L 6 R 312/06

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 27 RA 559/03
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 R 312/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der VEB Rationalisierung und Projektierung Berlin war am 30. Juni 1990 weder ein Betrieb der industriellen Massenproduktion bzw. des Bauwesens noch einem solchen gleichgestellt.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 7. März 2006 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme der Anlage 1 Nr. 1 bis 26 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) die Beschäftigungszeiten vom 13. Oktober 1970 bis zum 30. Juni 1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem und diesen Zeiten tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen hat.

Der 1945 geborene Kläger schloss nach einer Ausbildung zum Facharbeiter sein von März 1966 bis September 1970 durchgeführtes Ingenieurstudium der Elektrotechnik an der Technischen Universität D. erfolgreich als Diplom-Ingenieur des Elektrotechnik, Fachstudienrichtung elektrische Maschinen und Antriebe, ab (Prüfungsurkunde vom 21. Oktober 1970). Vom 13. Oktober 1970 bis 31. Dezember 1971 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und danach bis 31. Dezember 1977 Entwicklungsingenieur im VEB Kombinat Zentronik. Dieser Betrieb ging 1975 im Büromaschinenwerk S. auf. Nach kurzfristigem Einsatz in gleicher Position beim VEB Kombinat R. (1. bis 15. Januar 1978) übte er bis zum 30. Juni 1990 eine Tätigkeit als Fachbauleiter für Elektrotechnik im VEB Rationalisierung und Projektierung B., Betriebsteil W., aus.

Die Eintragung des VEB Rationalisierung und Projektierung B. in das Register der Volkseigenen Wirtschaft erfolgte am 18. Januar 1974 (Vertragsgericht Groß Berlin - HRB 15-6351). Mit Wirkung vom 1. Januar 1987 wurde er dem VEB IFA – Kombinat Personenwagen an- und am 9. Mai 1990 ausgegliedert. Mit Wirkung vom 1. Juli 1990 erfolgte die Umwandlung des VEB Rationalisierung und Projektierung in die r. GmbH B.

Eine Versorgungszusage erhielt der Kläger vor Schließung der Versorgungssysteme nicht. Ab 1. Januar 1986 zahlte er Beiträge zur Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR).

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. September 2002 die Feststellung der Beschäftigungszeiten vom 13. Oktober 1970 bis 30. Juni 1990 als Zugehörigkeitszeit zu einem Zusatzversorgungssystem der Anlage 1 zum AAÜG ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2003).

Das Sozialgericht Gotha hat nach Beiziehung diverser Unterlagen, u.a. der Gründungsanweisung (Gemeinsame Verfügung Nr. 5/73 über die Bildung des VEB Rationalisierung B. vom 21. Dezember 1973), der Arbeitsordnung des VEB Rationalisierung und Projektierung B. vom 15. August 1974, des Auszuges aus dem Register der Volkseigenen Wirtschaft (Amtsgericht Charlottenburg - HRB 15-6351 sowie HRB 34727), des Statuts des VEB Rationalisierung und Projektierung B. vom 22. April 1983 sowie eines Verkaufsprospektes der Nachfolgegesellschaft r. GmbH B. die Klage mit Gerichtsbescheid vom 7. März 2006 abgewiesen.

Zur Begründung hat das Sozialgericht angeführt, dass das AAÜG nicht auf den Kläger anwendbar sei. Er habe weder Versorgungsansprüche und –anwartschaften aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem erworben (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG), noch habe er seine Versorgungsanwartschaft bei einem Ausscheiden aus einem Versorgungssystem verloren, so dass dieser Verlust als nicht eingetreten gelte (§ 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG). Er sei am 1. August 1991, dem Datum des Inkrafttretens des AAÜG, nicht Inhaber einer Versorgungsanwartschaft gewesen; eine Einzelfallentscheidung, durch die ihm eine Versorgungsanwartschaft zuerkannt worden sei, liege nicht vor. Er habe weder eine positive Statusentscheidung der Beklagten erlangt noch eine frühere Versorgungszusage in Form eines bindend gebliebenen Verwaltungsakts. Er sei nicht auf Grund eines Einzelvertrags oder einer späteren Rehabilitationsentscheidung in das Versorgungssystem der zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz einbezogen worden. Der Kläger sei am 1. August 1991 auch nicht Inhaber einer fingierten Versorgungsanwartschaft gewesen, wie sie sich aus der vom Bundessozialgerichts vorgenommenen, erweiternden verfassungskonformen Auslegung des § 1 Abs. 1 AAÜG herleite. Er habe die Voraussetzungen für die (fiktive) Einbeziehung in die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. August 1950 (ZAVO-techInt, GBl. Nr. 93 S. 844) nicht erfüllt. Dies hänge von drei Voraussetzungen ab: Der "Versorgungsberechtigte" müsse eine bestimmte Berufsbezeichnung (persönliche Voraussetzung) und eine der Berufsbezeichnung entsprechende Tätigkeit verrichtet haben (sachliche Voraussetzung) und die Tätigkeit oder Beschäftigung müsse bei einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens oder einem gleichgestellten Betrieb verrichtet worden sein (betriebliche Voraussetzung).

