sie die Änderung ihrer Einkommensverhältnisse, die bereits zum 01.03.1988 eingetreten war, der Beklagten nicht mitteilte. Die Verletzung ihrer Mitteilungspflichten ist der Klägerin auch subjektiv vorwerfbar. Es sind zwar keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sie die Mitteilung gegenüber der Beklagten vorsätzlich unterließ. Der Klägerin kann insoweit jedoch zumindest grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Grob fahrlässig handelt nach der Legaldefinition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Dies ist dann der Fall, wenn der Betroffene bereits einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und das nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -; BSG, Urteil vom 11. Juni 1987 - 7 Rar 105/85). Bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit ist nicht von einem objektiven, sondern von einem subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab auszugehen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Februar 2006 - B 7a AL 58/05 -), wobei sich das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit sowie dem Einsichtsvermögen des Beteiligten richtet. Grobe Fahrlässigkeit liegt nur im Falle einer Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes vor, das heißt, es bedarf hierfür einer besonders groben und auch subjektiv schlechthin unentschuldbaren Pflichtverletzung. Die so umschriebene Sorgfaltspflichtverletzung muss sich sowohl auf das Bestehen der Mitteilungspflicht beziehen als auch auf das sie auslösende Ereignis (vgl. Steinwedel, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 71. Erg.-Lfg 2011, § 48 SGB X, Rn. 43). Bei § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X ist es vor allem auch bedeutsam, in welchem Umfang der Beteiligte bei der Bewilligung einer Dauerleistung auf eine Mitteilungspflicht hingewiesen worden ist (vgl. Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 48, Rn. 23). Ausgehend von diesen Grundsätzen stellt sich die unterbliebene Mitteilung der Klägerin hinsichtlich der Veränderung ihrer Einkommenslage zum 01.03.1988 als grob fahrlässig dar. Anknüpfungspunkt hierfür ist, dass die Klägerin anlässlich der Gewährung der Hinterbliebenenrente von der Beklagten eindeutig und in hinreichend verständlicher Form auf ihre Mitteilungspflichten gegenüber dem Rentenversicherungsträger hingewiesen worden war. Dies wird nicht zuletzt durch den eigenen Vortrag der Klägerin bestätigt, wonach sie ihrer Mitteilungspflicht jedenfalls hinsichtlich der Änderung ihrer Einkommensverhältnisse zum 09.04.1994 nachgekommen sein will. Nicht nur vor diesem Hintergrund bestehen für die Kammer zudem keine Zweifel daran, dass die Klägerin in Bezug auf das die Mitteilungspflicht auslösende Ereignis - die Änderung ihrer Einkommensverhältnisse - Kenntnis hatte.

