S 4 R 875/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 R 875/16
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Versicherte, die in Polen nach Erwerb der allgemeinen Hochschulreife als Lagerleiterin tätig war, ist nach fünfjähriger Berufserfahrung in Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI einzugruppieren.
I. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 18. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. September 2016 verpflichtet, die Bescheide vom 5. Januar 2012 und 18. Mai 2016 teilweise zurückzunehmen und die Altersrente der Klägerin für schwerbehinderte Menschen unter Zuordnung der Zeit vom 1. Februar 1980 bis 31. Januar 1981 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI neu festzustellen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat der Klägerin 1/4 ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Zuordnung und Bewertung der von der Klägerin in Polen zurückgelegten Beitragszeiten nach der Anlage 13 zum Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

Die Klägerin war ab dem 18.10.1968 bis zur Aussiedlung ins Bundesgebiet am 31.05.1988 in ihrem Herkunftsland Polen wie folgt beschäftigt:

- 18.10.1968 bis 18.06.1969: Clubverwalterin (Wirtin, Verlagsgenossenschaft) - 04.09.1969 bis 25.06.1972: Vorarbeiterin (Flachsindustriebetriebe) - 01.01.1973 bis 31.07.1974: Vorarbeiterin - 02.08.1974 bis 09.04.1975: Magazinleiterin (Lagerleiterin der fertigen Produkte, Kohle-Elektrodenbetrieb) - 14.08.1975 bis 08.09.1975: Magazinleiterin - 01.01.1976 bis 30.05.1988: Magazinleiterin

Am 08.04.1971 erwarb sie die allgemeine volkspolnische Hochschulreife.

Die von der Klägerin in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten wurden von der Beklagten mit Bescheid vom 06.01.2005 als glaubhaft gemachte bzw. nachgewiesene Zeiten der Qualifikationsgruppe 5 der Anlage 13 zum SGB VI festgestellt. Mit Bescheid vom 05.01.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.01.2012.

Mit Schreiben vom 09.03.2016 und 18.04.2016 beantragte die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten, den Bescheid vom 05.01.2012 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) teilweise abzuändern und die von der Klägerin in der ehemaligen Volksrepublik Polen zurückgelegten Pflichtversicherungszeiten jedenfalls ab dem 01.01.1976 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI einzustufen sowie den Beschäftigungszeitraum vom 02.08.1974 bis zum 30.05.1988 dem Wirtschaftsbereich 03/Metallurgie der Anlage 14 zum SGB VI zuzuordnen. Die Klägerin habe - in der Endphase berufsbegleitend - am 11.06.1971 die allgemeine volkspolnische Hochschulzugangsreife erworben. Auf der Grundlage des allgemeinbildenden Reifezeugnisses fußende Facharbeiterausbildungen im damaligen Volkspolen seien gängig gewesen und hätten lediglich ein Jahr gedauert. Deshalb sei es zwingend angezeigt, die Höhergruppierung in die Qualifikationsgruppe 4 jedenfalls nach Ablauf des unbezahlten Erziehungsurlaubs für die zweitgeborene Tochter am 31.12.1975 vorzunehmen und bis zur Aussiedlung ins Bundesgebiet am 31.05.1988 beizubehalten.

Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 18.05.2016 die Altersrente der Klägerin für schwerbehinderte Menschen nach § 44 SGB X neu fest. Sie legte dabei ab dem 01.02.1981 die Qualifikationsgruppe 4 zu Grunde und ordnete die Tätigkeit vom 02.04.1974 bis 30.05.1988 dem Wirtschaftsbereich 01 zu. Im Übrigen lehnte sie es ab, den Bescheid vom 05.01.2012 zurückzunehmen. Die Einordnung in die Qualifikationsgruppe 4 setze den vorherigen Abschluss einer entsprechenden Facharbeiterqualifikation (in der Regel drei Jahre) oder eine längere mehrjährige Berufstätigkeit voraus. Der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten neben der Arbeit dauere üblicherweise wesentlich länger als eine gezielte Unterrichtung und setze daher die doppelte Zeit gegenüber einer adäquaten Ausbildung voraus. Bei der Qualifikationsgruppe 4 sei von einer vollwertigen Tätigkeit nach sechs Jahren auszugehen. Die Klägerin sei ab 02.08.1974 als Lagerleiterin beschäftigt gewesen. Der Zeitraum von sechs Jahren habe sich durch Zeiten des Mutterschutzes vom 10.04.1975 bis 13.08.1975 sowie des Erziehungsurlaubs vom 09.09.1975 bis 31.12.1975 verlängert. Die vorherigen Tätigkeiten als Vorarbeiterin könnten für die Ausübung einer vollwertigen Tätigkeit nicht zusammengefasst und nicht bei der Beurteilung einer vollwertigen Tätigkeit von 72 Monaten mitgezählt werden.

