L 4 SB 2/04

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 31 SB 602/01
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 SB 2/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 11. November 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers sowie über die Frage des Vorliegens gesundheitlicher Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "RF".

Die Beklagte hatte mit Bescheid vom 27. März 1995 zugunsten des im Jahre 1929 geborenen Klägers wegen "Verlustes der rechten Niere bei chronischer Erkrankung im Zustand der Heilungsbewährung" einen GdB von 80 anerkannt. In dem Bescheid heißt es, nach Ablauf der Heilungsbewährung für den bösartigen Tumor im September 1999 werde der GdB überprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt.

Im Mai 2000 hörte die Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 30 an: Bei Erkrankungen, die zu Rückfällen neigten, würden für einen bestimmten Zeitraum nicht nur die Funktionsstörungen infolge von Organ- und Gliedmaßenschäden sowie die damit verbundenen Leistungsbeeinträchtigungen berücksichtigt, sondern auch die Rückfallneigung und die damit verbundenen Ängste, die Ungewissheit über die Wiederherstellung der Belastbarkeit und die Anpassungsschwierigkeiten durch die Umstellung der Lebensführung. In Anbetracht dieser besonderen Umstände sei beim Kläger der GdB zunächst höher als allein nach den objektiv vorliegenden Funktionseinschränkungen festgestellt worden. Aus beigezogenen medizinischen Unterlagen ergebe sich, dass wegen des Nierentumors eine Heilungsbewährung eingetreten sei.

Mit Neufeststellungsbescheid vom 29. September 2000 hob die Beklagte ihren Bescheid vom 27. März 1995 gemäß § 48 Abs.1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) i.V.m. § 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) insoweit auf, als der Anspruch des Klägers entsprechend der eingetretenen Änderung neu festgestellt werde. Der GdB betrage nunmehr 30.

Der Kläger erhob Widerspruch und machte geltend, er sei in ärztlicher Behandlung wegen Verschleißes der Halswirbelsäule, wegen Altersatopie und REM-Syndroms (retikuläre erythematöse Muzinose), wegen einer Lumboischialgie rechts und einer Coxarthrose.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens fragte die Beklagte beim Kläger an, ob er mit der Feststellung eines GdB von 40 einverstanden sei und ob er Merkzeichen beantragen wolle. Der Kläger bat daraufhin um Feststellung eines GdB von 80 sowie um die Feststellung der Merkzeichen "aG" und "RF".

Mit Teilabhilfebescheid vom 28. Mai 2001 setzte die Beklagte den GdB des Klägers auf 40 fest und berücksichtigte dabei als Gesundheitsstörungen den Verlust der rechten Niere, Schwerhörigkeit, Hüftgelenksverschleiß, ein Ekzem sowie degenerative Wirbelsäulenveränderungen und ein Schulter-Arm-Syndrom.

Auch hiergegen erhob der Kläger (vorsorglich) Widerspruch und führte aus, er habe sich im Frühjahr 2001 wegen einer schweren Rose stationär behandeln lassen müssen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2001 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück, soweit ihm nicht durch Bescheid vom 28. Mai 2001 abgeholfen worden war: Ein höherer GdB als 40, die gesundheitlichen Merkmale einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") und die Voraussetzungen für die Rundfunkgebührenbefreiung (Merkzeichen "RF") könnten nicht festgestellt werden. Durch den Ablauf der Heilungsbewährung für den Nierentumor sei eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, als deren Folge nur noch der Verlust der rechten Niere zu bewerten sei. Die begehrten gesundheitlichen Merkmale könnten nicht festgestellt werden, weil es an den erforderlichen Voraussetzungen dafür fehle.

Der Widerspruchsbescheid ist am 11. Oktober 2001 zur Post gegeben worden. Am 5. November 2001 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben und sich gegen die Berechnung des GdB durch die Beklagte gewandt.

Das Sozialgericht hat ein fachchirurgisches Gutachten von Dr. K. eingeholt. Der Gutachter hat in seiner Stellungnahme vom 12. Mai 2003 ausgeführt, der Kläger sei zur Untersuchung in einem flüssigen, normalschrittigen Gangbild erschienen. In den gesundheitlichen Verhältnissen sei gegenüber den Befunden, die dem Bescheid vom 27. März 1995 zugrunde gelegen hätten, eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verbesserung eingetreten. Diese Verbesserung betreffe die mit der Entfernung der rechten Niere erfolgreich behandelte Tumorerkrankung. Es seien nach den zur Beurteilung überlassenen Befunden keine lokalen oder entfernten Metastasen nachgewiesen worden. Auf chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet seien altersbedingte Veränderungen am Achsenskelett, am linken Schultergelenk sowie an den Hüftgelenken hinzugekommen, die zu belastungsabhängigen Beschwerden führten. Insgesamt seien diese Veränderungen jedoch unter Berücksichtigung des Lebensalters nicht als wesentlich vorauseilend einzuschätzen. Ebenso wenig sei ein objektivierbares Leiden einer dem Lebensalter vorauseilenden Coxarthrose nachzuweisen. HNO-ärztlich sei eine Schwerhörigkeit des Klägers belegt.

