S 11 AL 34/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 34/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 03.03.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2006 verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom 06.07.2005 für die Anspruchsdauer von 780 Tagen zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Alg).

Die am 00.00.1949 geborene Klägerin arbeitete seit 1963 bei der Firma X Q GmbH & Co KG in T. Mit Schreiben vom 29.06.2005 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis zum 31.01.2006 und stellte die Klägerin zugleich ab dem 01.07.2005 unwiderruflich von der Pflicht zu Anwesenheit und Arbeitsleistung frei.

Laut der Akte der Beklagten meldete sich die Klägerin am 06.07.2005 arbeitsuchend. Der Eintrag vom selben Tag im Bewerberangebot (BewA) lautet "Pers. Asu-Meldung nach Kündigung d.d. AG. ( ...) Auf rechtzeitige Alo-Meldung hingewiesen. Besucherkarte, 00 0 f v. Merkblatt ausgehändigt. ( ...)"

Auf Antrag der Klägerin vom 07.02.2006 gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 03.03.2006 Alg ab dem 07.02.2006 für eine Anspruchsdauer von 540 Tagen. Die Klägerin legte hiergegen am 30.03.2006 Widerspruch ein und machte eine längere Anspruchsdauer (780 Tage) mit der Begründung geltend, auf ihren Fall sei nach § 434 l Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) § 127 SGB III in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung (a.F.) anzuwenden, da der Alg-Anspruch mit der erstmaligen Vorsprache bei der Beklagten und somit noch vor dem 01.02.2006 entstanden sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 06.04.2006 zurück und führte zur Begründung aus, der Alg-Anspruch sei erst am 07.02.2006 entstanden. Zwar sei Arbeitslosigkeit bereits mit dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses durch die unwiderrufliche Freistellung eingetreten, jedoch habe sich die Klägerin erst am 07.02.2006 arbeitslos gemeldet. Am 06.07.2005 habe sie sich lediglich arbeitsuchend gemeldet, ohne auf ihre Freistellung hinzuweisen, weswegen auch keine Falschberatung ersichtlich sei.

Hiergegen richtet sich die am 05.05.2006 erhobene Klage.

Die Klägerin führt aus, sie habe bereits bei ihrer ersten Vorsprache das Kündigungsschreiben vorgelegt, aus dem auch die Freistellung ersichtlich gewesen sei. Ihr sei daraufhin mitgeteilt worden, sie brauche sich erst nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses wieder bei der Beklagten zu melden. Im Übrigen habe die Arbeitsberaterin aber - gerade angesichts der drohenden Verkürzung der Anspruchsdauer nach dem 31.01.2006 - nach den Umständen der Kündigung fragen müssen, so dass sich zumindest unter Zugrundelegung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine längere Anspruchsdauer ergebe.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 03.03.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2006 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld für die Anspruchsdauer von 780 Tagen zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, der sozialrechtliche Herstellungsanspruch komme schon deswegen nicht zur Anwendung, weil die Arbeitslosmeldung eine Tatsachen- und keine Willenserklärung sei.

Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn der Klägerin steht Alg für die Dauer von 780 Tagen zu, § 127 Abs. 2 SGB III a.F. i.V.m. § 434 l Abs. 1 SGB III. Die Übergangsregelung aus § 434 l Abs. 1 SGB III findet Anwendung, da der Alg-Anspruch der Klägerin bis zum 31.01.2006 entstanden ist.

Ein Anspruch auf Alg entsteht, wenn alle Voraussetzungen aus § 118 SGB III (Arbeitslosigkeit, Arbeitslosmeldung, Erfüllung der Anwartschaftszeit) zugleich vorliegen.

Dass diese Voraussetzungen jedenfalls seit der Freistellung vorgelegen habe, ist bis auf die nach § 118 Abs. 1 Nr. 2 SGB III erforderliche Arbeitslosmeldung unstreitig. Insbesondere führt auch die Freistellung bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis zur Beschäftigungslosigkeit (Brand, in: Niesel, SGB III, 3. Aufl., 2005, § 119, Rn. 16) und fehlende Verfügbarkeit oder Arbeitsbereitschaft ist nicht ersichtlich.

