S 1 U 54/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 54/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Anordnung aufschiebender Wirkung wird abgelehnt Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin

Gründe:

I.

Umstritten ist die Anordnung aufschiebender Wirkung der Klage gegen Beitragsbescheide in der gesetzlichen Unfallversicherung.

Mit der Klage zum Aktenzeichen S 0 U 00/00 wendet sich die Klägerin gegen die Veranlagung zur Gefahrtarifstelle 52 und 53 (Arbeitnehmerüberlassung). Die Klage zum Aktenzeichen S 0 U 00/00 richtet sich gegen die Beitragsbescheide für 2003 und 2004 vom 19.01.2006, soweit die Beiträge auf der Veranlagung zu den Gefahrklassen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung beruhen. Hierzu wird von der Klägerin vorgetragen, nach Abzug der unstreitigen und gezahlten Beträge aus den Beitragsbescheiden sei noch ein Betrag von 80.368,10 Euro umstritten.

Am 08. Mai 2006 hat die Klägerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen die genannten Beitragsbescheide beantragt.

Zum Anordnungsanspruch trägt sie vor, selbst wenn es sich um Arbeitnehmerüberlassung handeln würde, dürfe die getroffene Gefahrklasseneinordnung nicht erfolgen. Die jeweiligen Mitarbeiter seien mit befristeten Arbeitsverträgen lediglich jeweils für eine einzelne Veranstaltung tätig und würden nur an einem Arbeitsplatz, am selben Ort und mit den selben Aufgaben tätig. Obwohl die Antragstellerin eine Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung habe, erfolge der Einsatz der Mitarbeiterinnen (Messehostessen) indem nicht lediglich Personal zur Verfügung gestellt werde, sondern durch eigenverantwortliche Personalorganisation am Einsatzort mit Weisungen durch Festangestellte der Antragstellerin und ohne Eingliederung in den Betrieb der Kunden. Zudem sieht die Antragstellerin einen Verstoß gegen Artikel 3 Grundgesetz in der Ungleichbehandlung gegenüber Wettbewerbern, bei denen Messehostessen als Selbständige behandelt würden und bei denen seitens der Antragsgegnerin "beide Augen zugedrückt" würden. Sie meint, der Gefahrtarif der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung hätte lediglich auf den Fall beschränkt werden müssen, in dem sich die spezifische Gefahr überhaupt realisieren könne.

Zum Anordnungsgrund wird vorgetragen, durch den weiteren Beitragsbescheid vom 19.04.2006 für 2005 seien weitere 65.364,76 Euro für die umstrittene Gefahrklasse festgesetzt worden. Bezüglich der erstgenannten Beitragsbescheide für 2003 und 2004 sei die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs von der Beklagten abgelehnt worden, eine solche Entscheidung stehe für den Beitragsbescheid für das Jahr 2005 noch aus. Die wesentlichen wirtschaftlichen Nachteile durch sofortige Beitragszahlung ergäben sich aus der Höhe der in Streit stehenden Beiträge. Liquidität der Antragstellerin sei insoweit nicht gegeben. Die Antragstellerin habe bereits zum Ende des Jahres 2005 einen Verlust erwirtschaftet und Ende 2005 bzw. 2006 sieben Aushilfen und drei Angestellte entlassen müssen. Vorgelegt wird eine " kurzfristige Erfolgrechnung für Dezember 2005" mit einem vorläufigen Ergebnis von minus 144.901,79 Euro. Das Personal sei entlassen worden, um die Liquidität zu erhalten. Dies zeige anschaulich, dass die Liquiditätslage bei der Antragstellerin nicht derart gestaltet sei, dass sie Beiträge von 145.000,00 Euro zahlen könne, ohne dass zumindest bis zum Ende der Hauptsache eine konkrete Existenzgefährdung zu befürchten sei. Auch wird eine Bestätigung der "Hausbank" der Antragstellerin vorgelegt, dass dieser zur Zeit kein freier Avalkreditrahmen zur Verfügung stehe.

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung der gegen die Beitragsbescheide der Antragsgegnerin für die Jahr 2003 und 2004 vom 19.01.2006, geändert mit den Bescheiden vom 08.02.2006 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.03.2006 am 24.04.2006 eingereichten Anfechtungsklage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

1.den Antrag abzulehnen 2.der Antragstellerin die notwendigen Aufwendungen und Auslagen der Antragsgegnerin gem. § 197a Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 2 Ver- waltungsgerichtsordnung (VwGO) aufzuerlegen.

