S 19 SO 4/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 4/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 b SO 16/06 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 24.10.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.12.2005 verurteilt, dem Kläger unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 01.10.2003, 16.02.2004, 18.02.2004 und 24.03.2004 für die Zeit vom 01.09.2003 bis zum 30.06.2004 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von 1540,00 EUR zu zahlen. Der Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Nachzahlung von Leistungen zur Grundsicherung nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG) für die Zeit vom 01.09.2003 bis 30.06.2004.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und dauerhaft erwerbsgemindert. Sein Vater ist zu seinem Betreuer bestellt. Vom 01.09.2003 bis zum 31.12.2004 erhielt der Kläger Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG). Seit dem 01.01.2005 erhält er Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII). Von Beginn der Leistungserbringung an rechnete der Beklagte das Kindergeld, welches an die Eltern des Klägers gezahlt wurde, als Einkommen des Klägers in Höhe von 154,00 EUR monatlich an. Die entsprechenden Bewilligungsbescheide für die Zeit von September 2003 bis Juni 2004 vom 01.10.2003, 16.02.2004, 18.02.2004 und 24.03.2004 wurden bestandskräftig. Mit Bescheid vom 24.06.2004 berechnete der Beklagte die Leistungen für den Monat Juli 2004 neu. Auch dabei berücksichtigte er das Kindergeld als Einkommen des Klägers. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger hinsichtlich der Anrechnung des Kindergeldes am 01.07.2004 Widerspruch. Mit Schreiben vom 17.06.2005 beantragte er außerdem die Rücknahme der bisherigen Leistungsbescheide gemäß §§ 48, 44 SGB X für die Vergangenheit. Zur Begründung berief er sich auf eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes aus dem April 2005, worin dieses Gericht die Anwendung von § 44 SGB X auf Grundsicherungsleistungen bejaht habe.

Unter dem 30.08.2005 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass er dem Widerspruch ab dem 01.07.2004 abhelfe, jedoch eine Rücknahme für die Zeit davor ablehne. Mit Bescheid vom 24.10.2005 lehnte der Beklagte den Antrag auf Rücknahme der Bescheide und Gewährung von Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz für die Zeit ab 01.01.2003 bis 30.06.2004 ab. Zur Begründung verwies er auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.11.2003, wonach § 44 SGB X auf das Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes nicht anwendbar sei. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger unter dem 07.11.2005 Widerspruch, den der Beklagte mit Bescheid vom 27.12.2005 ablehnte.

Zur Begründung seiner am 04.01.2006 erhobenen Klage wiederholt der Kläger sein bisheriges Vorbringen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 24.10.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.12.2005 zu verurteilen, ihm unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 01.10.2003, 16.02.2004, 18.02.2004 und 24.03.2004 für die Zeit vom 01.09.2003 bis zum 30.06.2004 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von 154,00 EUR pro Monat nachzuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Der Beklagte hat im Zeitraum der Leistungsbewilligung vom 01.09.2003 bis zum 30.06.2004 zu Unrecht das an die Eltern des Klägers gezahlte Kindergeld als Einkommen des Klägers berücksichtigt.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und beschweren den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte hat zu Unrecht in der Zeit vom 01.09.2003 bis zum 30.06.2004 das an den Vater des Klägers gezahlte Kindergeld als Einkommen des Klägers angerechnet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Nachzahlung der ihm deswegen zu Unrecht nicht gezahlten Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 154,00 EUR.

Der Anspruch ergibt sich aus § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 SGB X.

Der Anwendung von § 44 SGB X steht § 1 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 SGB X nicht entgegen. Danach gelten für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach Inkrafttreten der Vorschriften dieses Kapitels Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des SGB X nur, soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Eine entsprechende Bestimmung enthält das Grundsicherungsgesetz zwar nicht. Jedoch ist eine solche Regelung auch nicht erforderlich, weil es einer solchen nicht bedurfte. Das Sozialgericht Aachen hat dazu in seinem Urteil vom 06.07.2006 ausgeführt (Az. S 20 SO 34/06):

