S 8 R 42/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 R 42/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 R 61/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 09.12.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2006 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalls vom 03.11.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Die Beklagte hat 1/2 der Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Der am 00.00.1956 geborene Kläger hat 1974 die Gesellenprüfung als Maler und Lackierer abgelegt. Seither war er - mit einer kurzen Unterbrechung 1980/1981 - als Maler und Lackierer tätig. Zuletzt arbeitete der Kläger bei der Firma I GmbH, I. Seit Mai 2005 ist der Kläger arbeitsunfähig erkrankt.

Am 03.11.2005 beantragte er Rente wegen Erwerbsminderung. Er begründete den Antrag mit einem Halswirbelsyndrom. Die Beklagte zog einen Entlassungsbericht der M-Klinik für orthopädische Erkrankungen, O, bei und veranlasste eine sozialmedizinische Begutachtung durch ihren ärztlichen Dienst.

Mit Bescheid vom 09.12.2005 lehnte sie den Rentenantrag ab. Sie berücksichtigte folgende Erkrankungen: Wiederkehrende Schmerzzustände bei degenerativen Halswirbelsäulenveränderungen mit - Bandscheibenschäden - Bluthochdruck - Fettstoffwechselstörung - Blutzuckerstoffwechselstörung Hiermit sei der Kläger noch in der Lage, als Spielwarenmaler, Dekorations- und Schildermaler oder Registrator mindestens sechs Stunden täglich zu arbeiten.

Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte einen ärztlichen Befundbericht der behandelnden Ärztin für Orthopädie Dr. G ein. Mit Bescheid vom 04.04.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Im Widerspruchsbescheid verwies die Beklagte den Kläger ergänzend auf eine Tätigkeit als Kontrolleur für die Oberflächenbeschaffenheit von Lackierungen in der Möbelindustrie und eine Tätigkeit als Hochregallagerarbeiter. Hinsichtlich der letztgenannten Tätigkeit berief die Beklagte sich auf ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 07.05.2003 - L 17 RJ 49/02 -.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 19.04.2006 erhobene Klage, die der Kläger zuletzt auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit beschränkt hat. Der Kläger meint, aus orthopädischen Gründen nicht mehr in der Lage zu sein, in seinem bisherigen Beruf zu arbeiten. Die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten seien ihm sozial bzw. gesundheitlich nicht zumutbar. Zum Beleg seiner gesundheitlichen Störungen hat der Kläger ein Attest des praktischen Arztes Dr. D vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 09.12.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2006 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalls vom 03.11.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuwesien.

Sie bezieht sich auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung.

Das Gericht hat über den Gesundheitszustand des Klägers Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichtes von Dr. D sowie eines Gutachtens von Dr. L, Arzt für Orthopädie, vom 17.11.2006. Über den berufskundlichen Sachverhalt hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung einer Auskunft der Firma I GmbH sowie Beiziehung folgender berufskundlicher Unterlagen: Gutachten der Bundesanstalt für Arbeit vom 07.10.2005 für das Sozialgericht München zu den Tätigkeiten "Hochregallagerarbeiter" und "Registrator", Stellungnahme des Landesarbeitsamts Hessen vom 21.07.2006 für das Sozialgericht Darmstadt im Rechtsstreit S 2 RJ 1064/03 zum Einsatzbereich von Malern/Lackierern, Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 07.05.2003 - L 17 RJ 49/02 -.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die genannten Unterlagen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurden, verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässig auf einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist insoweit rechtswidrig i. S. d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Der Anspruch des Klägers auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ergibt sich aus § 240 Abs. 1 SGB VI. Hiernach haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auch Versicherte, die vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig sind. Der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentenzahlung unstreitig, ist vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig: Berufsunfähig sind gemäß § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelischen gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden täglich gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen in ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Kläger leidet unter folgenden Erkrankungen: - Chronisch degeneratives Cervicalsyndrom mit rezidivierenden pseudeoradikulären Brachialgien ohne sensomotorische Defizite der oberen Extremitäten bei end- bis mittelgradiger Störung der Entfaltbarkeit der Halswirbelsäule sowie des Halswirbelsäulen-/Brustwirbelsäulenübergangsbereiches bei Bandscheibenprotrusion C5/6 - Chronische Lumbalgien ohne objektivierbare neuromotorische Defizite der unteren Extremitäten bei endgradiger Störung der Entfaltbarkeit - Semirigide Knick-/Senk-/Spreizfüße - essentielle Hypertonie, medikamentös gut eingestellt - geringfügige Fettstoffwechselstörung Hiermit kann er noch körperlich mittelschwere Arbeiten in wechselnder Haltung verrichten. Der Kläger soll Arbeiten in gebückter Haltung sowie mit andauernder einseitiger körperlicher Belastung, insbesondere Überkopfarbeiten, meiden, ebenso wie das regelmäßige Heben und Tragen schwerer Lasten. Der Kläger kann nicht unter Zeitdruck, wie im Akkord oder im Fließband arbeiten. Arbeiten auf Gerüsten oder Leitern sollen unterbleiben. Gleiches gilt für die Tätigkeiten mit starken Temperaturschwankungen, Zugluft, Nässe, Lärm, Kälte oder Hitze. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kann der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Dies ergibt sich aus dem Gutachten von Dr. L. Die Kammer hat keine Bedenken, den Feststellungen des Sachverständigen zu folgen, der als Facharzt für Orthopädie kompetent ist, die insbesondere auf orthopädischem Gebiet liegenden Beschwerden des Kläger zu beurteilen. Der Sachverständige ist als erfahrener Gutachter bekannt, die Beteiligten haben keine Einwendungen gegen das Gutachten erhoben, vielmehr hat die Beklagte sich ausdrücklich den gutachterlichen Feststellungen angeschlossen.