Sie gibt an, die Aussetzung der Vollziehung und Stundung sei von ihr abgelehnt worden. Sie sieht weder ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Beitragsbescheide noch einen hinreichend glaubhaft gemachten Anordnungsgrund. Die Antragsgegnerin habe ein erhebliches öffentliches Interesse an der Einziehung der Beiträge. Aufgrund des Umlagesystemes der nachträglichen Bedarfsdeckung belaste der Ausfall von Beiträgen im folgenden Geschäftsjahr alle Mitglieder. Auch bestehe im Fall einer späteren Einziehung kein Zinsungsanspruch. Diesen hätte die Antragstellerin im Fall einer Rückerstattung der Beiträge nach § 28 Abs. 2 IV.

Auf den Inhalt der von der Antragstellerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen der Geschäftsführerin der Antragstellerin L und der Mitarbeiterin I wird Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist zulässig. Er betrifft ausdrücklich nur die Beitragsbescheide für die Jahre 2003 und 2004. Die anwaltlich vertretene Antragstellerin hat den Antrag auch nicht bezüglich des Beitragsbescheides für 2005 erweitert, indem sie in der Antragsbegründung die Gesamtbeitragslast für die Jahre 2003 bis 2005 argumentativ verwendet. Vielmehr hat sie mit dem Widerspruch von der Antragsgegnerin verlangt, die sofortige Vollziehung des Beitragsbescheides für 2005 auszusetzen. Die Dispositionsmaxime des sozialgerichtlichen Verfahrens berechtigt die Antragstellerin, den Umfang des Rechtsschutzes und dessen Geltendmachung zu bestimmen. Angesichts der anwaltlichen Vertretung bestehen keine Zweifel, das bewusst zunächst bezüglich des Beitragsbescheides 2005 – wie auch bei den vorherigen Beitragsbescheiden – vorläufiger Rechtsschutz vorgerichtlich bei der Antragsgegnerin geprüft werden soll. Im übrigen hätte die Einbeziehung des Beitragsbescheides für 2005 eine Erhöhung des Streitwertes und entsprechende Kosten zur Folge, welche möglicherweise durch eine Unterwerfungsvereinbarung der Beteiligten vermieden werden können.

Der Antrag ist unbegründet. Gem. § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat, diese ganz oder teilweise anordnen. Bei Entscheidungen über Beitragsforderungen entfällt nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG die aufschiebende Wirkung. Der Gesetzgeber geht daher grundsätzlich von einem Vorrang des Vollziehungsinteresses aus (Meyer-Ladewig, § 86a SGG, Rdn. 12 und § 86b Rdnr. 12a; LSG NW Beschluss vom 17.01.2005 – L 2 B 9/03 KR ER). Nur ausnahmsweise kann daher die aufschiebende Wirkung anzuordnen sein, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Bei der gebotenen, lediglich summarischen Prüfung bestehen weder ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verwaltungsakte, noch hätte die Vollziehung für die Antragstellerin eine nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge.

Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung bestehen nur, wenn aufgrund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ein Erfolg des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg. Das entspricht der gesetzlichen Wertung des § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG , nur im Ausnahmefall davon abzusehen Beiträge sofort entrichten zu lassen, um die Aufgabenerfüllung zu sichern (LSG NW a.a.O. mit weiteren Nachweisen).

Bei summarischer Prüfung ist ein Erfolg der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren nicht wahrscheinlicher als ein Misserfolg. Die Antragstellerin besitzt nach eigenen Angaben seit Februar 2003 eine Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung. Die von der Antragstellerin problematisierte Frage, ob die Einholung bzw. Erteilung der Erlaubnis auf einer entsprechenden Rechtspflicht beruhte, ist Kraft Tatbestandswirkung der Erlaubnis von der Antragsgegnerin und auch vom Gericht nicht zu prüfen. Die Antragstellerin ist entsprechend ihrem eigenen Vortrag seit Februar 2003 ein Unternehmen, welches zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung berechtigt ist. Das Argument, die jeweiligen Mitarbeiter seien mit befristeten Arbeitsverträgen lediglich für eine einzelne Veranstaltung tätig, ist in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft, weil die eidesstattliche Erklärung der Geschäftsführerin L die Entlassung von sieben Aushilfen angibt. Würden die jeweiligen Mitarbeiter lediglich nur für eine einzelne Veranstaltung mit einem befristeten Arbeitsvertrag eingesetzt, wäre eine Entlassung nicht notwendig. Selbst wenn eine Mehrzahl der Aushilfskräfte nur für einen einzigen Einsatzfall eingesetzt würde, ändert dies nichts an

der grundsätzlichen Zuordnung der Antragstellerin zum gesonderten Gewerbezweig der Unternehmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung. Die ältere Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 21.08.1991 – 2 RU 54/90) hat gemeinsame gewerbetypische Unfallgefahren für Unternehmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung unter anderem mit dem häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes begründet. Dass diese Risiken der Eingliederung in eine neue Arbeitsumwelt und die damit verbundenen Wegeunfallgefahren auch für einen einmaligen Arbeitseinsatz gelten, versteht sich von selbst. Entscheidend ist jedoch nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24.06.2003 – B 2 U 21/02 R), dass die individuellen Gefährdungsrisiken des jeweiligen Unternehmens unbeachtlich sind. Die Unternehmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung sind ein eigener Gewerbezweig und auch im vorliegenden Fall in zwei eigenen Gefahrtarifstellen zusammengefasst. Die Unbeachtlichkeit ergibt sich auch nach der Auffassung des BSG (a.a.O.) allein aus dem Gewerbezweigprinzip.

