L 5 KA 21/06

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Mainz (RPF)
Aktenzeichen
S 2 KA 346/02
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 KA 21/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die frühere Nr 4111 EBM-Ä (entspricht Nr 32.300 des EBM-Ä 2000plus) ist mehrfach abrechenbar, wenn Katecholamine und Metabolite in mehreren Untersuchungsgängen untersucht werden (Abweichung von LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.8.2004, L 5 KA 197/04).
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 05.04.2006 sowie der Bescheid der Beklagten vom 10.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2002 aufgehoben.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist die Rechtmäßigkeit der Kürzung des Honoraranspruchs des Klägers im Quartal II/2000 im Wege einer sachlich-rechnerischen Berichtigung in Höhe von 25,36 EUR.

Der Kläger nimmt als Facharzt für Laboratoriumsmedizin an der vertragsärztlichen Versorgung im Bereich der Beklagten teil. Im Quartal II/2000 wurde er von einem anderen Arzt bei einer Patientin im Wege eines Überweisungsscheins zu einer Untersuchung der Katecholamine und der Vanillinmandelsäure (VMS) beauftragt, die er durchführte. Zur Probenvorbereitung extrahierte er die Katecholamine auf einer Kationen-Austauschersäule und eluierte diese wieder; die chromatographische Bestimmung erfolgte mittels Hochleistungs-Flüssigkeitschromatographie (HPLC). Die Probe zur Bestimmung der VMS wurde auf einer Anionen-Austauschersäule extrahiert, wieder eluiert und mittels HPLC untersucht. Der Kläger rechnete sowohl für die Untersuchung der Katecholamine als auch für die Untersuchung der VMS jeweils die Nr 4111 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für Ärzte (EBM Ä) in der seinerzeit geltenden Fassung ab.

Die Nr 4111 EBM Ä war mit: "Katecholamine und/oder Metabolite" bezeichnet. Die Überschrift über den Nrn 4111 ff EBM Ä lautete: "qualitative chromatographische Bestimmung(en) einer oder mehrerer Substanz(en), ggf einschl qualitativem chromatographischem Nachweis, je Untersuchungsgang". Die Katecholamine (Sammelbezeichnung für stickstoffhaltige Brenzkatechinderivate) umfassen das Adrenalin, das Noradrenalin und das Dopamin. Metabolite sind durch Stoffwechselprozess oder andere enzymatische Leistungen der Zelle in ihrer chemischen Struktur veränderte Umwandlungsprodukte von Stoffen.

Mit Bescheid vom 10.10.2001 verlangte die Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) Rheinhessen (Rechtsvorgängerin der Beklagten; zukünftig Beklagte) einen Betrag von 49,60 DM (= 25,36 EUR) vom Kläger zurück, weil dieser die Nr 4111 zweimal für das gleiche Material (Urin) abgerechnet habe, obwohl sie nur einmal hätte angesetzt werden dürfen. Der hiergegen vom Kläger eingelegte Widerspruch wurde von der Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 9.9.2002 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Nr 4111 EBM Ä betreffe Katecholamine und/oder Metabolite. Da die VMS ein Metabolit aus dieser Untersuchungsgruppe sei, habe die Nr 4111 bei dem gleichen Untersuchungsmaterial nur einmal in Ansatz gebracht werden dürfen.

Zur Begründung seiner am 30.9.2002 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen: Eine gemeinsame Untersuchung der Katecholamine und der VMS, eines Metaboliten, sei nicht durchführbar. Zwar sei das gleiche Körpermaterial (Urin) untersucht worden, die Vorbereitung zur Analyse sei jedoch bei den Katecholaminen und der VMS getrennt erfolgt. Die mehrfache Abrechnung der Nr 4111 bei mehreren Untersuchungsgängen sei nicht ausgeschlossen. Die Formulierung "je Untersuchungsgang" in der Überschrift zu den Nrn 4111 ff EBM Ä spreche gegen die rechtliche Beurteilung der Beklagten. Ferner fänden sich im EBM Ä eindeutige Regelungen (zB in der Nr 4129), wenn eine Nummer nur einmal je Körpermaterial abrechnungsfähig sein solle. Zudem enthalte die Nr 4111, im Gegensatz zu den Nrn 4248 bis 4272 EBM Ä sowie den Nrn 4417 und 4826 EBM Ä, keine Mengenbegrenzung.

