S 6 KR 108/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 KR 108/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2003 verurteilt, dem Kläger 3,4 DAP zur Ver- fügung zu stellen und ihm seit Januar 2003 entstandene Beschaffungskosten entsprechend den von ihm vorzulegen- den bezahlten Rechnungen zu erstatten. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen kosten des Klägers.

Tatbestand:

Mit der Klage vom 09.07.2003 gegen den Bescheid der Beklagten vom 16.12.20002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2003 fordert der Kläger die Kostenübernahme für das Arzneimittel "3,4-Diaminopyridin" (3,4-DAP) zur Behandlung seines Lampert-Eaton-Syndroms (LES).

Bei dem 1940 geborenen Kläger - Diplomingenieur (Elektrotechnik) / seit dem 01.07.2001 Rentner - ist Anfang der 90iger Jahre eine LES festgestellt worden, eine Erkrankung, bei der durch Antikörper gegen Kalziumkanäle die neuromuskuläre Signalübertragung blockiert und infolge dessen eine Schwächung der Extremitäten-Muskel verursacht wird. Seit 1999 ist der Kläger mit 3,4-DAP im Rahmen eines individuellen Heilversuchs behandelt worden. Seit Januar 2003 zahlt er die Arnzeimittelkosten selbst.

Unter Vorlage einer Bescheinigung seines behandelnden Nervenfacharztes C1 vom 30.10.2002 beantragte der Kläger am 08.11.2002 die Kostenübernahme für 3,4-DAP. Die Behandlung seines LES mit 3,4-DAP sei erwiesenermaßen wirksam; eine immundepressive Therapie habe sich erübrigt; die Schwäche in den Extremitätenmuskeln habe sich gebessert; es gäbe kein zugelassenes Alternativpräparat; in dem Standard-Lehrbuch von Brandt, Dichgnas und Diener, "Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen", 3. Aufl., 1998, werde 3,4-DAP zur Behandlung des LES empfohlen. Gestützt auf die Gutachten des MDK(Medizinischer Dienst der Krankenversicherung)-Arztes U vom 04.12.2002 und 02.04.2003 und des MDK-Nervenfacharztes C2 vom 23.01.2003 sowie unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme des PD T, N-Q-J für Psychiatrie in N1, vom 14.03.2003 und der beigefügten Studie von Sanders u.a. (Neurology 54/2000, 603 ff.) lehnte die Beklagte mit den oben genannten Bescheiden eine Kostenübernahme für 3,4-DAP ab, weil - es als Fertigarzneimittel weder in Deutschland noch im Ausland arzneimittelrechtlich zugelassen, damit nicht verkehrsfähig und auch nicht verordnungsfähig sei und - der Versorgung mit 3,4-DAP als Rezepturarzneimittel die fehlende Empfehlung des Bundesauschusses der Ärzte und Krankenkassen (BÄK) entgegenstehe.

Mit der hiergegen gerichteten Klage verfolgt der Kläger sein Sachleistungs- und Erstattungsbegehren weiter. Er verweist auf die bereits 1990 in den USA und am 18.12.2002 für den EG-Bereich erfolgte Zubilligung des orphan-drugstatus, die Empfehlung der 3,4-DAP-Therapie in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vom 22.11.2002 und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach Defizite des Arzneimittelrechts nicht dazu führen dürfen, dass den Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien vorenthalten werden; auch im MSD-Manual werde zur Behandlung des LES nur 3,4-DAP empfohlen. Zur Stützung seines Vorbringens legt der Kläger die Auskunft des PD T vom 14.04.2004 nebst Auszügen aus zwei medizinischen Standardwerken - Brand u.a. "Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen"/Köhler, Sieb, "Myasthenia gravies", 2. Aufl., 2003 - vor.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2003 zu verurteilen, ihm zur Behandlung seines Lambert-Eaton-Syndroms 3,4-DAP zur Verfügung zu stellen und die bislang entstandenen und durch bezahlte Rechnunge nachzuweisenden Beschaffungskosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt der von ihr erteilten Bescheide und die diesen zugrundeliegenden MDK-Gutachten.

