L 6 R 93/06

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 11 RJ 325/04
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 6 R 93/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 23. Februar 2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtlichte Kosten sind nicht zu erstatten Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht – im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens – ein früherer Beginn einer Erwerbsunfähigkeitsrente.

Die am XX.XXXXXXXXXX 1930 in B. geborene Klägerin war nach dem 2. Weltkrieg als Arbeiterin in Deutschland tätig, bis sie 1955 nach Kanada auswanderte, wo sie seither lebt.

Im Dezember 1978 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Diese lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. Februar 1979 ab und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1980 zurück. Nachdem im nachfolgenden Klageverfahren (4 RJ 329/93) – nach Wiederaufnahme des nach Aktenordnung weggelegten Verfahrens – der kanadische Arzt S. M. E. nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 21. August 1995 ein orthopädisch/chirurgisches Gutachten vom selben Tag erstellt hatte, in dem er die Ansicht vertrat, dass die Klägerin seit 1975 nicht mehr ´arbeitsfähig` sei und insbesondere Schwierigkeiten hätte, den Arbeitsweg zurückzulegen, erkannte die Beklagte mit Schriftsatz vom 6. Dezember 1995 an, dass bei der Klägerin seit dem 21. August 1995 Erwerbsunfähigkeit vorliege.

Auf Anfrage des Sozialgerichts teilte die Klägerin mit Schriftsatz vom 2. Januar 1996, der in der Anrede sowohl Mitarbeiter des Sozialgerichts wie auch der Beklagten nennt (´Sehr geehrter Herr P. oder Herr S1 ...`), folgendes mit: ´Ich freue mich riesig, dass die ganze Sache zum Ende zu geht und ich möchte mich bedanken für die Muße und Hilfe, die Sie mir gegeben haben. Jetzt wurde mir die Frage in dem letzten Brief gestellt, ob ich die Klage, auf Grund der heutigen Anerkenntnisse als erledigt ansehe? Meine Antwort darauf ist "ja”. Nochmal recht vielen Dank.`

Zwischenzeitlich hatte die Klägerin am 17. August 1995 einen Antrag auf Regelaltersrente gestellt, welche die Beklagte ihr durch Bescheid vom 10. Januar 1996 mit Wirkung ab dem 1. Oktober 1995 bewilligte. Hiergegen erhob die Klägerin am 15. Februar 1996 Widerspruch; zur Begründung führte sie lediglich an, sie sei mit dem Bescheid ´nicht so ganz einverstanden`. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 1996 zurückgewiesen.

Mit Ausführungsbescheid vom 19. Februar 1996 gewährte ihr die Beklagte für die Zeit vom 1. bis 30. September 1995 Erwerbsunfähigkeitsrente; für die Zeit ab dem 1. Oktober 1995 wurde auf den Bescheid vom 10. Januar 1996 verwiesen. Im sich anschließenden – formal den Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 1996 betreffenden, jedoch inhaltlich gegen die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente für September 1995 gerichteten – Klageverfahren (20 J 1027/96) erklärte die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Oktober 1996 gegenüber dem Gericht (ebenso in einem direkt an die Beklagte gerichteten Schreiben vom selben Tag), sie habe einen Fehler gemacht, indem sie das Dokument, in dem gestanden habe, ob sie die Klage aufgrund des Anerkenntnisses als erledigt ansehe, unterschrieben zurückgeschickt habe. Sie komme einfach nicht darüber hinweg, dass ihr nur ein Monat Erwerbsunfähigkeitsrente zustehe.

Das Gericht holte zunächst ein – nach Aktenlage erstelltes – Gutachten des Chirurgen Dr. K. vom 21. Mai 1997 ein, in dem dieser die Auffassung vertrat, dass erst aufgrund der Befundmitteilung von Dr. E. mit dem 21. August 1995 aufgrund einer zwischenzeitlich aufgetretenen Verschlechterung davon ausgegangen werden könne, dass ab Begutachtung durch diesen nur noch ein halb- bis untervollschichtiges Leistungsvermögen bestanden habe. Nachfolgend beurteilte das Sozialgericht die Klage als unzulässige Wiederaufnahmeklage und wies sie mit Urteil vom 4. Oktober 1999 ab. Diese Entscheidung bestätigte das Landessozialgericht mit Urteil vom 20. Februar 2003 (L 6 RJ 33/00). Zusätzlich sah es als weiteren Streitgegenstand den Ausführungsbescheid vom 19. Februar 1996 an; auch insoweit blieb die Berufung wegen des korrekt ausgeführten Anerkenntnisses jedoch erfolglos, nachdem in der mündlichen Verhandlung der in der Klage gesehene Widerspruch gegen den Ausführungsbescheid vom 19. Februar 1996 durch die Beklagte zurückgewiesen worden war.