Mit Urteil vom 11. November 2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung auf den Inhalt der Bescheide vom 29. September 2000, 28. Mai 2001 und 8. Oktober 2001 Bezug genommen sowie ergänzend ausgeführt: Nach den Befundberichten der behandelnden Ärzte sei beim Kläger wegen des Nierentumors eine Heilungsbewährung eingetreten. Der zunächst hohe GdB-Grad bei Krebserkrankungen berücksichtige auch die psychischen Beeinträchtigungen, die üblicherweise damit einhergingen. Sofern über das Übliche hinausgehende psychische Erkrankungen bzw. nach Ablauf der Heilungsbewährung eine psychische Belastung geltend gemacht würden, könnten diese nur berücksichtigt werden, wenn sie nachgewiesen seien. Der Kläger sei wegen psychischer Probleme nicht in fachärztlicher Behandlung, und es hätten sich auch sonst keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine behinderungsrelevante psychische Erkrankung vorliege. Auch bei Berücksichtigung der übrigen Leiden sei die Beklagte zu Recht von keinem höheren Gesamt-GdB als 40 ausgegangen. Schon vor dem Hintergrund, dass kein Gesamt-GdB von 50 erreicht werde, komme die Zuerkennung von gesundheitlichen Merkzeichen nicht in Betracht. Es sei gleichwohl darauf hinzuweisen, dass es keinerlei Anhaltspunkte für eine außergewöhnliche Gehbehinderung gebe. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht lägen ebenfalls nicht vor. Im Hinblick auf die Schwerhörigkeit wäre hier ein Einzel-GdB von 50 vorauszusetzen.

Das Urteil ist dem Kläger am 6. Februar 2004 zugestellt worden. Am 25. Februar 2004 hat er Berufung eingelegt und geltend gemacht, es sei abwegig, eine psychische Belastung nach Ablauf einer so genannten Heilungsbewährung von einem pathologischen Befund abhängig zu machen. Die latente Angst vor Wiederholung der lebensgefährdenden Erkrankung stelle einen dauerhaft bleibenden seelischen Druck dar. Mittlerweile befinde er sich auch in Behandlung bei einer Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

Im Dezember 2004 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Neufeststellungsantrag. Unter dem 12. April 2005 erließ die Beklagte daraufhin einen Neufeststellungsbescheid nach § 48 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Integration und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) und setzte den GdB des Klägers auf 50 fest wegen folgender Gesundheitsstörungen: Schwindel und psychische Minderbelastbarkeit, Verlust der rechten Niere, Schwerhörigkeit, Hüftgelenksverschleiß, Schulter-Arm-Syndrom und degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Neurodermitis sowie Asthma bronchiale.

Der Kläger hat daraufhin mitgeteilt, dass sein Begehren allenfalls bei Festsetzung eines GdB von 60 als erledigt angesehen werden könnte. Auch sei ein mittlerweile hinzugetretenes Schlaf-Apnoe-Syndrom zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG Hamburg vom 11. November 2003 sowie die Bescheide der Beklagten vom 29. September 2000, 28. Mai 2001 und 8. Oktober 2001 (Widerspruchsbescheid), ferner den Bescheid vom 12. April 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei dem Kläger weiterhin einen GdB von mindestens 80 anzuerkennen und das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale "aG" und "RF" festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide: Ein höherer GdB von 50 sei auch unter Berücksichtigung des Schlaf-Apnoe-Syndroms nicht zu begründen.

Die den Kläger betreffenden Schwerbehindertenakten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20. Juni 2006 nicht anwesend und auch nicht vertreten war. Er war ordnungsgemäß geladen worden.