Somit sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 SGB X erfüllt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bedeutet das "soll" in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X, dass der Rentenversicherungsträger den Verwaltungsakt - so wie hier - im Regelfall ("typischer Fall") rückwirkend aufzuheben hat. Nur in Ausnahmefällen ist eine Ermessenentscheidung darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang von der gegebenen Aufhebungsmöglichkeit abgesehen werden kann. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X enthält damit nicht für alle, sondern nur für "atypische" Fälle eine Verpflichtung zur Ermessensausübung. Die Prüfung, ob ein solcher "atypischer Fall" vorliegt, ist nicht Teil der Ermessensentscheidung, sondern gerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar. Das Gericht darf den angefochtenen Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufheben, wenn die Prüfung ergibt, dass ein "atypischer Fall" gegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 25. April 1991 - 11 RAr 21/89 -). Wann ein "atypischer Fall" vorliegt, in dem die Behörde eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen hat, ob der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung rückwirkend aufgehoben wird, hängt von dem jeweiligen Zweck der Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X und den Umständen des Einzelfalles ab. Diese müssen vom (typischen) Regelfall signifikant zum Nachteil des Betroffenen abweichen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1986 - 7 RAr 55/84 -). Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn der Leistungsempfänger durch die mit der Aufhebung verbundenen Nachteile, insbesondere die aus § 50 Abs. 1 SGB X folgende Pflicht zur Erstattung der erbrachten Leistungen, in besondere Bedrängnis gerät, wenn er sonst für den von der Rücknahme betroffenen Zeitraum Anspruch auf eine andere Sozialleistung, etwa auf Sozialhilfe gehabt hätte (vgl. BSG, Urteil vom 12. September 1984 - 4 RJ 79/83 -) oder wenn er entreichert ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 1983 - 10 RKg 17/82 -). Auch ein Verschulden des Rentenversicherungsträgers weist regelmäßig auf einen "atypischen Fall" hin. Ein "atypischer Fall" kann ferner gegeben sein, wenn ohne ein Verschulden des Rentenversicherungsträgers besondere Umstände vorliegen, welche die Aufhebung für die Vergangenheit als unbilligen Eingriff in die persönlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen erscheinen lassen. Im Rahmen der Prüfung, ob ein "unbilliger" Eingriff gegeben ist, können vor allem das Lebensalter des Betroffenen, dessen soziale Verhältnisse und Familienstand, der Gesundheitszustand (Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit des Betroffenen) sowie der konkrete Verwendungszeck der zu Unrecht erhaltenen Leistung von Bedeutung sein. Nach Lage des Einzelfalles können sich weitere Umstände - insbesondere aus der Anhörung - ergeben, wobei auch ein Zusammenwirken mehrerer Umstände denkbar ist, die erst in einer Gesamtschau einen "atypischen Fall" begründen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist vorliegend ein "atypischer Fall" zu verneinen. Die mit jeder Erstattung verbundene finanzielle Belastung ist für sich genommen nicht geeignet, einen "atypischen Fall" zu begründen. Die hiermit einhergehende Härte mutet das Gesetz jedem Betroffenen zu, weil dies dem Rechtsgrundsatz der unbeschränkten Vermögenshaftung entspricht. Dass die Klägerin im Vergleich zu anderen Betroffenen durch die mit der Aufhebung verbundene Erstattungspflicht schwerwiegender getroffen wäre und hierdurch in eine "besondere Bedrängnis" im Sinne der vorstehenden Rechtsprechung geraten würde, hat sie weder aufgezeigt noch ist dies sonst ersichtlich geworden. Es bleibt damit festzuhalten, dass die Beklagte mangels Vorliegens eines "atypischen Falles" nicht gehalten war, hinsichtlich der rückwirkenden Aufhebung der Höhe der Hinterbliebenenrente Ermessen auszuüben.

Im Übrigen hat die Beklagte die Gewährung der Hinterbliebenenrente auch fristgerecht gemäß § 48 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X aufgehoben. Nach diesen Vorschriften muss die Behörde den Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres nach Kenntnis der dies rechtfertigenden Tatsachen aufheben. Kenntnis bedeutet dabei die hinreichende Sicherheit für den Erlass eines Rücknahmebescheides (vgl. BSG, Urteil vom 25. Januar 1994 - 7 RAr 14/93 -). Da dies vorliegend erst am 10.11.2009 der Fall war, ist der Bescheid der Beklagten vom 05.01.2010 offenkundig fristgerecht ergangen.

Die Erstattung der zu Unrecht erbrachten Hinterbliebenenrente stützt sich auf § 50 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Der Bescheid vom 05.01.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 ist insoweit rechtmäßig, als die Beklagte von der Klägerin für den Zeitraum vom 01.07.1994 bis 31.12.2003 einen Betrag in Höhe von 40.990,82 Euro zurückgefordert hat.

