S 10 U 136/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 U 136/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 154/06S
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 07.06.2005 und der Widerspruchsbescheid vom 28.07.2005 werden aufgehoben. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Revision unter Übergehung der Berufsinstanz wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Entziehung der wegen einer Berufskrankheit gewährten Verletztenrente im Wege der Neufeststellung aufgrund geänderter Empfehlungen für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).

Der 1941 geborene Kläger war seit 1956 als Betriebsschlosser bei den S1 in D-S2 in der Teerdestillation tätig und erkrankte im August 1993 an einem Basalzellkarzinom des rechten Nasenflügels. Es wurde im November 1993 in der Universitäts-Hautklinik N entfernt. Entsprechend einem Gutachten des Hautarztes T erkannte die Beklagte beim Kläger "warzige Teerhautveränderungen" als Berufskrankheit (BK) 5102 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung an und bewilligte ihm Rente entsprechend einer MdE um 20 v. H. (Bescheid vom 14.06.1994). In der Folgezeit wurden regelmäßige Kontrolluntersuchungen durchgeführt, die keine neuen karzinomatösen Hautveränderungen aufzeigten. Die letzte Nachuntersuchung erfolgte am 21.03.2005. T stellte in seinem Gutachten vom 04.05.2005 fest, dass sich an der vorliegenden Teerhauterkrankung nichts geändert habe. Eine wesentliche Besserung sei nach den neuen Richtlinien zur Bewertung der MdE von M u.a. (ASU 2004, 450) aber in der nunmehr 11-jährigen Rezidivfreiheit zu sehen und die MdE sei mit unter 10 v. H. zu bewerten. Daraufhin entzog die Beklagte mit Bescheid vom 07.06.2005 die Rente. Den dagegen vom Kläger eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.2005 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 18.08.2005 erhobene Klage. Nach Ansicht des Klägers ist eine zur Rentenentziehung berechtigende wesentliche Änderung nicht eingetreten.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 07.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ihrer Ansicht nach ist eine wesentliche Änderung darin zu sehen, dass nach 11 Jahren ohne Rezidiv eine Stabilisierung des Gesundheitszustands einschließlich der mit einer Krebserkrankung regelmäßig auftretenden psychosomatischen Probleme eingetreten ist. Unter Berücksichtigung des Aspektes der Genesungszeit sei jetzt von einer dauerhaften Besserung des Gesundheitszustands auszugehen. Die Beklagte legt eine Stellungnahme von Ml vom 21.12.2005 vor, in der die Historie der MdE-Bewertung bei der BK 5102 kurz zusammenfasst ist und beruft sich auf das Urteil des BSG vom 22.06.2004 (B 2 U 14/03 R).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten. Alle diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. Sie ist auch in der Sache selbst begründet. Die angefochtene Verwaltungsentscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und der Kläger ist dadurch im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Zu Unrecht hat die Beklagte die dem Kläger zugesprochene Rente mit Bescheid vom 07.06.2005 entzogen, denn eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 des 10. Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) ist nicht eingetreten.

Nach der genannten Vorschrift in Verbindung mit § 74 Abs. 1 SGB VII kann eine Rente auf unbestimmte Zeit in Abständen von mindestens einem Jahr zuungunsten des Beziehers geändert werden, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bewilligungsbescheids vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei der Neufeststellung ist der Gesamtzustand der Unfallfolgen, wie er bei Erlass des Verwaltungsakts objektiv vorgelegen hat, mit dem späteren Leidenszustand zu vergleichen. Ergibt der Vergleich eine wesentliche Besserung, so ist die Rente herabzusetzen oder zu entziehen. Dabei darf die neue Bewertung der MdE nicht in freier Schätzung erfolgen. Vielmehr ist die Neufeststellung entsprechend dem Ausmaß der eingetretenen Änderung in Relation zu der früheren Bewertung vorzunehmen, unabhängig davon ob diese richtig oder unrichtig war. Demzufolge kann über § 48 SGB X keine Korrektur einer unrichtigen oder auch nur "wohlwollenden” früheren Beurteilung erfolgen. Die Veränderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit muss länger als drei Monate andauern und mehr als 5 v.H. betragen (§ 73 Abs. 3 SGB VII). Der streitige Bescheid erfüllt diese Anforderungen nicht.

Bei Erteilung des Rentenbewilligungsbescheids vom 14.06.1994 ist die MdE des Klägers durch die anerkannten warzigen Teerhautveränderungen mit 20 v. H. bewertet worden. Die Grundlagen der damaligen MdE-Bewertung haben sich zwischenzeitlich weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht geändert. Eine Änderung des als BK anerkannten Gesundheitszustands des Klägers ist zwischenzeitlich nicht eingetreten, wie T in seinem Gutachten vom 04.05.2005 ausdrücklich festgestellt hat.