Der VEB Rationalisierung und Projektierung B. sei kein Betrieb der industriellen Massenproduktion (sog. fordistisches Produktionsmodell) bzw. des Bauwesens gewesen. Dies ergebe sich aus dem Statut vom 22. April 1983, wonach er folgende Hauptaufgaben hatte: Aufbau kompletter Industrieanlagen zur Herstellung von Erzeugnissen als Generalauftragnehmer (GAN), Übernahme der Funktion eines Generalprojektanten für ausgewählte Schwerpunktvorhaben, Übernahme von Projektierungsleistungen und Mitwirkung bei der Vorbereitung und Durchführung von Rationalisierungsmaßnahmen, Übernahme von Spezialprojektierungsleistungen, wenn für die Spezialleistungen in der Nomenklatur der GAN und HAN (Hauptauftragnehmer) keine Auftragnehmer registriert bzw. deren Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, Übernahme der Funktion eines Generallieferanten für komplette Anlage, MAK-Bilanzierung der in der Verantwortung des Fondträgerbereiches liegenden Bedarfsträgers. Daher sei der Hauptaufgabenbereich die Planung und Errichtung von Industrieanlagen gewesen, die nicht mit der Produktion von Sachgütern im Sinne der Rechtsprechung des BSG gleichzusetzen sei.

Aus der betriebsinternen Arbeitsordnung ergebe sich nicht anderes. Demnach habe der Betrieb die Funktion eines Generalauftragnehmers für komplette Industrieanlagen zur Herstellung von Erzeugnissen des Industriebereichs Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau wahrgenommen (Nr. 2.1). Dessen Aufgaben seien wie folgt beschrieben (Nr. 2.2.): Koordinierung, Vorbereitung, Projektierung und Realisierung des Aufbaus kompletter Industrieanlagen bei Investitionsvorhaben, die unter zentraler staatlicher Kontrolle stehen, Generalprojektantentätigkeit, Ausführung von Spezialprojektierungsleistungen, Vorbereitung und Durchführung von Realisierungsmaßnahmen und Standardisierungsaufgaben.

Diese Aufgabenstellung entspreche der Grundsatzordnung für die Generalauftragnehmerschaft bei strukturbestimmenden Industrieinvestitionen vom 26. Juni 1968 (GBl. II Nr. 86, S. 677). Nach Ziffer III seien Generalauftragnehmer nach dem Erzeugnisprinzip spezialisierte Finalproduzenten von Industrieanlagen, die für die Entwicklung und Produktion weltmarktfähiger Industrieanlagen verantwortlich seien und auf der Grundlage von Verträgen die Vorbereitung und Durchführung von Investitionsvorhaben sowie den Export von Industrieanlagen übernähmen. Zwar könne der VEB Rationalisierung und Projektierung B. als Finalproduzent kompletter und schlüsselfertiger Industrieanlagen verstanden werden. Er unterfalle aber nicht dem Produktionsbegriff der ZAVO-techInt im Sinne einer industriellen Massenproduktion (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 7. Juli 2005 – Az.: L 2 RA 738/03).

Schließlich sei der vom VEB Rationalisierung und Projektierung B. verfolgte Hauptzweck nicht die Massenproduktion von Bauwerken gewesen sondern die Planung, Projektierung, Vertragsgestaltung, Ausführung und Überwachung der Industrieanlagen inklusive der dazugehörigen Gebäude als Generalauftragnehmer. Soweit der Betriebsteil G. selbst am Bau von Industrieanlagen beteiligt gewesen sein sollte, habe dies dem VEB nicht das Gepräge gegeben.