Der Bescheid vom 07.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 ist rechtswidrig. Es kann dahinstehen, ob die Klägerin zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, da die Beklagte jedenfalls von ihrem ihr durch § 45 SGB X eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat. Liegen die Rücknahmevoraussetzungen nach Maßgabe der Absätze 1 bis 4 vor, "darf" nach Absatz 1 der rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakt ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Dadurch ist Rücknahmeermessen eröffnet (vgl. u. a. BSGE 66, 204), soweit sich nicht gemäß § 37 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB l) aus den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuches Abweichendes ergibt und die Ermessensausübung ausgeschlossen ist. Für eine fehlerfreie Ermessensentscheidung ist es gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I erforderlich, dass der Verwaltungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung (überhaupt) ausübt und dass er im Übrigen auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält. Der gemäß § 39 Abs. 1 SGB I von der Ermessensentscheidung Betroffene hat einen korrespondierenden Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB l). Nur in diesem eingeschränkten - Umfang unterliegt nach Maßgabe des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG die Ermessensentscheidung einer gerichtlichen Kontrolle. Rechtswidrig können Verwaltungsakte demnach nur in Fällen des Ermessensfehlgebrauchs (entweder in Gestalt des Ermessensnichtgebrauchs oder in Gestalt der Ermessensüberschreitung) sein (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 1994 - 4 RA 42/94 -). Die Frage, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung ergangen ist und ob diese gegebenenfalls rechtmäßig war, beurteilt sich dabei nach dem Inhalt des Aufhebungsbescheides, insbesondere nach seiner Begründung. Diese muss erkennen lassen, dass eine Ermessensentscheidung getroffen wurde, und sie muss darüber hinaus grundsätzlich auch diejenigen Gesichtspunkte aufzeigen, von denen der Verwaltungsträger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (vgl. BSG, Urteil vom 25. Januar 1994 - 7 RAr 14/93 -; BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990 - 11 RAr 3/88 -). Der Bescheid vom 07.09.2010 leidet insoweit an einem Ermessensfehler, als die Beklagte von ihrem Ermessen schlicht gar keinen Gebrauch gemacht hat. Der Bescheid vom 07.09.2010 enthält lediglich folgende Regelung: " in Ergänzung unseres Bescheides vom 05.01.2010 teilen wir Ihnen mit, dass der Bescheid vom 17.06.2004 mit Wirkung ab 01.01.2004 gemäß § 45 des Zehntes Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) hinsichtlich der Rentenhöhe aufgehoben wird. Auswirkungen auf die bereits ermittelte Überzahlungshöhe ergeben sich hierdurch nicht". Eine Begründung, aus der die Ermessenserwägungen der Beklagten hervorgehen könnten, enthält der Bescheid nicht. § 45 SGB X fordert aber gerade eine Ermessensentscheidung. Der Widerspruchsbescheid vom 19.08.2010 leidet insoweit an einem Ermessensfehler, als die Beklagte annimmt, es könne im Rahmen des Ermessens nur in Ausnahmefällen von einer Rücknahme von Bewilligungsbescheiden abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen für einer Rücknahme vorlägen. Dies wird aber der von § 45 Abs. 1 SGB X geforderten Ermessensentscheidung nicht gerecht. Der angefochtene Bescheid vom 07.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 lässt nicht erkennen, dass sich die Beklagte überhaupt bewusst war, auch bei fehlendem Vertrauensschutz auf Seiten des Rentenempfängers einen Ermessensspielraum zu haben. Selbst in Fällen der Bösgläubigkeit des durch den Verwaltungsakt Begünstigten ist eine Ermessensbetätigung im Rahmen von § 45 SGB X nicht von vornherein ausgeschlossen. Andernfalls bedürfte es keiner einschränkenden Spezialregelungen wie etwa § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III), wonach im Falle der Bösgläubigkeit eine gebundene Rücknahmeentscheidung für die Vergangenheit vorzunehmen ist. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Beklagte vorliegend von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen ist, da etwaige Gründe für die Annahme einer solchen Ermessensreduzierung durch die Beklagte in dem Rücknahme-/Widerspruchsbescheid nicht dargelegt sind.

Der Bescheid vom 05.012010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 ist insoweit rechtswidrig, als die Beklagte von der Klägerin einen 40.990,82 Euro übersteigenden Betrag zurückgefordert hat. Die diese Summe übersteigende Betrag betrifft die überzahlte Hinterbliebenenrente in dem Zeitraum vom 01.01.2004 bis 31.01.2010. Da der Bescheid vom 07.09.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 betreffend die bewilligte Hinterbliebenenrente für den Zeitraum vom 01.01.2004 bis 31.01.2010 ermessensfehlerhaft und somit rechtswidrig ist, ist auch die Aufforderung zur Erstattung rechtswidrig und der Bescheid vom 05.01.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2010 insoweit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht in der Quote dem Ausgang des Rechtsstreits.
Rechtskraft
Aus
Saved