Mit Schreiben vom 17. März 2000 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Überprüfung, weil ´irgendwo ein großer Fehler gemacht` worden sei. Mit Bescheid vom 29. April 2003 lehnte die Beklagte die teilweise Rücknahme ihres Bescheides vom 19. Februar 1996 ab und wies mit Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 2003 den hiergegen erhobenen Widerspruch zurück.

Das Sozialgericht hat die nachfolgend erhobene Klage durch Urteil vom 23. Februar 2006 abgewiesen. Die Klage sei zulässig, aber unbegründet; es sei weiterhin von einem erst ab August 1995 aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen.

Hiergegen hat die Klägerin fristgerecht Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie auf ihre in den Jahren 1973, 1975, 1976 und 1977 stattgehabten Unfälle, Operationen und Verletzungen sowie auf Befundberichte aus dem Jahr 2005 verweist.

Die Klägerin beantragt nach dem Inhalt der Akten, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 23. Februar 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. April 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 22. Februar 1979 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 1980 zurückzunehmen sowie den Bescheid vom 19. Februar 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheide vom 20. Februar 2003 teilweise zurückzunehmen und der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits ab Dezember 1978 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 23. Februar 2006 zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die mit der Berufungsschrift übersandten medizinischen Unterlagen aus dem Jahr 2005 seien nicht geeignet, einen Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit vor August 1995 zu belegen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 1. Februar 2007 aufgeführten Akten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Überprüfung des Bescheides der Beklagten vom 19. Februar 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2003 und des vorangegangenen Bescheides vom 22. Februar 1979 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 1980 und damit erst recht keinen Anspruch auf deren vollständige bzw. teilweise Zurücknahme.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. § 44 SGB X findet jedoch keine Anwendung, wenn – wie hier – ein Antragsteller auf den Anspruch verzichtet hat, über den in dem zur Überprüfung gestellten Bescheid entschieden wurde.

Zwar ist eine Überprüfung nach § 44 SGB X selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt durch rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde oder er auf einem (außer-) gerichtlichen Vergleich beruht (Steinwedel in KassKomm., SGB X, § 44 Rn. 5). Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn in einem Vergleich zugleich ein Verzicht auf die Leistung und nicht lediglich auf ihre Geltendmachung liegt (BSG, Urteil v. 15.10.1985, 11a RA 58/84, SozR 2200 § 1251 Nr. 115, S. 320 f.; LSG Niedersachsen, Urteil v. 3.3.1993, L 2 J 182/91, E-LSG J-012, S. 4; Steinwedel a.a.O.; Wiesner in: v. Wulffen, SGB X 5. Aufl., Vor §§ 44-49 Rn. 7; Vogelsang in: Hauck/Noftz, SGB X, § 44 Rn. 6a), oder wenn ein Verfahren durch angenommenes Teilanerkenntnis und Klagerücknahme im Übrigen endet. Eine Klagerücknahme bewirkt den Verlust des Rechtsmittels, damit regelmäßig auch die Beendigung des Rechtsstreits und den Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch (Kretschmer in: GK-SGB I, 3. Aufl., § 46 Rn. 8).

Nach § 46 Abs. 1 Hs. 1 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – Allgemeiner Teil – SGB I kann auf Ansprüche auf Sozialleistungen durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger verzichtet werden. Dies ist durch die Erklärung der Klägerin vom 2. Januar 1996 geschehen.

Dabei spielt es keine Rolle, dass die Erklärung unmittelbar gegenüber dem Sozialgericht abgegeben wurde, da sie von diesem an die Beklagte weitergeleitet wurde. Im Übrigen richtete sich die Erklärung, wie die sowohl an Mitarbeiter der Beklagten wie des Gerichts gewandte Anrede belegt – Frau S1 war seinerzeit bei der Beklagten, Frau P. beim Sozialgericht beschäftigt –, zumindest auch an die Beklagte.