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und daher zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens umfasst nicht nur die Anfechtungsklage in Bezug auf den durch Widerspruchsbescheid bestätigten Herabsetzungsbescheid vom 29. September 2000, sondern auch die Frage, ob der Kläger über das ihm mit Bescheid vom 12. April 2005 Zugestandene hinaus gegenüber der Beklagten Ansprüche nach Schwerbehindertenrecht hat bzw. hatte. Die Beklagte hat nämlich durch den Vorbehalt im Ausgangsbescheid vom 1995, jedenfalls aber durch die während des Widerspruchsverfahrens an den Kläger gerichtete Anfrage, ob er mit einem GdB von 40 einverstanden sei und ob er Merkzeichen beantragen wolle, neue Antragsverfahren des Klägers veranlasst, die nunmehr grundsätzlich auch eine Durchsetzung seines entsprechenden Begehrens im Wege der Verpflichtungsklage ermöglichen, wobei gemäß § 86, § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sämtliche im Laufe des Verfahrens erlassenen Bescheide der Beklagten in die rechtliche Betrachtung mit einzubeziehen sind (vgl. auch Bundessozialgericht – BSG –, Urt. v. 6.10.1977, Breith. 1978 S. 954).

Was die Feststellung eines GdB von mehr als 50 (im Wege der Verpflichtungsklage) betrifft, ist allerdings das Rechtsschutzbedürfnis fraglich (dazu eingehend Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren L 4 SB 30/05). Der Kläger ist Rentner und nach eigenen Angaben finanziell nur mäßig ausgestattet, möglicherweise daher effektiv nicht einkommensteuerpflichtig. Welche anderen als steuerlichen Vorteile er sich aus einem höheren GdB als 50 verspricht, hat er nicht dargetan (vgl. BSG, Urt. v. 6.10.1981, BSGE Bd. 52 S. 168, dort insbes. Abs. 24, 25, 27 (juris); Landessozialgericht – LSG – Baden-Württemberg, Beschl. v. 5.7.1999, Breith. 1999 S. 1093; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2003, § 22 Rn. 22; BSG, Urt. v. 16.3.1982, SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 14; Bayerisches LSG, Beschl. v. 23.7.2004, L 18 B 305/04 SB PKH; LSG Berlin, Beschl. v. 14.12.2004, L 11 B 25/04 SB; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Aufl. 2005, vor § 51 Rn. 16 a).

Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass die Feststellung eines GdB von 50 zu gering sei. Mit Ablauf der Heilungsbewährungszeit betreffend den Nierentumor liegt eine wesentliche Änderung gegenüber dem Bescheid vom März 1995 vor, die die Beklagte berechtigt hat, den GdB niedriger festzustellen. Nach nunmehr vorliegenden Unterlagen hat der Kläger eine Niere verloren und ist schwerhörig. Des Weiteren leidet er an einem Hüftgelenksverschleiß, an Asthma bronchiale, einem Schlaf-Apnoe-Syndrom, einem Schulter-Arm-Syndrom, degenerativen Wirbelsäulenveränderungen und einer Neurodermitis, schließlich ist ein Schwindel und psychische Minderbelastbarkeit zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 30 für den Schwindel und die psychische Minderbelastbarkeit, von 25 für den Verlust der Niere, von 20 für die Schwerhörigkeit, von 20 für den Hüftgelenksverschleiß, von 20 für das Asthma bronchiale und das Schlaf-Apnoe-Syndrom, von 10 für das Schulter-Arm-Syndrom und die degenerativen Wirbelsäulenveränderungen sowie von 10 für die Neurodermitis ergäbe sich bei der vorzunehmenden degressiven Betrachtung kein GdB von mehr als 50, zumal der für den Verlust der Niere anzusetzende Wert wesentlich im Zusammenhang mit den anderweitig bereits berücksichtigten psychischen Beeinträchtigungen zu sehen ist und die Veränderungen von Haut und Schulter sowie der Wirbelsäule mit jeweils einem Einzel-GdB von 10 den Gesamt-GdB nicht zu erhöhen vermögen.

Schließlich kann der Kläger die begehrten Merkzeichen nicht beanspruchen. Was das Merkzeichen "RF" betrifft, dürfte es bereits an einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage für dessen Zuerkennung fehlen (dazu eingehend Urteil des Senats vom 11.1.2006 in der Sache L 4 SB 14/05). Dieses Merkzeichen steht dem Kläger aber auch aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die Bezug genommen wird, nicht zu. Auch ist es abwegig, beim Kläger eine außergewöhnliche Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") anzunehmen. Dafür gibt es keinerlei Anhalt, schon gar nicht nach den Äußerungen des Sachverständigen Dr. K., wonach der Kläger zur Untersuchung in einem flüssigen, normalschrittigen Gangbild erschienen sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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