S 8 (11) AL 103/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 (11) AL 103/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 08.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.09.2006 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, Arbeitslosengeld ab 15.09.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Der am 00.00.1951 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er wohnt in der niederländischen Grenzgemeinde L. unmittelbar hinter der deutschen Grenze. Vom 09.10.1989 bis zum 28.08.2005 stand er in einem Beschäftigungsverhältnis als Maschinenführer bei Firma U. C. GmbH. Nach Insolvenz der Firma endete das Arbeitsverhältnis aufgrund des arbeitsgerichtlichen Vergleichs mit Ablauf des 30.11.2005. Am 13.09.2005 beantragte der Kläger Arbeitslosengeld, er stellte sich ab dem 15.09.2005 zur Verfügung. Mit Schreiben vom 07.02.2006 lehnte der niederländische Leistungsträger einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung ab. Der Kläger erklärte, dass er sich nicht dem niederländischen, sondern dem deutschem Arbeitsmarkt zur Verfügung stelle. Auf Anfrage durch die Beklagte teilte er in einem Fragebogen mit, er habe die Schule in Deutschland besucht, in Deutschland seine Berufsausbildung abgeschlossen und lediglich deutsche beruflich verwertbare Sprachkenntnisse. Er sei in Deutschland aufgewachsen, mit einer deutschen Ehefrau verheiratet und habe sämtliche sozialen Beziehungen in Deutschland. Seine Kinder besuchten die Schule in Deutschland. Er sei ausschließlich in Deutschland beruflich tätig gewesen. Die Beklagte erstellte eine Qualifikationsprofil, auf dessen Inhalt verwiesen wird (Bl. 41 der Verwaltungsakte). Nachdem der niederländische Leistungsträger telefonisch mitgeteilt hatte, der Leistungsanspruch sei abgelehnt worden, weil der Kläger sich dem niederländischen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestellt habe, lehnte die Beklagte den Antrag auf Arbeitslosengeld mit Bescheid vom 08.08.2006 ab. Gemäß § 30 SGB I stehe der Wohnsitz in den Niederlanden einem Leistungsanspruch in Deutschland entgegen. Der Kläger habe auch keinen Leistungsanspruch aufgrund der Vorschriften der VO (EWG) 1408/71. Im Widerspruchsverfahren meinte der Kläger, es könne nicht sein, dass ihm sowohl vom niederländischen als auch vom deutschen Leistungsträger die Leistung verweigert werde. Mit Bescheid vom 15.09.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger habe keine enge persönliche und berufliche Bindung zu Deutschland, weshalb ein Leistungsanspruch aufgrund der Vorschriften der VO(EWG) 1408/71 ausscheide.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 05.12.2006 erhobene Klage. Der Kläger trägt vor, er habe nur geringfügige niederländische Sprachkenntnisse. Seit Mai 2006 übe er in Deutschland eine geringfügige Beschäftigung aus. Auch habe er die Möglichkeit, demnächst bei einem Betreuungsdienst in I. zu arbeiten. Seine Vermittlungsaussichten auf dem deutschen Arbeitsmarkt seien günstiger als in den Niederlanden.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 08.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.09.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Arbeitslosengeld ab 15.09.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, die Vermittlungsaussichten in den Niederlanden seien nicht schlechter als in Deutschland.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Arbeitsvermittlers X. als Zeugen. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig i. S. d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 118 SGB III. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Der Wohnort in den Niederlanden steht nicht gemäß § 30 Abs. 1 SGB I dem Leistungsanspruch entgegen. Gemäß § 30 Abs. 2 SGB I bleiben Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt. Ein vollarbeitsloser Arbeitnehmer, der zwar die Kriterien des Art. 1 Buchst. b) der VO(EWG) Nr. 1408/71 (Grenzgänger) erfüllt, aber im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art aufrecht erhält, dass er dort die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, ist als unter Art. 71 Abs. 1 Buchst. b) der VO (EWG) Nr. 1408/71 fallender Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist, anzusehen (EuGH, Urteil vom 12.06.1986 - 1/85 - Rechtsache "Miethe"). Gemäß Art. 71 Abs. 1 b i ) VO(EWG) Nr. 1408/71 erhalten Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und weiterhin der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung stehen, bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie in diesem Staat wohnten.

Der Kläger hat in Deutschland die besten Aussichten auf berufliche Eingliederung und ist damit als Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist, im Sinne der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache "Miethe" anzusehen. Der Kläger hat überzeugend und von der Beklagten im Übrigen nicht bestritten dargelegt, sämtliche beruflich verwertbaren Kenntnisse in Deutschland erworben wurden. Der Kläger war immer in Deutschland und nie in den Niederlanden beruflich tätig. Er hat deutsch als Muttersprache und spricht niederländisch lediglich als erlernte Sprache. Der Wohnort in den Niederlanden hat nicht zu einer Integration des Klägers in die Niederlande und damit einer besseren Vermittelbarkeit in den Niederlanden geführt. Vielmehr zeigt die weitere berufliche Entwicklung des Klägers - Übernahme einer geringfügigen Beschäftigung in Deutschland ab 01. Mai 2006 und Aussichten auf ein Arbeitsverhältnis in Deutschland -, dass der Kläger sich weiterhin nach Deutschland orientiert und die Wohnortwahl in den Niederlanden lediglich zufällig, nicht jedenfalls wegen einer Integration in die Niederlande erfolgte. Das Gericht folgt der Beklagten nicht, wenn diese meint, der Kläger sei als ungelernte Arbeitskraft anzusehen und habe insoweit in den Niederlanden gleiche Vermittlungschancen. Dem steht zum einen das von der Beklagten selbst erstellte Qualifikationsprofil des Klägers entgegen. Hier ist aufgeführt, dass der Kläger gute Kenntnisse oder Fertigkeiten in den Bereichen Qualitätsprüfung, Qualitätssicherung, Tabellenkalkulation Exel und Textverarbeitung Word hat. Hierbei handelt es sich um Anforderungen, die über den ungelernten Bereich hinaus gehen und nach Auffassung der Kammer besser von Personen zu verrichten sind, die die jeweilige Landessprache muttersprachlich beherrschen. Dies hat der Zeuge X. anlässlich seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Die Erklärung des Zeugen dahingehend, dass mittlerweile der Arbeitsmarkt in den Niederlanden entspannter ist als in Deutschland, steht einem Leistungsanspruch des Klägers in Deutschland nicht entgegen. Denn die jeweiligen Verhältnisse des Arbeitsmarktes müssen nach Auffassung der Kammer bei der Prüfung der Anwendung von Art. 71 Abs. 1 b VO(EWG) 1408/71 außer Betrachtung bleiben. Entscheidend ist allein, ob der betroffene Leistungsempfänger nach seinen individuellen beruflich verwertbaren Kenntnissen und Fertigkeiten eher im Ausland - hier in den Niederlanden - oder eher in Deutschland vermittelbar ist. Denn die Bewilligung eines über Art. 14 GG eigentumsrechtlich geschützten versicherungsrechtlich erworbenen Leistungsanspruchs kann nicht davon abhängen, wie sich in den betroffenen Staaten jeweils die Arbeitslosenstatistik entwickelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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