Die Klägerin erhob durch ihren Bevollmächtigten am 13.06.2016 Widerspruch. Jedenfalls ab dem 01.02.1977 sei die Qualifikationsgruppe 4 anzuerkennen. Es bleibe unwidersprochen, dass sich die vollwertige Tätigkeit auf den Zeitraum vom 02.08.1974 bis 30.05.1988 verenge und die vorherigen Tätigkeiten als Vorarbeiterin nicht mitgezählt werden könnten. Die Regelvermutung, dass langjährige Berufserfahrung erst nach sechs Jahren in Betracht komme, fuße auf einem seinerzeitigen allgemeinbildenden Volksschulabschluss von 7 - ab 1968 8 - Schuljahren. Die Klägerin habe jedoch - in der Endphase berufsbegleitend - am 11.06.1971 die allgemeine volkspolnische Hochschulzugangsreife erworben. Auf der Grundlage des allgemeinbildenden Reifezeugnisses fußende Facharbeiterausbildungen hätten lediglich ein Jahr gedauert, so dass die doppelte Zeit mithin zwei Jahre bzw. 24 Monate betrage. Unter Mitberücksichtigung der Zeiten des Mutterschutzes sowie Erziehungsurlaubes erweise sich infolgedessen die Zuordnung zur Qualifikationsstufe 4 ab dem 01.02.1977 als sachgerecht.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.09.2016 zurück. Die beantragte Höherstufung bereits nach zwei Jahren sei nicht möglich. Es liege der Beklagten ein Gutachten des Instituts für Ostrecht München e.V. vor, wonach für die Qualifikation zum Lageristen keine Möglichkeit bestanden habe, eine nachlyzeale Berufsschule im Umfang von nur einem Jahr zu besuchen. Vielmehr hätten Absolventen der Grundberufsschule zur Erlangung der Berufsqualifikation zum Lageristen noch eine vierjährige Ausbildung in einem Technikum bzw. Berufslyzeum ableisten müssen.

Am 14.09.2016 hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage erhoben. Im Widerspruchsbescheid sei das Gutachten des Instituts für Ostrecht München e.V. fehlinterpretiert und nicht der Erwerb einer Facharbeiterqualifikation im Sinne der Qualifikationsstufe 4, sondern der Erwerb der Fachschulabsolventenqualifikation der Qualifikationsstufe 2 der Anlage 13 zum SGB VI beschrieben worden. In der ehemaligen Volksrepublik Polen habe es post- bzw. nachlyzeale Facharbeiterausbildungen gegeben, die einjährig bzw. eineinhalbjährig gewesen seien. Diese alternativen Berufsausbildungen seien nicht in sämtlichen gängigen Facharbeiterberufen angeboten worden. Es sei untypisch gewesen, dass die Klägerin nicht nur über den üblichen Volksschulabschluss, sondern über die allgemeinbildende Hochschulreife verfügt habe. Zudem sei sie nicht nur als Lageristin bzw. Magazinerin, sondern als Lager- bzw. Magazinleiterin tätig gewesen. Die ordentliche Facharbeiterausbildungszeit müsse nicht ausnahmslos verdoppelt werden. Sie könne vielmehr einzelfallabhängig unter- bzw. überschritten werden. Der Fall der Klägerin sei - wie oben dargestellt - zweifach atypisch. Die Beklagte müsse deshalb ihr Ermessen betätigen und die Höherstufung früher vornehmen. Es ist auf ein Urteil des Berliner Sozialgerichts (SG) vom 05.11.2014 verwiesen worden, demzufolge keine sechsjährige Berufserfahrung zur Erlangung der Facharbeiterqualifikation im Wege der langjährigen Berufserfahrung zu verlangen sei, sondern lediglich eine fünfjährige. Die Berufung zum Landessozialgericht (LSG) sei nach richterlichem Hinweis durch das LSG zurückgenommen worden.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass es keine post- bzw. nachlyzeale Berufsausbildung zum Lageristen gegeben habe. Ausgehend vom Rechtsgutachten des Institutes für Ostrecht sei die Ausbildung zum Lageristen mit dem Besuch einer Berufsgrundschule verbunden gewesen, die üblicherweise zwei bis drei Jahre gedauert habe. Die für den Erwerb langjähriger Berufserfahrung notwendige Zeitspanne sei immer dann nach der Regelvermutung zu beurteilen, wenn keine individuellen Anhaltspunkte dafür vorliegen würden, dass die erforderlichen Fähigkeiten bereits zu einem früheren Zeitpunkt erworben worden sein könnten. Entsprechende individuelle Anhaltspunkte würden sich vorliegend nicht ergeben. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast müsse die Klägerin somit die Anwendung der Regelvermutung hinnehmen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.09.2016 zu verpflichten, die Bescheide vom 05.01.2012 und 18.05.2016 teilweise zurückzunehmen und die Altersrente der Klägerin für schwerbehinderte Menschen unter Zuordnung der Zeit vom 01.02.1977 bis 31.01.1981 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI neu festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Augsburg form- und fristgerecht erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig, erweist sich jedoch nur teilweise als begründet.