Mit seiner Berufung trägt der Kläger vor, der VEB Rationalisierung und Projektierung B. sei zu den produzierenden Betrieben im Sinne der Rechtsprechung des BSG zuzuordnen. Eine Trennlinie zwischen unmittelbarer Produktion (Herstellung von Massengütern) und mittelbarer Produktion (Planung und Errichtung von Industrieanlagen zur Herstellung von Massengütern) könne nicht gezogen werden. Er sei als Ingenieur in der DDR als grundsätzlich für eine Zusatzrentenversorgung berechtigt angesehen worden, obwohl seine Berufsgruppe grundsätzlich nicht im unmittelbaren Produktionsbereich tätig gewesen sei. Die Zuerkennung der Zusatzversorgung habe er nicht erhalten, weil er zu keiner Zeit Parteimitglied gewesen sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 7. März 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeiten vom 13 Oktober 1970 bis 30. Juni 1990 als Zugehörigkeitszeit zu dem Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG sowie die während dessen erzielten Entgelte und sonstigen Sachverhalte im Sinne des AAÜG festzustellen und dem Rentenversicherungsträger mitzuteilen, hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid und Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen auf die Gründe des in erster Instanz ergangenen Urteils. Die betriebliche Voraussetzung für die fiktive Einbeziehung des Klägers in das Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz liege nicht vor, weil der VEB Rationalisierung und Projektierung B. am 30. Juni 1990 weder als VEB der industriellen Produktion oder des Bauwesens tätig noch diesen aufgrund der Versorgungsordnung gleichgestellt gewesen sei.

Die Beteiligten haben im Rahmen des vom zuständigen Berichterstatter am 18. September 2006 durchgeführten Termins Gelegenheit zur Erörterung des Sach- und Streitstandes gehabt. Zu den Einzelheiten wird auf die Niederschrift auf Bl. 148 ff. der Gerichtsakte verwiesen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Prozess- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Diese Einverständniserklärung ist immer möglich, auch wenn die Vorinstanz durch Gerichtsbescheid entschieden hat (vgl. Senatsurteil vom 23. Februar 2004 – Az.: L 6 RA 849/03; Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 124 Rdnr. 3a m.w.N.).

In Bezug auf den Hauptantrag sieht der Senat von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil sich die Berufung aus den Gründen des Gerichtsbescheids vom 7. März 2006 als unbegründet erweist (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend weist er darauf hin, dass der VEB Rationalisierung und Projektierung B. am 30. Juni 1990 auch kein Konstruktionsbüro war und somit nicht einem VEB der (industriellen) Produktion nach § 1 Abs. 2 der 2. DB z. ZAVO-techInt versorgungsrechtlich gleichgestellt ist (vgl. BSG, Urteil vom 7. September 2006 – Az.: B 4 RA 39/05 R, nach juris). Konstruktionsarbeiten hatten Fragen der technischen Herstellung (Produktion) von Einzelteilen oder ganzer Anlagen und ihres betrieblichen Einsatzes (bzw. Einsetzbarkeit) zu beantworten; Projektierung befasste sich nicht mit der Lösung derartiger Probleme, sondern setzte sie voraus, um ein technisches (Gesamt-)Konzept zu erstellen, das die optimale Realisierung des Unternehmenszwecks gewährleistete. Hier war die Erstellung eines Gesamtkonzepts - also eine Projektierung - die Aufgabe des VEB Rationalisierung und Projektierung, B. als Generalauftragnehmer und Generallieferant für komplette Industrieanlagen.

Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) liegt gegenüber denjenigen, die mit entsprechender Qualifikation in das Zusatzversorgungssystem einbezogen wurden, nicht vor. Denn der Einigungsvertragsgesetzgeber war nicht gehalten, solche bereits in den Versorgungsordnungen angelegten Ungleichbehandlungen nachträglich zu korrigieren (vgl. BSG, Urteil vom 31. Juli 2002 – Az.: B 4 RA 21/02 R, nach juris). Er durfte an die am 2. Oktober 1990 vorliegenden Versorgungsordnungen im Rahmen der Rentenüberleitung anknüpfen (vgl. BVerfG in BVerfGE 100, S. 138, 193 f).

Der Hilfsantrag ist unbegründet, weil die Klage als Verpflichtungsklage (sog. Bescheidungsklage; vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 54 Rdnr. 20a m.w.N.) bereits unzulässig ist. Die offensichtlich angestrebte Überprüfung einer Ermessensentscheidung (vgl. dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 54 Rdnr. 25 m.w.N.) ist nicht möglich, weil der Beklagten weder ein Ermessen bei der Anwendung des ÄÄÜG eingeräumt ist noch eine entsprechende Ermessenentscheidung vorliegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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