Selbst wenn man nicht die formale Zugehörigkeit zum Gewerbezweig der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung für ausreichend erachtet und entsprechend dem Vorbringen der Antragstellerin prüft, ob generell oder im Einzelfall Dienst- oder Werkverträge vorliegen, könnte das Ergebnis einer solchen Überprüfung nur im Hauptsacheverfahren erfolgen. Für die summarische Prüfung im vorläufigen Rechtsschutz ist auch mit der eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin I offen, ob die Kunden als Entleiher im Rahmen des AÜG befugt sind, Weisungen zu erteilen. Die Weisungshierarchie innerhalb der eingesetzten Mitarbeiter der Antragstellerin besagt hierzu nichts. Anhaltspunkte für die Art des Einsatzes werden sich generell aus den statistischen Meldungen der Antragstellerin nach § 8 AÜG gewinnen lassen; weitere Anhaltspunkte werden sich aus den vorzulegenden Verträgen – Musterverträgen ergeben. Dies gilt sinngemäß auch für die Frage, ob in den angefochtenen Beitragsbescheiden eine zutreffende Verteilung zwischen den Gefahrtarifstellen 52 und 53 erfolgt ist.

Soweit die Antragsgegnerin einen Verstoß gegen Artikel 3 Grundgesetz rügt, gibt es gegenüber Wettbewerbern, die illegal entsprechende Arbeitseinsätze von Messemitarbeitern als "Selbständige" durchführen, keine Gleichbehandlung im Unrecht. Die Antragstellerin kann Wettbewerbsnachteile vermeiden oder verringern, indem sie entsprechende Fälle den zuständigen Leistungsträgern und Behörden zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten zur Kenntnis bringt.

Die Vollziehung der Beitragsbescheide stellt für die Antragstellerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte dar. Aufgrund des gesetzlichen Regel-Ausnahmeverhältnisses überwiegt regelmäßig das Interesse an der Vollziehung des Beitragsbescheides das Interesse der Antragstellerin, vor der Zahlung eine Beitragspflicht zunächst in einem gerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen. Allein die Höhe der Beitragsforderung und die mit der Zahlung verbundenen betriebswirtschaftlichen Konsequenzen führen nicht zu unbilligen Härten, da es sich lediglich um die Erfüllung der gesetzlich auferlegten Pflichten handelt (LSG NW a.a.O. im Fall einer Beitragsforderung von ca. 5,2 Millionen Euro). Die von der Geschäftsführerin der Antragstellerin genannte "zurückgegangene wirtschaftliche Lage in Deutschland" ist in dieser Allgemeinheit als Kriterium ungeeignet und wird nach Kenntnis des Gerichts in der aktuellen Presse so nicht dargestellt. Ob Schwankungen der "Messejahre" mit so genannten guten oder schlechten Messejahren stattfinden, sind bei längerfristiger Betrachtung nicht relevant. Die Fluktuation von Mitarbeitern gerade im Messebereich und bei der von der Antragstellerin behaupteten Einstellungs- und Einsatzpraxis ist kein wesentliches Indiz für die wirtschaftliche Situation. Die Freisetzung von Mitarbeitern kann auch ein betriebswirtschaftlicher Bereinigungsprozess zur Erhöhung der Rendite sein. Die Bescheinigung der "Hausbank" lässt keine zwingenden Rückschlüsse auf die Wirtschaftssituation der Antragstellerin zu. Die Vermögenssituation der Antragstellerin ist ungeklärt; künftige Gewinne sind nicht einzuschätzen.

Wenn die Antragstellerin in dem Sinne illiquide ist, dass sie auf absehbare Zeit nicht im Stande ist, die bestehenden Verbindlichkeiten – auch die Beitragsforderungen der Antragsgegnerin – zu erfüllen, hat sie zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen den Insolvenzantrag zu stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt ermöglicht die fehlende aufschiebende Wirkung eine im öffentlichen Interesse liegende Realisierung von Beitragsansprüchen auch im Verhältnis zu den anderen Gläubigern der Antragstellerin.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 197a SGG, 154 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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