Der Bescheid vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2016 ist insoweit rechtswidrig und aufzuheben, als die Beklagte es abgelehnt hat, den Bescheid vom 05.01.2012 teilweise zurückzunehmen und die Berechnung der Altersrente der Klägerin für schwerbehinderte Menschen unter Zuordnung der Zeit vom 01.02.1980 bis 31.01.1981 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI vorzunehmen. Hinsichtlich der Einstufung der von der Klägerin in der Zeit vom 01.02.1977 bis 31.01.1980 ausgeübten Tätigkeit in die Qualifikationsgruppe 5 der Anlage 13 zum SGB VI ist der Bescheid vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2016 nicht zu beanstanden. Nicht durch Klage angefochten ist der Bescheid vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2016 insoweit, als die Beklagte die Tätigkeit der Klägerin vom 02.04.1974 bis 30.05.1988 dem Wirtschaftsbereich 01 zugeordnet hat.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall teilweise erfüllt. Bei Erlass der Rentenbewilligungsbescheide vom 05.01.2012 und 18.05.2016 hat die Beklagte § 256b Abs. 1 Satz 1 SGB VI in Verbindung mit der Anlage 13 zum SGB VI unrichtig angewandt und der Klägerin deshalb Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten. Der Klägerin stehen Leistungen aufgrund einer Zuordnung der Versicherungszeiten zu Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI auch für die Zeit vom 01.02.1980 bis 31.01.1981 zu.

Die von der Klägerin in Polen zurückgelegten Beitragszeiten sind nach Art. 4 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 09.10.1975 (Bundesgesetzblatt 1976 II, Seite 396) in die bundesdeutsche gesetzliche Rentenversicherung zu übernehmen. Da die Klägerin ihren Wohnsitz bereits seit 31.05.1988 im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland hat, ist das Abkommen von 1975 trotz des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens vom 08.12.1990 (siehe Art. 27 Abs. 2 des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens vom 08.12.1990) und des mittlerweile erfolgten EU-Beitritts von Polen anzuwenden. Nach Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 12.03.1976 zum Abkommen vom 09.10.1975 (Bundesgesetzblatt 1976 II, Seite 393) in der Fassung durch Art. 20 Nr. 2 und 3 des Rentenreformgesetzes 1992 vom 18.12.1989 (Bundesgesetzblatt 1989 I, S. 2261) sind die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigenden Zeiten bei der Feststellung einer Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in Anwendung des Fremdrentengesetzes (FRG) und des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu berücksichtigen, solange der Berechtigte - wie die Klägerin - im Gebiet der Bundesrepublik nach dem Stand vom 02.10.1990 wohnt.

Nach § 15 Abs. 1 FRG werden die bei einem nicht-deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten so behandelt, als ob es sich um inländische Beitragszeiten handeln würde. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 FRG werden für Zeiten der in §§ 15 und 16 FRG genannten Art Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Satz 2 und Satz 9 SGB VI ermittelt. Übergangsrecht kommt der Klägerin nicht zugute. Nach Art. 6 § 4 Abs. 3 Satz 3 FANG ist das FRG uneingeschränkt in seiner vom 01.07.1990 an geltenden Fassung anzuwenden, da die bereits am 31.05.1988 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelte Klägerin erstmals für einen Zeitraum nach dem 31.12.1995 Anspruch auf Zahlung einer Rente hatte.

