S 5 U 253/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 253/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 100/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 27. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. Juli 2008 und den Bescheid vom 20. Oktober 2009 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger infolge des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. hat.

Der am 1946 geborene Kläger war als Montagefacharbeiter beim Bauunternehmen T. in A. beschäftigt. Am 04.03.1975 stürzte er beim Anziehen einer Befestigungsschraube der Wandplatte von einer Leiter zu Boden. Unmittelbar nach dem Unfall wurde er mit Schmerzen im linken Handgelenk und in der Glutealmuskulatur ins Kreiskrankenhaus E. verbracht. Dort wurde eine schwere Hüftprellung links und eine distale Radiusfraktur links ohne Dislokation diagnostiziert. Im Nachschaubericht des Kreiskrankenhauses E. vom 21.04.1982 wurden die Verdachtsdiagnosen eines minimalen - folgenlos ausgeheilten - Vorderkantenabrisses des 1. Lendenwirbelkörpers (LWK) sowie ischialgieformer Beschwerden durch einen unfallunabhängigen Bandscheibenprolaps gestellt. Außerdem wurde der Befund einer unfallunabhängigen Chondropathia patellae rechts bei Patella alta erhoben. Die Röntgenaufnahmen würden keine unfallbedingte Verletzung des 1. bis 3. Lendenwirbelkörpers bestätigen, lediglich ein minimaler Vorderkantenabriss am 1. Lendenwirbelkörper ohne Stufenbildung sei zu vermuten, da die Vorderkante gegenüber den Vergleichswirbeln um ca. 3 mm höhengemindert sei. Die Unfallfolgen führten zu keiner Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).

Am 21.08.2001 beantragte der Kläger die Gewährung einer Verletztenrente infolge der Arbeitsunfälle vom 04.03.1975 und 19.06.1980.

Die Beklagte holte das Gutachten der Chirurgen Prof. Dr. K./PD Dr. G./Dr. E. vom 08.07.2002 ein. Danach beklage der Kläger Rücken- und Handgelenksschmerzen bei Belastung und in Ruhe. Die linke Hand könne er weniger gut gebrauchen. Klinisch seien keine Seitenunterschiede hinsichtlich der Handflächenbeschwielung festzustellen. Die Verarbeitungszeichen seien an beiden Händen gleich. Der Händedruck sei seitengleich kräftig. Ein Druck- oder Bewegungsschmerz über den Gelenken sei nicht auslösbar. Die Unterarmumwendbewegungen seien seitengleich frei durchführbar. Die Handgelenksbeweglichkeit sei links endgradig schmerzhaft eingeschränkt (20-0-30°, 10-0-20° im Vergleich zu 35-0-50°, 20-0-30°). Der Faustschluss sei regelrecht, rechts kräftiger als links. Bewegungseinschränkungen der Finger bestünden nicht. Die Muskulatur im Lendenwirbelsäulenbereich sei etwas verschmächtigt, im unteren Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich bestehe eine Druck- und Klopfempfindlichkeit. Außerdem lasse sich ein Stauchungsschmerz im Lendenwirbelsäulenbereich auslösen. Die Halswirbelsäule sei aufgrund degenerativer Veränderungen in der Beweglichkeit eingeschränkt, die Brust- und Lendenwirbelsäule sei ebenfalls in ihrer Beweglichkeit schmerzbedingt eingeschränkt. Röntgenologisch fänden sich ein regelrecht verheilter körperferner linksseitiger Speichenbruch mit beginnender Arthrose im Radiocarpalgelenk und ein keilförmig zusammengesinterter 1. Lendenwirbelkörper sowie degenerative Veränderungen im Sinne von osteophytären Anbauten und Verschmälerungen der Bandscheibenräume der darüber- und darunterliegenden Wirbelkörper. Als Folgen des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 bestünden Rückenschmerzen bei Belastung und in Ruhe, Schmerzen im Bereich des linken Handgelenks bei Belastung und in Ruhe, eine schmerzbedingte Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit und Beweglichkeit im linken Handgelenk sowie Beschwerden bei Wetterwechsel. Die MdE betrage 20 v.H.

