S 31 AS 145/08 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 31 AS 145/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Sozialgericht Gelsenkirchen

Az.: S 31 AS 145/08 ER

Beschluss

In dem Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes

Antragstellerin

Antragstellerin

Antragstellerin Proz.-Bev.:

gegen Vestische Arbeit Kreis Recklinghausen Widerspruchsstelle, vertreten durch den Geschäftsführer, Kurt-Schumacher-Allee 1, 45657 Recklinghausen

Antragsgegnerin

hat die 31. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen am 26.06.2008 durch den Vorsitzenden, Richter beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 27.05.2008 gegen den Absenkungsbescheid vom 14.05.2008 und den Änderungsbescheid vom 14.05.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17.05.2008 wird angeordnet. Die Aufhebung der Vollziehung des Absenkungsbescheides vom 14.05.2008 und des Änderungsbescheides vom 14.05.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17.05.2008 wird dergestalt angeordnet, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin zu 1) die den Antragstellern mit Änderungsbescheid vom 04.03.2008 für die Monate Juni und Juli 2008 bewilligten 843,40 EUR auszuzahlen hat, abzüglich bereits geleisteter Zahlungen an die Antragstellerin zu 1) und deren Vermieterin, sowie der an die Antragstellerin zu 1} bereits ausgegebenen Lebensmitteigutscheine, Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

Gründe:

Der Eilantrag der Antragsteller war sachgerecht primär als solcher auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 27.05.2008 gegen den Absenkungsbescheid vom 14.05.2008 und den Änderungsbescheid vom 14.05.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17.05.2008 auszulegen. Denn mit einem derartigen, gegenüber dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 86 b Abs. 2 SGG) vorrangigen, Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 1 SGG wird dem Begehr der Antragsteller bereits weitestgehendst entsprochen. Bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid und die in seiner Ausführung ergangenen Änderungsbescheide hat die Antragsgegnerin die den Antragsteilern bereits bewilligten Leistungen, zuletzt mit Änderungsbescheid vom 04.03.2008 für die Zeit bis zum 31.07.2008, vollständig zur Auszahlung zu bringen. Nur für die Zeit ab dem 01.08.2008 und hinsichtlich des Juli 2008 lediglich soweit die Regelleistungserhöhung ab 01.07.2008 noch nicht in dem Änderungsbescheid vom 04.03.2008 berücksichtigt ist, verbleibt es bei dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Auszahlung von Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften ohne Berücksichtigung von Sanktionen. Dieser ist nur deshalb zur Entscheidung gestellt, da die Antragsteller ihren Antrag zeitlich nach hinten nicht befristet und höhenrnäßig nicht begrenzt haben. Diese sachgerechten Anträge haben im tenorierten Umfange Erfolg. Sie sind ganz überwiegend begründet. Vollumfänglich gilt dies für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen - wie hier (vgl. § 39 SGB II) - einem Widerspruch keine aufschiebende Wirkung zukommt, diese ganz oder teilweise anordnen. Für diese Entscheidung hat das Gericht zu prüfen, ob das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung das Privatinteresse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs überwiegt, Bei der hierzu vorzunehmenden Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, hier des Widerspruchs vom 27.05.2008, nicht ohne Bedeutung. An der Vollziehung einer offensichtlich rechtswidrigen -und daher im Widerspruchsverfahren aufzuhebenden -.Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist die zu vollziehende Maßnahme dagegen offensichtlich rechtmäßig, kann das Interesse am Aufschub der Vollziehung grundsätzlich als gering veranschlagt werden. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache bei der im Verfahren nach § 86 b Abs. 1 SGG allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend ermitteln, bedarf es einer Abwägung aller relevanten Umstände, insbesondere der Vollzugsfolgen, um zu ermitteln, wessen Interesse für die Dauer des Hauptsacheverfahrens Vorrang gebührt. Diese Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung liegen vor. Bei summarischer Prüfung sind der Absenkungsbescheid vom 14.05.2008 und der Änderungsbescheid vom 14.05.2008 In 6er Fassung des Änderungsbescheides vom 17.05.2008 zumindest teilweise rechtswidrig. Die Antragsgegnerin hat mit zunächst 472,00 EUR und umso mehr mit im Änderungsbescheid vom 17.05.2008 (ohne Änderung des Sanktionsbescheides) 477,00 EUR einen zu hohen Sanktionsbetrag ausgeworfen, da sie die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II über die Verteilung der Leistungen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft der Antragsteller missachtet. Eine Sanktion nach § 31 SGB II darf maximal den dem Sanktionierenden zustehenden Leistungsanteil vollständig absenken. Aufgrund der Missachtung von § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II ist die Antragsgegnerin darüber hinausgegangen und hat damit in eigentlich den Antragstellern zu 2) und 3) zustehende Leistungen eingegriffen. Bei summarischer Prüfung falsch ist, dass die Antragsgegnerin entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II bei der Ermittlung des Leistungsbetrages und damit des maximalen Sanktionsbetrages nicht den Bedarf jedes Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft ins Verhältnis zum Gesamtbedarf setzt. Vielmehr zieht sie vorliegend zu Lasten der minderjährigen Antragsteller zu 2) und 3) bei dieser Berechnung Kindergeld und Unterhalt von dem aus Regelleistung und Kosten der Unterkunft bestehenden Individualbedarf ab. Nur den danach verbleibenden ungedeckten Bedarf setzt sie. ins Verhältnis. Eine Rechtfertigung hierfür gibt es nicht (vgl. nur das Beispiel 2 bei Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2, Aufl., § 9, Rn. 35). Hinsichtlich Kindergeld beruht die Praxis der Antragsgegnerin auf einem Fehlverständnis der Funktion des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II, der das Kindergeld unter bestimmten Voraussetzungen (abweichend von der Kindergeldbewilligung und -auszahlung) dem Kind als Einkommen zuordnet. Dies dient aber nur dazu, zum Einen zu prüfen, ob die Versicherungspauschale des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 3 Nr. 1 Arbeitslosengeld Il/Sozialgeld-Verordnung vom Einkommen abzusetzen ist, und zum Anderen, um die Berechnung nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II durchzuführen, Nach letztgenannter Vorschrift gehören zur Bedarfsgemeinschaft nur dem Haushalt angehörende unverheiratete Kinder, soweit sie unter anderem die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Kinder sollen, soweit sie sich finanziell vollständig versorgen können, aus dem Leistungssystem des SGB 11 herausgehalten werden. Ist die Berechnung des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB 11 - wie hier für die Antragsteller zu 2) und 3) - mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass das Kind zur Bedarfsgemeinschaft gehört, ist die Einkommenszurechnung zu einer bestimmten Person innerhalb der dann bestehenden Bedarfsgemeinschaft irrelevant. Dies Ist das Wesen der Bedarfsgemeinschaft und des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II. Das "soweit" in § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II ist nicht dahingehend zu verstehen, dass ein und daselbe Kind nur zu einem gewissen Bedarfsanteil Mitglied der Bedarfsgemeinschaft würde. Es gibt zwar ggf. eine zeitweilige Bedarfsgemeinschaft, aber keine betragsmäßig begrenzte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist ein Kind entweder vollständig Teil der Bedarfsgemeinschaft oder gar nicht. Umso