§ 256b Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI zufolge werden Entgeltpunkte nach Durchschnittsverdiensten ermittelt, die sich nach Einstufung der Beschäftigung in eine der in Anlage 13 genannten Qualifikationsgruppen und nach Zuordnung der Beschäftigung zu einem der in Anlage 14 genannten Bereiche ergeben. Nach Anlage 13 zum SGB VI sind Versicherte in eine der aufgeführten Qualifikationsgruppen einzustufen, wenn sie deren Qualifikationsmerkmale erfüllen und eine entsprechende Tätigkeit ausgeübt haben. Haben Versicherte aufgrund langjähriger Berufserfahrung Fähigkeiten erworben, die üblicherweise denen von Versicherten einer höheren Qualifikationsgruppe entsprechen, sind sie in diese Qualifikationsgruppe einzustufen. In "Qualifikationsgruppe 4 Facharbeiter" sind Personen einzustufen, die nach abgeschlossener Ausbildung in einem Ausbildungsberuf die Facharbeiterprüfung bestanden haben und im Besitz eines Facharbeiterzeugnisses (Facharbeiterbrief) sind oder denen aufgrund langjähriger Berufserfahrung entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen im Beitrittsgebiet die Facharbeiterqualifikation zuerkannt worden ist. In "Qualifikationsgruppe 5 angelernte und ungelernte Tätigkeiten" werden Personen eingruppiert, die eine Ausbildung auf Teilgebieten eines Ausbildungsberufes abgeschlossen haben und im Besitz eines entsprechenden Zeugnisses sind, Personen die in einer produktionstechnischen oder anderen speziellen Schulung für eine bestimmte Tätigkeit angelernt worden sind sowie Personen ohne Ausbildung oder spezielle Schulung für die ausgeübte Tätigkeit.

Bei der notwendigen analogen Anwendung der auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR zugeschnittenen Eingruppierungsmerkmale ist von der im Herkunftsgebiet erworbenen beruflichen Ausbildung und Qualifikation unter Beachtung des dort geltenden beruflichen, schulischen und universitären Bildungssystems auszugehen. Sodann ist zu fragen, welcher Qualifikationsgruppe - übertragen auf die Verhältnisse in der DDR - diese berufliche Ausbildung und Qualifikation materiell entspricht (Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 23.09.2003, Az. B 4 RA 48/02 R, und vom 12.11.2003, Az. B 8 KN 2/03, juris).

In Anwendung dieser Grundsätze sind zwar die von der Klägerin in der Zeit vom 01.02.1980 bis 31.01.1981 als Lagerleiterin zurückgelegten Beitragszeiten in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI einzustufen. Eine Einstufung auch der in der Zeit vom 01.02.1977 bis 31.01.1980 als Lagerleiterin zurückgelegten Beitragszeiten in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI kommt jedoch nicht in Betracht.

Die Klägerin verfügt über keine der in Anlage 13 zum SGB VI für die "Qualifikations-gruppe 4 Facharbeiter" genannte Qualifikation. Ein Ausbildungsberuf konnte in Polen durch die Ausbildung an Berufsschulen oder durch betriebliche Lehre erlangt werden. An den Berufsschulen wurden Absolventen der 7- bzw. später 8-jährigen Grundschule innerhalb von 2 bis 3 Jahren zu Facharbeitern ausgebildet. Die Ausbildungsdauer bei betrieblicher Ausbildung lag zwischen 2 und 4 Jahren bzw. ab Anfang der siebziger Jahre bei 2 bis 3 Jahren. Für Absolventen des allgemeinbildenden Lyzeums gab es seit den 60iger Jahren für eine eher geringe Anzahl von Facharbeiterberufen eine einjährige Ausbildung an postlyzealen Schulen (Michael Müller in DAngVers 10/95, Die Qual mit den Qualifikationsgruppen, S. 354 ff., dort S. 357). Die Klägerin hat keine dieser Ausbildungen absolviert.

Eine Zuordnung zu Qualifikationsgruppe 4 kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Klägerin aufgrund langjähriger Berufserfahrung eine Qualifikation erlangt hat, die der Qualifikationsgruppe 4 entspricht. Unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung entwickelten Auslegungsgrundsätze ist erforderlich, dass der höherwertige Beruf während eines Zeitraums ausgeübt wurde, der ausreicht, um die theoretischen und praktischen Fähigkeiten für eine vollwertige Berufsausübung auch ohne formelle Ausbildung zu vermitteln. Hierbei kommt es jeweils auf den ausgeübten Beruf an. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu den Leistungsgruppen ist jedenfalls davon auszugehen, dass eine langjährige Berufstätigkeit nicht früher als nach einer regulären Ausbildung zu dem Erwerb entsprechender Fachkenntnisse und Fähigkeiten führen kann (BSG, Urteil vom 10.07.1985, Az. 5a RKn15/84, juris). Da der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten neben der Arbeit üblicherweise wesentlich länger als eine gezielte Unterweisung während einer geordneten mehrjährigen Ausbildung dauert, ist regelmäßig die doppelte Zeit der üblichen Ausbildung anzusetzen (Urteile des Bayer. LSG vom 19.03.2014, Az. L 1 R 1000/12, und des Hess. LSG vom 22.07.2014, Az. L 2 R 43/13, juris).