Es ist Beweis erhoben worden durch Beiziehung - der Krankenpapiere des N2, - der lögd (Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW)-Recherche vom 15.08.2003. - der Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses (Gemba) vom 13.02.2004, - der Leitlinie der DGN, Nr. 030/064 "Paraneoplastische Syndrome" vom 04.07.2002 sowie - der Auskunft des federführenden Autors der obigen Leitlinie, Prof. Dr. Voltz, vom 30.03.2004.

Wegen des Beweisergebnisses wird auf den Inhalt der schriftlichen Unterlagen verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die Akten haben bei der Entscheidung vorgelegen und sind - soweit von Bedeutung - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig. Der Kläger hat gemäß §§ 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 S. 1 u. 2 Nr. 1, 28 Abs. 1 S. 1 des Sozialgesetzbuches - 5. Buch/Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V - einen Anspruch auf ärztliche Behandlung mit Verabreichung des Rezeptur-Arzneimittels 3,4-DAP als Pharmakotherapie bei vorliegendem Systemmangel und dementsprechend für die Vergangenheit einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V. Als Fertigarzneimittel im Sinne von § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V kann 3,4-DAP nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gemäß § 73 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 SGB V im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung verordnet werden, weil 3,4-DAP als Fertigarzneimittel keine Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) besitzt, damit nicht "apothekenpflichtig" im Sinne von § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V ist und damit nach § 29 Abs. 1 u. 10 des Bundesmanteltarifvertragsärzte iVm Abschnitt A Ziff. 3, 4, 13 der Arzneimittelrichtlinien (AMR) als nicht verkehrsfähiges Arzneimittel von der vertragsärztlichen Verordnung ausgeschlossen ist. Insoweit entfällt auch eine Verordnungsfähigkeit im Rahmen eines sog. off-label-use (Arzneimittelanwendung außerhalb der Zulassungsindikation), denn die insoweit ergangene Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -) greift im vorliegenden Fall nicht ein, weil diese sich nur auf Arzneimittel bezieht, die ein Zulassungsverfahren - für andere Indikation(en) - mit Erfolg durchlaufen haben (BSG Urt. v. 18.05.2004 - B 1 KR 21/02 R -). 3,4-DAP ist in keiner Form nach deutschem oder europäischen Arzneimittel-Recht zugelassen.

Als Rezeptur-Arzneimittel ist 3,4-DAP nach §§ 4 Abs. 1, 21 Abs. 1 AMG nicht zulassungspflichtig und kann daher im Rahmen einer Pharmako-Therapie vom Vertragsarzt verordnet bzw. unmittelbar verarbreicht werden, weil das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V dies nicht ausschließt. Neuartige Arzneitherapien sind von diesem Erlaubnisvorbehalt nicht ausgenommen, sofern das bei der Pharmako-Therapie eingesetzte Arzneimittel keiner arzneimittelrechtlichen Zulassung bedarf (BSG Urt. v. 23.07.1998 E 82, 233 u. v. 28.03.2000 - B 1 KR 11/98 R -). Nach § 135 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien Empfehlungen abgegeben haben über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinischen Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung. Obwohl eine solche Empfehlung des BÄK (jetzt Gemba) für 3,4-DAP zur Behandlung des LES nicht vorliegt, ist das sich daraus ergebende Verbot wegen eines Systemmangels aufgehoben. Das präventive Verbot des § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V dient allein der Qualitätssicherung und nur soweit es dieser Zweck erfordert, ist der Ausschluss ungeprüfter und nicht anerkannter Heilmethoden aus der vertragsärztlichen Versorgung gerechtfertigt. Wird dagegen die Einleitung oder die Durchführung des Verfahrens willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen blockiert oder verzögert und kann deshalb eine für die Behandlung benötigte neue Therapie nicht eingesetzt werden, widerspricht es dem Auftrag des Gesetzes; eine sich daraus ergebende Versorgungslücke muss zugunsten des Versicherten mit Hilfe des § 13 Abs. 3 SGB V geschlossen werden (BSG Urt. v. 28.03.2000). Bezüglich der Behandlung des LES besteht eine Versorgungslücke, weil einerseits ein verkehrs- und damit verordnungsfähiges Arzneimittel nicht zur Verfügung steht und andererseits ein, in Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechendes - § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V - ist, sodass jeder der Antragsberechtigten - Kassenärztliche Bundesvereinigung, eine der Kassenärztlichen Vereinigungen oder einer der Spitzenverbände der Krankenkassen - gehalten war und ist, die Qualitätsprüfung nach § 135 Abs. 1 SGB V zu beantragen. Die Nichtausübung des Antragsrechts ist ein Systemmangel, welcher der Beklagten zuzurechnen ist (BSG Urt. v. 16.09.1997 - 1 RK 17/95 u. 28/95 -), denn es ist gleichgültig, ob die Blockade der Entscheidung des BÄK vom BÄK selbst oder von den antragsberechtigten Verbänden ausgeht (BSG Urt. v. 19.02.2002 - B 1 KR 16/00 R - u. Beschl. v. 28.01.1999 - B 10 KR 1/98 B -; Plute u.a. WzS 6/98, 161 ff., 164, Anm 20).