Mit Schreiben vom 02.08.2002 bzw. 25.02.2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Folgen des Unfalls vom 04.03.1975 keine messbare MdE hinterlassen hätten. Der körperferne Speichenbruch sei regelrecht verheilt. Es ergäben sich kein Ulnavorschub und keine Abkippung. Der Kalksalzgehalt der Knochen sei nicht wesentlich gemindert.

Im Rahmen einer Nachprüfung veranlasste die Beklagte auf Wunsch des Klägers eine Untersuchung durch die Orthopädin Dr. H.-K ... Im Gutachten vom 10.03.2008 kam diese zu dem Ergebnis, dass sich die MdE auf 20 v.H. belaufe. An Folgen des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 bestünden Rückenschmerzen bei Belastung und Ruhe, posttraumatische degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, ein Zustand nach LWK-1-Kompressionsfraktur sowie Schmerzen im Bereich des linken Handgelenks mit Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit und Beweglichkeit. Unfallunabhängig läge dagegen ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom vor. Gegenüber den Befunden, welche dem Gutachten der Prof. Dr. K./PD Dr. G./Dr. E. zugrunde gelegen seien, sei keine Veränderung eingetreten. Die Kopfbewegungen der Halswirbelsäule seien in Rotation nach rechts und Vorneige um 1/3 eingeschränkt. Die Brust- und Lendenwirbelsäule sei in Rotation und Seitneige zur Hälfte eingeschränkt. Die Handflächenbeschwielung sei seitengleich, der Händedruck seitengleich kräftig. Im Bereich des linken Handgelenks könne ein Druckschmerz über dem Daumensattelgelenk ausgelöst werden. Die Beweglichkeit der Fingergelenke sei regelrecht. Die Beweglichkeit des linken Handgelenks betrage 30-0-20°, 20-0-20° (im Vergleich zu 50-0-30°, 40-0-30° rechts). Röntgenologisch fänden sich eine Sklerosierung der Grund- und Deckplatten LWK 3 - 4, eine geringe keilförmige Deformierung bei Zustand nach LWK-1-Kompression mit ventraler Höhenminderung sowie degenerative Veränderungen der darüber- und darunterliegenden Wirbelkörper mit ventraler Spondylose und Verschmälerung der Intervertebralräume im Abschnitt LWK 3 - 4.

Der Beratungsarzt Dr. K. folgte der Einschätzung der Sachverständigen Dr. H.-K. in der Stellungnahme vom 09.04.2006 nicht. Der unfallbedingte Vorderkantenabriss des 1. LWK könne nicht ursächlich für den dokumentierten LWK-1-Kompressionsbruch sein. Die distale Radiusfraktur bedinge lediglich eine MdE von 10 v.H.

Mit Bescheid vom 27.05.2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente infolge des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 ab. Die unfallbedingte Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks nach distaler Radiusfraktur links rechtfertige keine MdE von mindestens 20 v.H. Über den Stützrententatbestand werde erst nach Abschluss des anhängigen Gerichtsverfahrens wegen des Arbeitsunfalls vom 19.06.1980 (S 5 U 40/03, L 3 U 129/06) entschieden. Den folgenden Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2008 zurück.

Dagegen erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 01.09.2009 Klage zum Sozialgericht Augsburg mit dem Ziel der Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. Daneben stellte der Kläger Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Person.

Das Gericht zog daraufhin die Schwerbehindertenakte des Klägers bei. In ihr befand sich der Röntgenbefundbericht vom 17.01.1985, welcher eine angedeutete keilförmige Veränderung des 1. LWK auswies, welche möglicherweise nach leichter Kompressionsfraktur entstanden sei. Nach dem Bescheid des Versorgungsamtes Ulm vom 31.03.2000 leide der Kläger unter anderem an degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen und einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung.

Des Weiteren holte das Gericht die Gerichtsakte S 5 U 40/03 ein. Mit Beschluss vom 11.01.2010 lehnte es den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wie anschließend auch das Bayerische Landessozialgericht mit Beschluss vom 03.01.2011 () ab.

Mit Bescheid vom 20.10.2009 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit als Stützrente infolge des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 nach einer MdE von 10 v.H. ab 24.09.2004.