Die im Jahr 2004 veröffentlichten Vorschläge von M und anderen zur Bewertung der MdE bei der BK 5102 stellen keine Änderung der rechtlichen Verhältnisse dar. Denn die von renommierten Wissenschaftlern in Zusammenarbeit mit den Berufsgenossenschaften erarbeiteten Erfahrungswerte sind allenfalls als ein antezipiertes Sachverständigengutachten zu werten. Ihnen kommt jedoch keine Rechtnormqualität zu (vgl. BSGE 82,212).

Die Vorschläge von M u.a. zur MdE-Bewertung stellen ebenfalls keine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 48 SGB X dar. Zwar können Änderungen der MdE-Erfahrungswerte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 9.12.2000 in B 2 U 49/99) bei unverändertem Gesundheitszustand grundsätzlich eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse darstellen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Veränderung der Empfehlungen darauf beruht, dass eine Überprüfung verbesserte Arbeitsmöglichkeiten für betroffene Unfallverletzte oder Erkrankte als Folge von geänderten Arbeitsbedingungen ergeben hat. Diese Voraussetzungen erfüllen die von M u.a. veröffentlichten Vorschläge nicht. Dort wird an keiner Stelle festgestellt, dass sich die Arbeitsmöglichkeiten im Sinne von § 56 Abs. 2 SGB VII für Erkrankte mit warzigen Teerhautveränderungen in der letzten Zeit deutlich gebessert hätten. Vielmehr versuchen die Verfasser, einen einheitlicheren und gerechteren Bewertungsmaßstab zu schaffen unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Metastasenrisikos bei Basalzellkarzinomen und Plattenepithelkarzinomen.

Auch unter dem Gesichtspunkt der "Genesungszeit" lässt sich die Annahme einer wesentlichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht begründen. Das Bundessozialgericht hat zwar in seiner Entscheidung vom 22.06.2004 (B 2 U 14/03 R) unter Ablehnung der Grundsätze über die "Heilungsbewährung" im Sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich die Berücksichtigung besonderer Aspekte in der zum Teil sehr langen Genesungszeit bei zu Rezidiven neigenden Erkrankungen für zulässig erklärt. Danach können besondere Aspekte wie das Vorliegen einer Dauertherapie, ein Schmerzsyndrom mit Schmerzmittelabhängigkeit, Anpassung und Gewöhnung an den gegebenenfalls reduzierten Allgemeinzustand, die notwendige Schonung zur Stabilisierung des Gesundheitszustands, psychische Beeinträchtigungen wie Antriebsarmut und Hoffnungslosigkeit oder soziale Anpassungsprobleme, die Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit haben, wie auch sonst bei der MdE-Bewertung berücksichtigt werden. Das BSG hat dann aber klargestellt, dass der Ablauf einer rezidivfreien Zeit alleine nicht zu einer MdE-Herabsetzung berechtigt. Voraussetzung ist entweder eine Besserung der zuvor der MdE-Bemessung zugrunde gelegten Funktionsbeeinträchtigungen oder der genannten besonderen Aspekte, die die Erwerbsfähigkeit beeinflussen.

Vorliegend gibt es aber keinen Anhaltspunkt für eine Besserung von Funktionsbeeinträchtigungen. Es gibt aber auch keinen Hinweis darauf, dass auch nur ein einziger der vorstehend dargestellten besonderen Aspekte bei einer zu Rezidiven neigenden Erkrankung im Jahr 1994 für die MdE-Bewertung maßgebend gewesen ist und dass zwischenzeitlich eine Veränderung eingetreten ist.

Es kommt noch hinzu, dass eine Herabsetzung unter Berücksichtigung besonderer Aspekte der Genesungszeit nur zulässig ist, wenn in dem Bewilligungsbescheid durch einen klarstellenden Hinweis zum Ausdruck gebracht worden ist, dass die MdE tatsächlich wegen solcher besonderer Aspekte der Genesungszeit höher bewertet wurde als es aufgrund der reinen Funktionsseinschränkung gerechtfertigt wäre (soweit noch offen lassend BSG vom 22.06.2004 -B 2 U 14/03 R-). Denn eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die beim Erlass eines Verwaltungsakts vorgelegen haben, lässt sich nur auf Fakten stützen, die auch erkennbar Grundlage der damaligen Entscheidung gewesen sind. Im vorliegenden Fall lässt sich weder aus dem Bewilligungsbescheid noch aus dem zugrundeliegenden Gutachten von T vom 31.03.1994 entnehmen, dass neben der Teerhaut und dem entfernten Basaliom weitere Probleme des Klägers bestanden haben und maßgebend für die damalige MdE-Bewertung gewesen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Das Sozialgericht hat die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zugelassen, weil es der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Rechtskraft
Aus
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