Bei der streitentscheidenden Frage, in welcher Weise Qualität und Wirksamkeit der 3,4-DAP-Behandlung des LES nachgewiesen sein müssen, hält es die Kammer für ausreichend, dass sich diese Behandlungsmethode in der medizinischen Praxis durchgesetzt hat (BSG Urt. v. 16.09.1997 - 1 RK 17/95 u. 28/95 -). Hiervon ist auszugehen, wenn sie zum Einen in der Fachdiskussion eine breite Ressonanz gefunden hat und sie zum Anderen von einer erheblichen Zahl von Ärzten angewendet wird. Die Besonderheit des LES ist die geringe Anzahl der hieran erkrankten Personen - ca. 1:1.000.000 -, die es zum Einen erschwert, ausreichend große Patientenkohorten für eine randomisierte, doppel-verblindete Studie zusammenzustellen und zum Anderen interessierte Pharmaunternehmen wegen der Unwirtschaftlichkeit der Durchführung eines Zulassungsverfahrens für ein Arzneimittel für eine extrem niedrige zu erwartende Patienten- und Abnehmerzahl von der Durchführung teuerer Studien auch dann abhält, wenn aufgrund des orphen-drug-status keine Zulassungsgebühren zu zahlen sind. Dass sich die 3,4-DAP-Behandlung des LES in der medizinischen Praxis durchgesetzt hat, belegen für die Kammer - die Ausführungen in den Lehrbüchern von Brand u.a. "Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen", und Köhler/Sieb "Myasthenia gravis", 2003 u. im MSD-Manual, Tabelle B "LES" der Leitlinien der DGN, die dem Gericht erteilte Auskunft des federführenden Leitlinien-Autors Prof. Dr. Voltz vom 30.03.2004 sowie die vom Kläger vorgelegte Auskunft des T vom 14.04.2004.

Danach ist von einer generellen Wirksamkeit der 3,4-DAP-Behandlung bei hinnehmbarer Nutzen-Risiko-Relation auszugehen, dies vor dem Hintergrund, dass eine alternative Behandlungsmethode nicht zur Verfügung steht. Insbesondere die Empfehlung in medizinischen Standardwerken lässt den Rückschluss zu, dass in Anwendung dieser Empfehlung die 3,4-DAP-Behandlung des LES inzwischen zum Behandlungsstandard gehört. Die Nichtbeachtung einer solchen Empfehlung würde den behandelnden Arzt dem Vorwurf aussetzen, gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstossen zu haben, mit der Folge, dass strafrechtliche Ermittlungen wegen unterlassener Hilfeleistung oder sogar fahrlässiger Körperverletzung nicht auszuschließen sind. Das - mit empörtem Unterton - geäußerte Unterständnis der Fachärzte - PD T, W, C1 - bezüglich der Ablehnung der 3,4-DAP-Behandlung des LES durch die Beklagte belegt, wie selbstverständlich die Anwendung dieser Behandlungsmethode zwischenzeitlich in medizinischen Fachkreisen ist.

Die Entscheidung über die Kosten der nach alledem begründeten Klage folgt aus §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -.

Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus § 143 SGG, denn Berufungsausschlussgründe des § 144 SGG greifen nicht ein.
Rechtskraft
Aus
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