Die Beklagte hat ua vorgebracht: Andere Stellen des EBM Ä, wo ebenfalls die Formulierung "je Untersuchung" verwandt worden sei, sprächen für die von ihr vorgenommene Auslegung der Nr 4111. Im Rahmen der Nrn 4068 4091 und 4551 4625 EBM Ä sei unbestritten, dass nicht jede tatsächliche Untersuchung abrechnungsfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 5.4.2006 abgewiesen und zur Begründung dargelegt: Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen bedeute die "und/oder-Verbindung" in der Nr 4111 EBM Ä, dass die Gebührennummer nur einmal abrechenbar sei, gleichgültig ob nur die Leistung a oder nur die Leistung b oder beide erbracht würden. Mit der "und/oder-Verbindung" werde von dem in der Überschrift zum Katalog niedergelegten Grundsatz, dass die einzelnen Nummern des EBM Ä bei mehreren Untersuchungsgängen mehrfach abgerechnet werden könnten, abgewichen. Die "und-oder-Verbindung" sei bewusst in die Leistungslegende der Nr 4111 aufgenommen worden, weil bis dahin nicht gerechtfertigte Mehrfachabrechnungen vorgekommen seien. Offenbar sollten damit honorarbegrenzende Wirkungen entfaltet werden, die auch dann verbindlich seien, wenn sie im Einzelfall nicht im Einklang mit einer rein medizinisch-fachlichen Betrachtungsweise stünden. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Gegen dieses seinen Prozessbevollmächtigten am 12.5.2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 6.6.2006 eingelegte Berufung des Klägers, der vorträgt: Gegen die rechtliche Beurteilung des SG spreche der klare Wortlaut der Katalogüberschrift zu den Nrn 4111 ff EBM Ä, wonach der Honoraranspruch "je Untersuchungsgang" entstehe. Dieses Normverständnis entspreche dem Prinzip leistungsgerechter Vergütung und dem Willkürverbot (Art 3 Abs 1 Grundgesetz GG ). Das SG habe den Grundsatz missachtet, wonach der Wortlaut der Gebührenregelungen primärer Auslegungsmaßstab bei der Auslegung der einzelnen Leistungslegenden sei. Die "und-oder-Verknüpfung" in der Nr 4111 vermöge an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Die vom SG befürwortete Annahme eines logischen Vorrangs der "und/oder-Verknüpfung" gegenüber der Formulierung "je Untersuchungsgang" verfälsche den Wortlaut der Katalogüberschrift zu den Nrn 4111 ff, die damit praktisch überflüssig würde. Wenn überhaupt einer der beiden Formulierungen ein Vorrang zuzusprechen wäre, wäre dies diejenige in der Katalogüberschrift, da diese dem Normgeber so wichtig gewesen sei, dass er sie vor die Klammer gezogen habe. Bei der "und-oder-Verknüpfung" handele es sich um eine nachrangige, eher klarstellende Bestimmung, die lediglich zum Ausdruck bringen solle, dass 1. sowohl die Katecholamine als auch deren Metabolite unter die Nr 4111 EBM Ä und nicht unter andere Abrechnungsnummern fielen und 2. bei einer Bestimmung zweier Parameter in einem Untersuchungsgang nur einmal abgerechnet werden dürfe. Die Ausführungen des SG, der zuständige Bewertungsausschuss habe die "und/oder-Verknüpfung" als honorarbegrenzende Maßnahme eingeführt, um diagnostisch und methodisch nicht gerechtfertigte Abrechnungen zu vermeiden, seien spekulativ. Subjektive Erwägungen des Bewertungsausschusses seien unerheblich. Die Beklagte sei im Übrigen seit Ende 2005 selbst wieder dazu übergegangen, mehrfach durchgeführte Untersuchungsgänge mehrfach zu vergüten.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Mainz vom 5.4.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.9.2002 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat eine per E Mail erteilte Auskunft des Arztes Dr B von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KÄBV) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f., 151 Sozialgerichtsgesetz SGG zulässige Berufung ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, weshalb das Urteil des SG aufzuheben ist.