Eine der Qualifikationsgruppe 4 entsprechende Tätigkeit hat die Klägerin unstreitig ab dem 01.02.1981 als Lagerleiterin ausgeübt. Nach Ansicht des Gerichts ist die Tätigkeit der Klägerin als Lagerleiterin bereits ab 01.02.1980 in die Qualifikationsgruppe 4 einzustufen. Denn wie oben ausgeführt erwarben die Absolventen der Grundschule ab den 1970iger Jahren eine Facharbeiterqualifikation durch eine 2- bis 3-jährige Ausbildung. Infolgedessen kann von einer durchschnittlichen Regelausbildungszeit von 2 1/2 Jahren für eine Facharbeiterausbildung in Polen ausgegangen werden (so auch Urteil des SG Berlin vom 05.11.2014, Az. S 31 R 2522/10, Bl. 67 ff. der Gerichtsakte; ähnliche Vorgehensweise für die Qualifikationsgruppe 2: Urteil des Hess. LSG vom 22.07.2014, Az. L 2 R 43/13, juris). Die doppelte Zeit der üblichen Ausbildung betrug somit fünf Jahre. Das von der Beklagten zitierte Rechtsgutachten des Instituts für Ostrecht München e.V. bietet für den Erwerb einer beruflichen Grundausbildung keine zusätzlichen bzw. abweichenden Erkenntnisse. Unter Berücksichtigung der Zeiten des Mutterschutzes und des Erziehungsurlaubes kann davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre Tätigkeit als Lagerleiterin bereits ab 01.02.1980 vollwertig auf dem Niveau eines Facharbeiters ausgeübt hat.

Die von der Klägerin vom 04.09.1969 bis 25.06.1972 und vom 01.01.1973 bis 31.7.1974 ausgeübte Tätigkeit als Vorarbeiterin in der Flachsindustrie kann nicht mitgezählt werden und zu einer früheren Einstufung in Qualifikationsgruppe 4 führen. Denn es handelt sich bei der Tätigkeit als Vorarbeiterin in der Flachsindustrie um eine völlig andere Tätigkeit mit einem anderen Zugangsberuf als dem des Lageristen.

Nachvollziehbare Belege dafür, dass die Klägerin abweichend von der angewandten typisierenden Betrachtungsweise bereits zu einem früheren oder erst zu einem späteren Zeitpunkt das Facharbeiterniveau erreicht hat, liegen nicht vor. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es für den Beruf des Lageristen in Polen eine nur einjährige postlyzeale Ausbildung für Absolventen des allgemeinbildenden Lyzeums gegeben hat. Angesichts dessen kann die Klägerin nicht - wie begehrt - bereits nach zwei Jahren (Verdoppelung einer einjährigen postlyzealen Ausbildungszeit) und somit unter Berücksichtigung der Zeiten des Mutterschutzes und des Erziehungsurlaubes ab 01.02.1977 in die Qualifikationsgruppe 4 eingestuft werden.

Nach Auffassung des Gerichts kann nicht generell bei Vorliegen der allgemeinen Hochschulreife von einem früheren Erlangen der Qualifikation durch langjährige Berufserfahrung und damit von einem atypischen Fall ausgegangen werden. Denn die Allgemeinbildung, die zum Erwerb der allgemeinen Hochschulreife vermittelt wird, unterscheidet sich stark von den Kenntnissen und Fähigkeiten, die im Rahmen einer Berufsausbildung vermittelt werden. Die Tatsache, dass die Klägerin Lagerleiterin und nicht bloße Lagerarbeiterin war, kann ebenfalls nicht zu einer früheren Einstufung in Qualifikationsgruppe 4 aufgrund eines atypischen Falles führen. Mit dieser Argumentation könnte lediglich die Einstufung in eine noch höhere Qualifikationsgruppe als die Qualifikationsgruppe 4 geltend gemacht werden. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist jedoch lediglich die Ablehnung der Beklagten, eine frühere Höherstufung in Qualifikationsgruppe 4 vorzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht der Entscheidung in der Hauptsache. Die Klägerin war mit ihrer auf eine vier Jahre frühere Eingruppierung in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI gerichteten Klage lediglich im Umfang von einem Jahr erfolgreich. Nach Auffassung des Gerichts war es deshalb sachgerecht, dass die Beklagte der Klägerin 1/4 ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten erstattet.
Rechtskraft
Aus
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