Den Beteiligten wurde Gelegenheit gegeben, sich vor Erlass des Gerichtsbescheids zu äußern.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 27.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2008 und des Bescheids vom 20.10.2009 zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. infolge des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Beklagten-, Schwerbehinderten- und Gerichtsakten (S 5 U 40/03, S 5 U 253/08) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die zu entscheidende Sache mit keinen besonderen Schwierigkeiten verbunden und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zur Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, gehört.

Die gemäß §§ 87, 90, 92 SGG form- und fristgerecht erhobene Klage zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Augsburg (§§ 8, 51 Abs. 1 Nr. 3, 57 SGG) ist zulässig.

Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid vom 27.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2008 und der Bescheid vom 20.10.2009 sind rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat infolge des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H.

Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte nach Eintritt eines Versicherungsfalles einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, sofern sie die besonderen Voraussetzungen des SGB VII für die Gewährung der konkreten Geldleistung erfüllen. So haben beispielsweise diejenigen Versicherten einen Anspruch auf eine Verletztenrente, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Abweichend von diesem Grundsatz besteht nach § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII für jeden Versicherungsfall, auch für einen früheren, Anspruch auf Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind dabei allerdings nur dann zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern, § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII.

Als Voraussetzung der Gewährung von Entschädigungsleistungen infolge eines Arbeitsunfalls müssen die versicherte Tätigkeit, der Unfall und die Gesundheitsschädigung im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung für die Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die "hinreichende" Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (Bundessozialgericht - BSG, SozR 3-2200 § 551 RVO Nr. 16 m.w.N.). Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gestützt werden kann (BSG, Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77, Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.12.2008, L 3 U 1038/05).

Am 04.03.1975 stürzte der Kläger während seiner Tätigkeit als Montagefacharbeiter beim Bauunternehmen T. in A. von einer Leiter zu Boden und verletzte sich dabei. Infolgedessen liegt ein dem Grunde nach entschädigungspflichtiger Versicherungsfall in Form eines Arbeitsunfalls im Sinne von §§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII vor.

An Unfallfolge ist eine Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks nach distaler Radiusfraktur verblieben. Ob darüber hinaus auch eine keilförmig ausgeheilte Fraktur des 1. LWK als Unfallfolge anzuerkennen ist, kann offenbleiben, da aufgrund der vorliegenden Befunde die Unfallfolgen auch bei Anerkennung der Kompressionsfraktur als Unfallfolge keine MdE von mindestens 20 v.H. rechtfertigen.

Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bei der Bemessung der MdE werden Nachteile berücksichtigt, die der Versicherte dadurch erleidet, dass er bestimmte von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen in Folge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung zugemutet werden kann, ausgeglichen werden (BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 25/05 R). Ausgangspunkt ist die individuelle Erwerbsfähigkeit des Verletzten im Zeitpunkt des Versicherungsfalles. Damit zu vergleichen sind die Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Folgen des Versicherungsfalls und der Umfang der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten. Dem entsprechend ist unter MdE der durch die gesundheitlichen (körperlichen, seelischen und geistigen) Folgen des Versicherungsfalls bedingte Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem Gebiet des gesamten Erwerbslebens zu verstehen. Der Grad der MdE ist die Differenz zwischen der vor dem Versicherungsfall vorhanden gewesenen und der danach noch bestehenden Erwerbsfähigkeit. Besondere berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten sind nicht zu berücksichtigen (Becker/Burchardt/Krasney/Kru-schinsky, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 Rdnr. 41 m.w.N.).

Die Bemessung des Grades der MdE wird in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden. Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 25/05 R m.w.N.).

Neben diesen auf tatsächlichem Gebiet liegenden Umständen für die Bemessung der MdE sind aus der gesetzlichen Definition der MdE sowie den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung fließende rechtliche Vorgaben zu beachten. Bestanden bei dem Versicherten vor dem Versicherungsfall bereits gesundheitliche, auch altersbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit (sog. Vorschäden), werden diese nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der einhelligen Auffassung in der Literatur für die Bemessung der MdE berücksichtigt, wenn die Folgen des Versicherungsfalles durch die Vorschäden beeinflusst werden. Denn Versicherte unterliegen mit ihrem individuellen Gesundheitszustand vor Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies verlangt § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wonach die "infolge" des Versicherungsfalls eingetretene Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und die dadurch verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens maßgeblich sind (BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 25/05 R m.w.N.).