Der Verzicht ist eine einseitige, rechtgestaltende, empfangsbedürftige Willenserklärung, aus deren Wortlaut und den Begleitumständen sich klar ergeben muss, ob und in welchem Umfang der Berechtigte ihm bekannte oder mögliche Ansprüche aufgibt (Seewald in: KassKomm., SGB I, § 46 Rn. 8 m.w.N.).

Die Erklärung der Klägerin, sie freue sich riesig, dass die ganze Sache zu Ende gehe, und sie möchte sich für die Mühe und Hilfe bedanken, macht deutlich, dass sie sich damit nicht allein auf die Beendigung des Verfahrens bezieht, sondern sie sich darüber freut, ihren Anspruch – wenn auch nur teilweise – durchgesetzt zu haben. Die geäußerte Freude wäre unverständlich, wenn sie durch ihre Erklärung lediglich auf die Fortsetzung des Verfahrens hätte verzichten wollen, zumal keine Umstände – wie etwa fehlende finanzielle Mittel, persönliche oder gesundheitliche Gründe – dafür ersichtlich sind, dass ihr eine Fortführung des Verfahrens nicht möglich gewesen wäre. Ihre Erklärung ist daher nach dem Wortlaut und den Begleitumständen so zu verstehen, dass sie, nachdem sie sich jahrzehntelang vergeblich um eine Rentengewährung bemüht hatte, nunmehr den Blick in die Zukunft richten und die Vergangenheit – und damit auch einen Anspruch auf eine vor dem anerkannten Zeitpunkt liegende Rentengewährung – ruhen lassen wollte. Bestätigt wird dies durch ihre spätere Reaktion, da sie mit Schreiben vom 21. Oktober 1996 einräumte, durch die Abgabe ihrer Erklärung einen Fehler gemacht zu haben.

Es gibt auch keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Klägerin die Bedeutung ihrer Erklärung nicht bewusst gewesen sein könnte. Denn wenn ihr nicht klar gewesen wäre, dass das von der Beklagten abgegebene Anerkenntnis nur eine Rentengewährung ab September 1995 beinhaltete, wäre zu erwarten gewesen, dass sie (erst) gegen den Bescheid vom 19. Februar 1996, in dem der Beginn der Erwerbsunfähigkeitsrente deutlich zum Ausdruck kam, Widerspruch eingelegt hätte. Aus dem vorangegangenen Altersrentenbescheid vom 10. Januar 1996, gegen den sie am 15. Januar 1996 Widerspruch erhob, ergab sich nämlich kein Hinweis hierauf. Im Übrigen konnte die Klägerin dem Schreiben der Beklagten vom 6. Dezember 1995 entnehmen, dass diese das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit ´seit dem 21.8.95, dem Datum der Untersuchung durch Herrn E.` anerkannte. Sie hatte daher keine Veranlassung zu der Annahme, eine Rentenzahlung für weiter zurückliegende Zeiträume zu erhalten, und hat dies auch selbst nicht vorgetragen.

Zwar kann ein Verzicht gemäß § 46 Abs. 1 Hs. 2 SGB I jederzeit widerrufen werden, wie dies die Klägerin nachfolgend getan hat. Jedoch wirkt dieser Widerruf nur mit Wirkung für die Zukunft, erfasst also bei laufenden Leistungen lediglich die nach dem Zugang des Widerrufs fälligen Teilleistungen (Seewald a.a.O., Rn. 13). Damit ging der Widerruf ins Leere, weil der Klägerin zu jenem Zeitpunkt bereits Versichertenrente gewährt wurde.

Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Berufung auch dann, wenn ein Überprüfungsantrag zulässig wäre, erfolglos geblieben wäre, da die zur Überprüfung gestellten Bescheide der Beklagten nicht rechtswidrig sind. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf einen früheren Beginn der ihr ab 1. September 1995 gezahlten Erwerbsunfähigkeitsrente, da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie bereits vor August 1995 erwerbsunfähig war. Dem stehen insbesondere die Feststellungen des medizinischen Sachverständigen Dr. K. in seinem Gutachten vom 21. Mai 1997 entgegen, in dem dieser überzeugend darlegt, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin – wenn überhaupt – allenfalls ab August 1995 aufgehoben ist. Die mit der Berufungsschrift eingereichten Befundberichte aus dem Jahre 2005 sind schon deswegen nicht geeignet, diese gutachterliche Wertung zu entkräften, weil sie einen Zustand beschreiben, der zehn Jahre später besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) oder Nr. 2 SGG (Abweichung von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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