deutlicher wird die Fehlerhaftigkeit des Ansatzes der Berechnungen der Antragsgegnerin beim Vorwegabzug auch von Unterhaltsleistungen an das Kind im Rahmen der Verteilung nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II. Für diese Vorgehensweise gibt es nicht einmal eine wie § 11 Abs. 1 Satz 3 falsch zu verstehende Einkommensanrechnungsvorschrift. Dass Unterhalt Einkommen des Kindes ist, ergibt sich nur aus den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen im Rahmen des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Diese Regelungen greifen aber auch, um alles übrige Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft einer Person zuzurechnen. Beispielsweise ist Erwerbseinkommen unzweifelhaft Einkommen desjenigen, der es verdient und auf dessen Konto es fließt. Diesbezüglich vertritt die Antragsgegnerin aber zu Recht nicht, dass es bei der Leistungsverteilung nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II vom individualbedarf des Elternteiles abzuziehen ist, bevor dieser ins Verhältnis zum Gesamtbedarf gesetzt wird. Bei Kindergeld und Unterhalt verwechselt sie hingegen Bedarf und "Bedarf nach Einkornmensanrechnung"/"uungedeckten Bedarf". Der ungedeckte Bedarf spielt nur eine Rolle zur Prüfung des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II bzw. zur Bemessung der Leistungshöhe für die gesamte Bedarfsgemeinschaft. Mag die systematische - EDV-bedingte - Missachtung von § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB 11 durch die Antragsgegnerin in funktionierenden familiären Verhältnissen, und bei insgesamt ungekürzten Leistungen noch ohne große Belastungswirkung sein, erscheint sie jedenfalls dann nicht hinnehmbar, wenn sich dieser grundsätzlich falsche Ansatz zu Lasten von Sozialgeldempfängern auswirkt, die keinerlei sanktionswürdiges Verhalten an den Tag gelegt haben, wie die 5 und 6 Jahre alten Antragsteller zu 2) und 3). Eine Interessenabwägung zwischen Vollzugs- und Aussetzungsinteresse geht vorliegend trotz den Bescheiden nur "auf die Stirn geschriebener" teilweiser Rechtswidrigkeit vollständig zu Gunsten des antragstellerseitigen Aussetzungsinteresses aus. Die abschließende Überprüfung der umfangreichen, nach summarischer Prüfung rechtswidrigen; Berechnungen der Antragsgegnerin muss dem Widerspruchs- und Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Stellt die Antragsgegnerin dem Gericht keine zutreffenden Berechnungen zur Verfügung, kann dies im einstweiligen Rechtsschutzverfahren im Rahmen der Interessenabwägung zu ihren Lasten berücksichtigt werden. Die Antragsgegnerin hatte es in der Hand gehabt, in einer Art "geltungserhaltenden Reduktion" ihre Fehlberechnungen zu korrigieren und die Sanktion zu reduzieren, so dass es nur noch auf eine Überprüfung der Sanktion dem Grunde nach angekommen wäre. Tut sie dies nicht, schafft säe zusätzlichen Leidensdruck auf Antragstellerseite, der deren Zuwarten bis. zur intensiveren Überprüfung der Sanktionsvoraussetzungen nicht als zumutbar erscheinen lässt. Die Möglichkeit der Anordnung der Aufhebung der. Vollziehung ergibt sich aus § 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG. Diesbezüglich hat das Gericht sein Ermessen dahingehend ausgeübt, dass jedenfalls gegenwärtig hinzunehmen ist, dass die Antragsteller mit bereits ausgegebenen Lebensmittelgutscheinen über geeignete Mittel zur teilweisen Bedarfsdeckung verfügen. Der punktuell noch darüberhinausgehende Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - für die Zeit ab 01.08.2008 und bezüglich noch über die mit Änderungsbescheid vom 04.03.2008 bewilligten Beträge hinausgehende Leistungen - hat keinen Erfolg. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist nur dann der Fall, wenn dem Antragsteller gegen den Antrags¬gegner ein Anspruch (sogenannter Anordnungsanspruch) zusteht, dessen vorläufige Durchsetzung dringlich ist (sogenannter Anordnungsgrund). Die vorläufige Befriedigung des Anspruchs anzuordnen, kommt dabei aber nur in Betracht, wenn dem Antragsteiler sonst unzumutbare Nachteile entstünden (Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache). Dies ist im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln (LSG NRW, Beschluss vom 21.04.2005, Aktenzeichen L 9 B 6/05 SO ER). Anordnungsanspruch und -grund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die eingeschränkte gerichtliche Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (LSG NRW, Beschluss vom 01.08.2005, Aktenzeichen L 12 B 14/05 AS ER). Erforderlich ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit; trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen (Krasney/Udsching, Handbuch des Sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, III. Kapitel, Randnummer 157). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es fehlt an einem Anordnungsgrund als Ausdruck besonderer Eilbedürftigkeit. Es drohen nach der Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegenwärtig keine gravierenden und Insbesondere irreparablen Nachteile. Für die Zeit vom 01.07.2008 bis 31.07.2008 geht es für alle drei Antragsteller zusammen nur um eine Größenordnung von unter 10,00 EUR, wegen der Erhöhung der Regelleistung zum 01.07.2008. Diese konnte bei Erfass des nun vorläufig wieder wirksamen Änderungsbescheides vom 04.03.2008 mit seiner Leistungsbewilligung von 843,40 EUR für alle Antragsteller zusammen noch nicht beachtet werden. Für die Zeit ab dem 01.08.2008 ist schon keine Gegenwärtigkeit einer dann eventuell eintretenden Notlage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts gegeben. Davon abgesehen ist überhaupt nicht ersichtlich, dass eine solche eintreten könnte. Denn die Antragsgegnerin hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Absenkungsbescheid zu beachten. Damit haben die Antragsteller zwar noch keine positive Leistungsbewilligung für die Zeit ab dem 01.08.2008. Die Antragsgegnerin wird aber auf einen Fortzahlungsantrag hin zunächst ohne Berücksichtigung der streitgegenständlichen Sanktion leisten müssen. Denn der Absenkungsbescheid ist derzeit als nicht existent zu behandeln.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG. Das Unterliegen hinsichtlich des Erlasses einer punktuell ergänzenden einstweiligen Anordnung fällt nicht wesentlich ins
Rechtskraft
Aus
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