Nach Schönberger, Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. - S/M/V -, S. 544 bedingt der Speichenbruch mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 40° eine MdE von 10 v.H. Der Speichenbruch mit erheblicher Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 80° rechtfertigt eine MdE von 20 bis 30 v.H. Eine isolierte Radiuspseudoarthrose ist mit einer MdE von 20 bis 30 v.H., eine Handgelenksversteifung mit einer MdE von 25 bis 40 v.H. zu bewerten. Mehrhoff, Meindl, Muhr sehen in Unfallbegutachtung, 12. Aufl. - M/M/M -, S. 160 eine MdE von 10 v.H. für einen Speichenbruch mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 40° vor. Ein Speichenbruch mit erheblicher Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 80° bedingt eine MdE von 30 v.H., die Versteifung des Handgelenks in Nullstellung 0/0/0° oder 10/0/10° eine MdE von 20 bis 30 v.H.

Zur Beurteilung eines Folgezustands nach Wirbelsäulenverletzung steht die Wirbelsäulenfunktion im Vordergrund. Analog zur Beurteilung peripherer Gelenkschäden steht die segmentale Gesamtbeweglichkeit und die Störung eines oder auch mehrerer Bewegungs-segmente allein im Mittelpunkt der MdE-Schätzung (S/M/V S. 441). Kriterien für das Einschätzen der MdE nach Wirbelsäulenverletzung sind die stabile oder instabile Ausheilung, eine Ankylose oder eine Instabilität des Bewegungssegments, die Achsenabweichung, die ungenügende Wiederertüchtigung der Wirbelsäulenhaltemuskulatur sowie der Grad der Bandscheibenbeteiligung.

Die MdE eines isolierten Wirbelkörperbruchs ohne Bandscheibenbeteiligung bzw. mit Bandscheibenbeteiligung bei stabiler Ausheilung beträgt nach S/M/V S. 442 unter 10 v.H., bei einer voll ausgebildeten Wirbelsäulenverletzung mit Stückbruch und Bandscheibeninterposition 10 bis 30 v.H. Mit Hilfe des Segmentprinzips können Verletzungen an der Wirbelsäule weiter differenziert werden. Nach M/M/M S. 155 ist der Wirbelkörperbruch ohne Nervenbeteiligung je nach Leistungsfähigkeit der Wirbelsäule mit einer MdE von 10 bis 20 v.H. zu bewerten.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist keine MdE von mindestens 20 v.H. zu begründen. Die unfallbedingten Folgen der Handgelenksverletzung allein rechtfertigen keinesfalls eine MdE von 20 v.H. Die Beweglichkeit des linken Handgelenks weicht nur geringfügig von derjenigen des rechten Handgelenks ab. Die Fingerbeweglichkeit und der Faustschluss sind links nicht beeinträchtigt. Die Kraftentfaltung der linken Hand ist weitgehend regelrecht, worauf auch die Verarbeitungszeichen hinweisen. Die Folgen des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 am linken Handgelenk sind damit nicht annähernd denjenigen eines versteiften Handgelenks gleichzustellen. Selbst bei Anerkennung eines Kompressionsbruchs des 1. LWK lässt sich von Seiten der Wirbelsäule keine MdE begründen. Denn dieser Bruch ist folgenlos ausgeheilt. Die beim Kläger nunmehr bestehenden Wirbelsäulenbeschwerden werden nicht durch die Folgen des Kompressionsbruches sondern durch die unfallunabhängigen erheblichen degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule verursacht. In Zusammenschau der Unfallfolgen lässt sich damit auch bei Anerkennung des Kompressionsbruches als Unfallfolge keine MdE von mindestens 20 v.H. begründen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass dem Kläger keine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. infolge des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 zu gewähren ist.

Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 193 SGG abzuweisen.
Rechtskraft
Aus
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