Die Beklagte hat eine sachlich-rechnerische Richtigstellung der Honorarforderung des Klägers vorgenommen. Die KÄV ist zu sachlich-rechnerischen Richtigstellungen von Honorarforderungen befugt, soweit ein Vertragsarzt bei seiner Quartalsabrechnung Gebührennummern ansetzt, deren Tatbestand durch seine Leistungen nicht erfüllt ist oder die er aus anderen Gründen nicht in Ansatz bringen darf. Rechtsgrundlage dafür sind § 45 Abs 2 Satz 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte und § 34 Abs 4 Satz 2 Ersatzkassenvertrag-Ärzte. Nach diesen Vorschriften hat die KÄV die Befugnis, die von den Vertragsärzten eingereichten Abrechnungen rechnerisch und gebührenordnungsmäßig zu prüfen und notfalls richtig zu stellen, was auch im Wege nachgehender Richtigstellung erfolgen kann (Bundessozialgericht BSG 11.10.2006 B 6 KA 35/05 R).

Die Auslegung der Nr 4111 EBM Ä in der im Jahre 2000 in Kraft befindlichen Fassung (entspricht Nr 32.300 des jetzigen EBM Ä) ergibt, dass der Kläger zu Recht zweimal diese Nummer abgerechnet hat. Für die Auslegung der vertragsärztlichen Vergütungsregelungen ist in erster Linie der Wortlaut der Bestimmungen maßgeblich, und es ist vorrangig Aufgabe des Bewertungsausschusses selbst, Unklarheiten zu beseitigen (BSG 31.8.2005 B 6 KA 35/04 R, SozR 4 2500 § 87 Nr 11). Soweit der Wortlaut einer Vergütungsregelung zweifelhaft ist und es seiner Klarstellung dient, kann eine systematische Interpretation im Sinne einer Gesamtschau der im inneren Zusammenhang stehenden vergleichbaren oder ähnlichen Regelungen erfolgen. Eine entstehungsgeschichtliche Auslegung unklarer oder mehrdeutiger Regelungen durch die Gerichte kommt nur in Betracht, wenn Dokumente vorliegen, in denen die Urheber die Bestimmungen in der Zeit ihrer Entstehung selbst erläutert haben (BSG aaO). Diese einschränkenden Vorgaben für eine gerichtliche Auslegung beruhen zum einen auf der vertraglichen Struktur der Vergütungsregelungen und der Art ihres Zustandekommens im Wege der Normsetzung durch Vertrag im Rahmen der funktionalen Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Krankenkassen und die KÄVen. Zum anderen steht dem Bewertungsausschuss als Normgeber bei der Erfüllung des ihm in § 87 Abs 1 SGB V übertragenen Auftrags ein Gestaltungsspielraum zu (BSG 31.8.2005 aaO).

Nach dem Wortlaut der Nr 4111 EBM Ä in Verbindung mit der Katalogüberschrift zu den Nrn 4111 ff kann diese Nummer bei der Bestimmung der Katecholaminen und/oder Metabolite mehrfach abgerechnet werden, sofern mehrere Untersuchungsgänge anfallen. Ein Untersuchungsgang beginnt mit der Probenvorbereitung (zB Extraktion oder Säulenvorbereitung) und endet mit der Detektion und ggf der quantitativen Auswertung der aufgetrennten Substanzen (Kölner Kommentar zum EBM Ä, Stand Oktober 2003, Anm 2 zu Nrn 4111 ff). Werden mehrere unterscheidbare Untersuchungsgänge durchgeführt, zB eine Trennung auf unterschiedliche Trägerplatten oder Säulen, um chemisch different reagierende Substanzen zu untersuchen, ist jeder Untersuchungsgang für sich berechnungsfähig (aaO). So ist die Sachlage im vorliegenden Fall. Die Untersuchung der Katecholamine wurde durch Extraktion auf einer Kationen-Austauschersäule durchgeführt, während die Probe zur Bestimmung der VMS auf einer Anionenaustauschersäule extrahiert wurde. Da die Untersuchungen auf unterschiedlichen Säulen erfolgten, handelt es sich um unterschiedliche Untersuchungsgänge.