Mit den genannten Einschränkungen kann der Kläger nicht mehr als Maler und Lackierer arbeiten. Als Maler und Lackierer sind Überkopfarbeiten und sonstige Zwangshaltungen nicht zu vermeiden, gleiches gilt für das Heben und Tragen schwerer Lasten. Maler und Lackierer müssen häufig auf Leitern und Gerüsten tätig werden. Diese - wohl als allgemeinkundig zu bezeichnenden Tatsachen - werden durch die Stellungnahme des Landesarbeitsamtes Hessen vom 21.07.2006 bestätigt.

Die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten scheiden aus: Die im Widerspruchsverfahren benannte "Tätigkeit als Kontrolleur für die Oberflächenbeschaffenheit von Lackierungen in der Möbelindustrie" wurde von der Beklagten weder beschrieben noch wurde unter Angabe einer berufskundlichen Quelle benannt, ob es diese Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt gibt und welche körperlichen und geistigen Anforderungen mit einer derartigen Tätigkeit verbunden sind. Auch in der mündlichen Verhandlung war die Beklagte nicht im Stande, diese Verweisungstätigkeit näher substantiiert zu belegen. Demgegenüber ergibt sich aus der genannten Stellungnahme des Landesarbeitsamtes Hessen, dass für leistungsgeminderte Maler/Lackierer berufsnahe Tätigkeiten - um eine solche soll es sich bei der von der Beklagten benannten Tätigkeiten wohl handeln - ausscheiden. Gleiches gilt demzufolge auch für die Arbeit als Spielwaren- und Schildermaler. Ein Einsatz als Registrator scheidet ebenfalls aus. Zwar mag es Tätigkeiten als Mitarbeiter in einer Registratur geben, die von einem Ungelernten innerhalb von drei Monaten erlernt werden kann. Dann handelt es sich jedoch grundsätzlich nicht mehr um eine für einen Facharbeiter zumutbare Verweisungstätigkeit, sondern um eine ungelernte Arbeit. Für eine qualifizierte Registraturtätigkeit wird üblicherweise eine abgeschlossene Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellen vorausgesetzt, hierfür würde der Kläger einen längeren Einarbeitzeitraum benötigen, zumal er angesichts seines Ausgangsberufes über keinerlei verwertbare Kenntnisse für Arbeiten in einer Registratur verfügt (vgl. insoweit das Gutachten der Bundesanstalt für Arbeit vom 07.10.2005 für das Sozialgericht München). Hinzu kommt, dass Arbeiten in einer Registratur auch aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden dürften, weil das Besteigen von kleinen Leitern nicht ausgeschlossen ist und umfangreiche Vorgänge und Ordner gehoben und getragen werden müssen (Gutachten der Bundesanstalt für Arbeit vom 07.10.2005). Die Tätigkeit als Hochregallagerarbeiter ist eine sitzende Tätigkeit, bei der betriebsspezifisches Wissen über Produkte, Fertigungsverfahren, Betriebsorganisation und Arbeitsabläufe für die Aufgabenerfüllung häufig notwendig sind. Wenn es sich nicht um eine ausschließlich sitzende Tätigkeit handelt, kann das Besteigen von Leitern nicht ausgeschlossen werden. Auch dies entnimmt die Kammer dem genannten Gutachten der Bundesanstalt für Arbeit vom 07.10.2005 für das Sozialgericht München. Die von der Beklagten benannte Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 07.05.2003 - L 17 RJ 49/02 - ist nicht geeignet, die von der Beklagten benannte Verweisungstätigkeit als Hochregallagerarbeiter zu belegen, weil es dort ausdrücklich heißt, dass die Tätigkeit von einem Arbeitnehmer, der eine Berufsausbildung in einem Metallberuf oder einem zumindest damit verwandten Beruf besitzt, innerhalb von drei Monaten erlernt werden kann. Der Kläger besitzt jedoch keine Ausbildung in einem Metallberuf oder einem damit verwandten Beruf.

Weitere Verweisungstätigkeiten wurden von der Beklagten nicht benannt und sind für das Gericht auch nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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