L 8 SO 37/12

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 27 SO 76/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 37/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Anspruch des Versicherten gegen den Versicherungsnehmer auf Herausgabe der Versicherungssumme

Ein etwaiger Anspruch einer hilfebedürftigen versicherten Person gegen den Versicherungsnehmer auf Herausgabe der Versicherungssumme aufgrund eines gesetzlichen Treuhandverhältnisses ist kein bereites
Mittel im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII, wenn die Durchsetzung des Anspruchs nur durch weitere, aufwendige rechtliche Schritte realisiert werden kann (hier: Bestellung eines Ergänzungsbetreuers, weil die Versicherungsnehmer die Betreuer des Hilfebedürftigen sind).
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. Januar 2012 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger Aufwendungen für eine Leistung der Eingliederungshilfe zu ersetzen hat.

Der im 1988 geborene Kläger erlitt kurz vor seinem 18. Geburtstag aufgrund eines Kontakts mit einer Starkstromleitung einen Unfall mit Kammerflimmern und Multiorganversagen, in dessen Folge er an einer hypoxischen Hirnschädigung, spastischen Tetraparese und schwersten kognitiven Störungen leidet. Ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die Merkzeichen "G", "aG", "H" und "RF" zuerkannt; er wird von seinen Eltern in mehreren Rechtskreisen, u. a. auch in rechtlichen Angelegenheiten, betreut. Nach Abschluss der stationären Frührehabilitation Anfang 2007 wohnte der Kläger im Elternhaus.

Der Vater des Klägers hatte bereits vor dem Unfall eine Unfallversicherung bei der C. Versicherungs-Aktiengesellschaft (im folgenden: C.) abgeschlossen, bei der der Kläger versicherte Person war (Versicherungsnummer ). Die C. gewährte aufgrund des Unfalls eine Invaliditätsleistung in Höhe von 112.488 EUR, die an den Vater des Klägers als Versicherungsnehmer ausgekehrt wurde. Die Mutter des Klägers wiederum hatte vor dem Unfall eine Unfallversicherung bei der D. Versicherung Aktiengesellschaft (im folgenden: D.) abgeschlossen, bei der der Kläger und dessen Bruder versicherte Person waren (Vertragsnummer ). Die D. gewährte aufgrund des Unfalls des Klägers eine Invaliditätsleistung in Höhe von 30.678 EUR, die an die Mutter des Klägers als Versicherungsnehmerin ausgekehrt wurde. Zahlungen leisteten die Eltern an den Kläger hieraus nicht. Der Kläger selbst verfügte nur über ein Giro- und ein Sparkonto mit einem Guthaben von weniger als 2.000 EUR und eine nicht verwertbare Lebensversicherung.

Im Februar 2007 beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für den Einbau eines Treppenlifts, die nach einem Kostenvoranschlag abzüglich des von der Krankenkasse des Klägers gewährten Festzuschusses 5.843 EUR betragen sollten. Mit Bescheid vom 19.04.2007 gewährte der Beklagte, der für den Kläger zuständige örtliche Sozialhilfeträger, dem Kläger als Leistung der Eingliederungshilfe den Erwerb und Einbau eines Treppenlifts bis zur beantragten Höhe unter dem Vorbehalt des Aufwendungsersatzes. Der Treppenlift wurde zu den projektierten Kosten erworben und am 25.02.2007 eingebaut; der Beklagte übernahm die offenen Kosten.

Mit Bescheid vom 20.01.2009 machte der Beklagte gegenüber dem Kläger einen Aufwendungsersatz in Höhe von 5.843 EUR geltend, weil dieser über verwertbares Vermögen infolge des Zuflusses der Versicherungssummen aus den beiden Unfallversicherungen verfüge. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 05.05.2009).

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) mit Urteil vom 25.01.2012 den Bescheid vom 20.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Versicherungssummen habe, da ihm nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen beider Versicherungsverträge kein Bezugsrecht eingeräumt sei; die Ausübung der Rechte aus den jeweiligen Versicherungsverträgen stehe den Versicherungsnehmern, also dem jeweiligen Elternteil zu.

Gegen das am 29.02.2012 zugestellte Urteil hat der beklagte Landkreis am 29.03.2012 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, dass das SG die versicherungsrechtlichen Vorschriften falsch ausgelegt habe. Die Versicherungssummen stünden nach der Natur des Versicherungsverhältnisses allein dem Kläger zu; die Summen seien ihm auch zugeflossen, da seine Eltern sie nicht in eigenem Namen, sondern als dessen Betreuer empfangen hätten.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. Januar 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter zugestimmt. Der Kläger hat am 10.11.2016 einen in der mündlichen Verhandlung am 2016 geschlossenen Vergleich widerrufen; die Beteiligten hatten sich für den Fall des Widerrufs mit einer Entscheidung ohne erneute mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts-akten beider Rechtszüge und der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung ohne erneute mündliche Verhandlung und allein durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten dem übereinstimmend zugestimmt haben, § 155 Abs. 3 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG. Die Berufung hat sich auch nicht durch den Vergleich vom 03.11.2016 erledigt (§ 101 Abs. 1 Satz 1 SGG), weil der Kläger innerhalb der Widerrufsfrist vom vorbehaltenen Widerrufsrecht Gebrauch gemacht hat.

I.

1. Die Berufung ist zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt wurde (§ 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Sie ist auch statthaft, weil der Beklagte durch das angefochtenen Urteil in Höhe des nicht verwirklichten Aufwendungsersatzes (5.843 EUR) und damit um mehr als 750 EUR beschwert ist, vgl. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.