Darüber hinaus liegt auch eine Arbeitslosmeldung der Klägerin vor dem 31.01.2006 vor. Sie liegt in der Vorsprache bei der Beklagten am 06.07.2005. Zwar weist die Beklagte zutreffend daraufhin, dass die Arbeitslosmeldung als tatsächliche Handlung nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden kann (anstelle vieler: Brand, a.a.O., § 122, Rn. 5). Bei der Frage, ob ein tatsächliches Verhalten rechtlich als Arbeitsuchendmeldung (§ 37 b SGB III) oder als Arbeitslosmeldung (§ 118 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) zu würdigen ist, kommt es nach Auffassung der Kammer auf den Sinngehalt dessen an, was der Betreffende der Beklagten gegenüber mitteilt. Kündigt er lediglich an, er werde in der Zukunft arbeitslos werden, so handelt es sich um eine Arbeitsuchendmeldung. Teilt er hingegen Umstände mit, die eine bereits eingetretene Arbeitslosigkeit erkennen lassen, so ist seiner Vorsprache der Sinngehalt einer Arbeitlosmeldung beizumessen. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene selbst gegenüber der Beklagten die Auffassung vertritt, er sei schon arbeitslos. Gerade der vorliegende Fall zeigt, dass Beschäftigungslosigkeit i.S.d. § 119 Abs. 1 Nr. 1 SGB III auch dann eingetreten sein kann, wenn der Betroffene bei einer Parallelwertung in der Sphäre juristischer Laien vertretbar davon ausgehen mag, er sei noch nicht arbeitslos, da das Arbeitsverhältnis noch fortbesteht. Da weiterhin Arbeitslosigkeit auch schon vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses eintreten kann, ist eine bloße Arbeitsuchendmeldung auch nicht immer dann anzunehmen, wenn Anlass für die Vorsprache ein Hinweis des Arbeitgebers nach § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III ist.

Unter Zugrundelegung dessen stellte die Vorsprache am 06.07.2005 eine Arbeitslosmeldung dar. Das Gericht geht angesichts des plausiblen und glaubhaften Vortrag der Klägerin davon aus, dass sie bei der Vorsprache das Kündigungsschreiben der Arbeitsberaterin zur Kenntnis gegeben hat. Mit Kenntnisnahme von der im Kündigungsschreiben ausgesprochenen Freistellung stand der Sinngehalt der Vorsprache als Arbeitslosmeldung fest. Dass sich das Kündigungsschreiben nicht an einer entsprechenden Stelle in der Akte der Beklagten findet, steht nicht entgegen, denn die Akte ist (wie es nach Mitteilung des Terminsvertreters der Beklagten der dort üblichen Vorgehensweise entspricht) erst nach Stellung des förmlichen Alg-Antrags angelegt worden. Der BewA-Vermerk vom selben Tage steht ebenfalls nicht entgegen, insbesondere lässt er nicht hinreichend deutlich erkennen, dass die Arbeitsberaterin der Klägerin zu verstehen gegeben habe, sie müsse sich mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses noch "förmlich" arbeitslos melden (was i.Ü auch nicht zutreffend gewesen wäre). Schließlich ist die Kammer der Auffassung, dass eine Vorsprache zur Meldung als arbeitslos bzw. arbeitsuchend sinnvollerweise nur dergestalt ablaufen kann, dass die Beklagte nachfragt, ab wann Beschäftigungslosigkeit eintritt, denn dies ist auch bei einer reinen Arbeitsuchendmeldung von erheblicher Relevanz.

Der Anwendung von § 434 l Abs. 1 SGB III steht auch nicht etwa entgegen, dass der Alg-Anspruch vor dem 31.01.2006 gemäß § 143 Abs. 1 SGB III geruht hat (zur Freistellung als Fall des Ruhens nach § 143 SGB III vgl. Düe, in; Niesel, a.a.O., § 143 Rn. 8; die Dauer des Ruhens bestimmt sich aus dem Zeitraum zwischen dem Beginn der Beschäftigungslosigkeit und den Ende des Arbeitsverhältnisses: BSG, SozR 3-4100 § 117 Nr. 12). Ruhenstatbestände hindern die Entstehung des Alg-Anspruchs nicht (Brand, a.a.O., § 118, Rn. 2; BSG, Urteil vom 09.08.1990, 11 RAr 141/88, SozR 3-4100 § 105 a Nr. 2). Soweit die Entscheidung des BSG vom 20.10.2005, B 7a AL 50/05 R, den Begriff der Entstehung des Alg-Anspruchs (i.S.d. § 140 SGB III a.F.) im Sinne eines konkretisierten Auszahlungsanspruchs definiert hat, bezieht sich diese Entscheidung nur auf die dort entschiedene Konstellation (in der es nicht um einen Ruhenstatbestand ging).

Aufgrund des Ruhens nach § 143 SGB III tritt auch keine Minderung der Anspruchsdauer ein (§ 128 SGB III argumentum e silentio: Düe, a.a.O., Rn. 3).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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