Die Zulässigkeit der mehrfachen Abrechnung der Nr 4111 in einem solchen Fall scheitert nicht an der in der Nr 4111 enthaltenen "und/oder-Verbindung" (ebenso Kölner Kommentar zum EBM Ä aaO). Der gegenteiligen Auffassung der Beklagten im Anschluss an das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27.8.2004 (L 5 KA 97/04), wonach der EBM-Ä-Normgeber mit der "und/oder-Verbindung" von dem in der Überschrift zum Katalog niedergelegten Grundsatz, dass die einzelnen Gebührennummern bei mehreren Untersuchungsgängen mehrfach abgerechnet werden könnten, abgewichen sei, folgt der Senat nicht. Eine dahingehende Norminterpretion wäre allenfalls dann gerechtfertigt, wenn wovon das LSG Baden-Württemberg (aaO) ausgegangen ist die Bestimmung der Katecholamine und die Bestimmung der Metabolite ausnahmslos gesonderte Untersuchungsgänge erfordern würde. Letzteres trifft jedoch nicht zu, wie aus den Angaben des Dr B hervorgeht. Danach ist zwar bei der Untersuchung der VMS ein im Verhältnis zur Bestimmung der Katecholamine getrennter Untersuchungsgang notwendig. Bei manchen anderen Metaboliten ist jedoch eine gemeinsame Durchführung der Untersuchung möglich. Bei dieser Sachlage ist die "und/oder-Verbindung" in der Nr 4111 EBM Ä in Verbindung mit der Kapitelüberschrift so zu interpretieren, dass bei der Untersuchung von Katecholaminen und Metaboliten dann, aber nur dann die Nummer nur einmal abrechenbar ist, wenn Katecholamine und Metabolite im selben Untersuchungsgang untersucht werden. Nur diese Auslegung trägt sowohl der Kapitelüberschrift als auch dem Wortlaut der Nr 4111 Rechnung.

Der Hinweis des LSG Baden-Württemberg in dem Urteil vom 27.8.2004 (aaO) auf den Zweck der "und/oder-Verbindung" als honorarbegrenzende Maßnahme rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Die "und/oder-Verbindung" bewirkt eine Honorarbegrenzung, aber nur unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Untersuchungsgangs. Für das Vorliegen von Dokumenten der Verfasser des EBM Ä, wonach die "und/oder-Verbindung" eine noch weitergehende Honorarbegrenzung sicherstellen soll, liegen keine Anhaltspunkte vor.

Für diese Interpretation der Nr 4111 EBM Ä in der damals geltenden Fassung sprechen im Übrigen noch weitere Gründe. In der damaligen Nr 4129 EBM Ä hat der Normgeber eine ausdrückliche Regelung getroffen, dass je Körpermaterial nur einmal abgerechnet werden darf. Dies ist in der Nr 4111 nicht geschehen. In den damaligen Nrn 4417 und 4826 EBM Ä war klargestellt, dass eine Leistung je Behandlungsfall nur einmal abrechenbar war. Auch eine solche Bestimmung war in der Nr 4111 EBM Ä nicht enthalten.

Für die gegenteilige Meinung der Beklagten lässt sich der Wortlaut der Nrn 4068 4091 und 4551 4625 EBM Ä schon deshalb nicht anführen, weil sich dieser wesentlich von der Nr 4111 unterscheidet. Bei diesen Nummern wird im Gegensatz zur Überschrift zur Nr 4111 nicht auf den "Untersuchungsgang", sondern auf die "Untersuchung" abgestellt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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