2. Die Berufung ist aber unbegründet. Das SG hat zu Recht den angefochtenen Bescheid vom 20.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 aufgehoben, weil dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Der Beklagte kann keinen Aufwendungsersatz geltend machen.

Zwar haben Berechtigte, denen Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht wurden, dem Träger der Sozialhilfe die Aufwendungen zu ersetzen, wenn ihnen die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen zuzumuten ist, § 19 Abs. 5 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII). Hier ist dem Kläger zwar durch den Erwerb und den Einbau des Treppenliftes eine Sachleistung erbracht worden; ob die geleistete Hilfegewährung rechtmäßig erfolgte, ist in dem vorliegenden Verfahren wegen der Bestandskraft des Bescheides vom 19.04.2007 nicht inzident zu prüfen (vgl. Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.01.2014 – L 20 SO 222/12 – juris RdNrn. 44ff; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2015 – L 2 SO 5064/14 – juris RdNr. 41; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, § 19 RdNr. 47; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, § 19, RdNrn. 43.1ff mit weiteren Nachweisen). Er selbst verfügte aber über kein Einkommen oder Vermögen, dessen Einsatz ihm zuzumuten war.

Ob der Einsatz eigener Mittel zuzumuten ist, richtet sich nach den nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nach den §§ 82 bis 96 SGB XII (Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, a.a.O., RdNr. 35; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2012 – L 20 SO 63/09 –juris RdNrn. 78ff.). Hierbei ist nur auf die Verhältnisse beim Kläger abzustellen. Denn Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wird nur geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels dieses Buches nicht zuzumuten ist, § 19 Abs. 3 SGB XII. Der Kläger hat weder einen Ehegatten oder Lebenspartnern noch war er im Leistungszeitraum (hier: dem Einbau des Treppenliftes im Februar 2007) noch minderjährig.

a) Der Kläger selbst verfügte über kein nennenswertes Einkommen, dass zum Aufwendungsersatz herangezogen werden könnte. Auch ist ihm ein Beitrag aus seinem Vermögen nicht zuzumuten. Denn das eigene, auf Giro- und Sparkonto liegende Vermögen hat nur einen Wert, der nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b) der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII einer Gewährung von Sozialhilfe nicht entgegensteht.

b) Der Kläger verfügt darüber hinaus über keine weiteren Vermögensgegenstände. Er ist insbesondere nicht Inhaber der Versicherungssummen aus den beiden Unfallversicherungen. Denn diese sind unstreitig an die Eltern auf deren Konto und damit an sie selbst ausgekehrt worden. Dies geschah offensichtlich zur Erfüllung der versicherungsvertraglich vereinbarten Ansprüche gegenüber den jeweils Berechtigten aus dem Versicherungsvertrag. Dies sind aber nach § 12 Abs. 1 Satz 1 der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen für Kinder und Erwachsene mit C. Leistungen (C. AUB 94-UPR) der C. bzw. der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 88) der D. der Versicherungsnehmer, hier also das jeweiligen Elternteil. Der vom Beklagten unterstellte Wille, dass die Versicherungsunternehmen an den Kläger – wenn auch unter Zuhilfenahme der Betreuer – zur Erfüllung von dessen eigenen Ansprüchen leisten wollten, ist gerade nicht festzustellen.

c) Dass dem Kläger als versicherte Person der Unfallversicherungen zumindest Teile der Versicherungssummen zustehen mögen – wie der Beklagte meint –, beruht allenfalls auf einem Anspruch im Rahmen eines gesetzlichen Treuhandverhältnisses gegenüber den Eltern als Versicherungsnehmer (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, vgl. hierzu das Urteil vom 07.05.1975 – IV ZR 209/73 – juris RdNr. 12; Urteil vom 04.04.1973 – IV ZR 130/71 – juris, RdNr. 6; Prölss/Martin, VVG, Vor§51 RdNrn. 10, 15 sowie § 76 RdNr. 1). Dieser Anspruch ist aber – so er denn besteht – zurzeit kein bereites Mittel, auf dass der Kläger verwiesen werden kann. Denn ein Vermögensinhaber muss über das Vermögen, auf das er vor Inanspruchnahme von Sozialhilfe verwiesen wird, verfügen können, was auch ein zeitliches Moment beinhaltet: Der Vermögensinhaber verfügt nicht über bereite Mittel, wenn er diese nicht in angemessener Zeit realisieren kann (Bundessozialgericht, Urteil vom 18.03.2008 – B 8/9b SO 9/06 R – juris RdNr. 15; dass., Urteil vom 25.08.2011 – B 8 SO 19/10 R – juris RdNr. 14). Hier aber besteht die Schwierigkeit, dass der Kläger nur durch seine Eltern als Betreuer rechtlich handeln kann. Diese haben mit der Prozessführung in diesem Verfahren zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht der Auffassung sind, dass sie dem Kläger zur Auskehr auch nur von Teilen der Versicherungssummen verpflichtet sind. Ein etwaiger Anspruch des Klägers gegenüber seinen Eltern ist also nur durch weitere, aufwendige rechtliche Schritte wie der Bestellung eines Ergänzungsbetreuers und eine darauf folgende klageweise Durchsetzung realisierbar, was einer zeitnahen Verwirklichung und damit einer Einstufung als "bereites Mittel" entgegensteht.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

III.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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