"Es bedurfte keiner solchen Regelung, weil das Grundsicherungsrecht kein besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs ist, der nach In-Kraft-Treten des SGB X (am 01.01.1981) Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist. Die durch das GSiG geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe zum Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe im weitem Sinne des § 9 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift lautet: " Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken." Dies trifft auf die GSi-Leistungen zu. Diese Leistungen waren deshalb wie die Übrigen in §§ 3-10 SGB I aufgeführten Sozialleistungen schon vor dem In-Kraft-Treten des SGB X, nämlich seit dem In-Kraft-Treten des SGB I am 01.01.1976, Bestandteil des Sozialgesetzbuches. Dies erschließt sich auch daraus, dass die GSi-Leistung zunächst als besondere Sozialhilfeleistung in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert werden sollte (vgl. Artikel 8 des Entwurfs eines Altersvermögensgesetz, BT-Drucksache 14/4595, S. 30). Da es hiergegen jedoch politische Widerstände gab, wurde die Leistung in einem besonderen Gesetz, dem GSiG, normiert (vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, BT-Drucksache 14/5150, S. 48-51). Seit dem 01.01.2005 ist die GSi-Leistung Bestandteil des SGB XII ("Sozialhilfe") in dessen Viertem Kapitel (§§ 41-46 SGB XII). § 8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst. War und ist aber diese Leistung Bestandteil der Sozialhilfe, die schon bei In-Kraft-Treten des SGB X Bestandteil des Sozialgesetzbuches war, so galt und gilt das Erste Kapitel des SGB X für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung."

Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigener Überzeugungsbildung an.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit entsprechend zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren nach der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X).

§ 44 SGB X findet entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Recht der Grundsicherung Anwendung. Das Wesen der Grundsicherung schließt eine Anwendung von § 44 SGB X nicht aus. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht § 44 SGB X auf die Sozialhilfe nicht für anwendbar gehalten und dies mit der Eigenart der Sozialhilfe begründet (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.11.2003, Az.: 5 C 26/02). Bei der Sozialhilfe handele sich um eine Nothilfe, die gleichsam täglich neu regelungsbedürftig sei und deswegen einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Daraus ergebe sich, dass für einen in der Vergangenheit bestandenen Bedarf der nicht mehr fortbesteht, rückwirkend kein Anspruch auf Sozialhilfe geltend gemacht werden könne.

Diese Rechtsprechung ist auf die Grundsicherung bei Erwerbsminderung nicht übertragbar. Denn bei dieser Leistungsform besteht die vom Bundesverwaltungsgericht als entscheidungserhebliche Eigenart der Sozialhilfe als eine ausschließlich auf die Gegenwart bezogene, gleichsam täglich neu regelungsbedürftige Hilfe nicht. Vielmehr ist die Grundsicherung zwar ebenfalls bedarfsorientiert. Sie ist jedoch nicht am Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet, wonach noch nur der im Einzelfall notwendige Lebensunterhalt sichergestellt werden soll, sondern die Grundsicherung soll den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherstellen. Es handelt sich bei der Grundsicherung um eine auf Dauer angelegte Sozialleistung, die in der Regel für einen Zeitraum von 12 Monaten bewilligt wird (§ 6 Abs. 1 GSiG bzw. ab dem 01.01.2005 § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Der Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherung stellt einen Dauerverwaltungsakt dar (vgl. LPK-BSHG/Brühl, Anhang I (GSiG) § 6; Grube-Wahrendorf, SGB XII, § 44 Rn. 1). Entsprechend muss, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder nicht erbracht worden ist, ein rechtswidriger Bescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden (so auch VGH München, Beschl. v. 13.04.2005 Az.: 12 ZB 05.262); SG Aachen, Urt v. 06.07.2006, Az. S 20 SO 34/06; SG Köln, Urt. v. 06.02.2006, Az.: S 10 SO 15/05). Für das Recht der Grundsicherung ergibt sich darüber hinaus auch unmittelbar aus § 6 Satz 2 GSiG (bzw. ab dem 01.01.2005 § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), dass hier der Gesetzgeber - anders als bei der Sozialhilfe - bei einer Änderung der Verhältnisse eine Leistungsanpassung rückwirkend für die Vergangenheit vorgesehen hat.

Bei Erlass der Bewilligungsbescheide hat der Beklagte das Recht auch unrichtig angewandt, denn der Beklagte hat das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR im Monat zu Unrecht als Einkommen des Klägers angerechnet und die entsprechenden Bescheide sind mit Wirkung für die Vergangenheit abzuändern. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 und 2 GSiG i. V. m. §§ 76 ff. BSHG hat ein Behinderter Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen kann. Bei dem an die Eltern des Klägers gezahlten Kindergeld handelt es sich jedoch nicht um Einkommen des Klägers. Denn das Kindergeld für volljährige Kinder ist Einkommen desjenigen, an den es ausgezahlt wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Kindergeld dem Kind gesondert zugewendet wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.04.2005, Az.: 5 C 28/04; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 02.04.2004, Az.: 12 B 1577/03). Eine gesonderte Zuwendung ist hier weder ersichtlich, noch wird sie vom Beklagten vorgetragen. Da die zu Unrecht für die Vergangenheit nicht erbrachten Sozialleistungen gemäß § 44 Abs. 4 SGB X für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme nachzuzahlen sind, hat der Kläger einen Anspruch für den von ihm geltend gemachten Zeitraum vom 01.09.2003 bis zum 30.06.2004.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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