S 20 SO 25/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 25/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung (GSi) für den Zeitraum 01.07.2006 bis 30.06.2007 mit Wirkung ab 01.01.2007.

Die am 00.00.1966 geborene Klägerin wurde 1990 Opfer einer versuchten Vergewaltung; sie wurde dabei schwer körperlich misshandelt; sie leidet u.a. an Hörminderung links nach Hörsturz, wiederkehrenden Angstzuständen, Migräne, epileptischen Anfällen, Unterbauchbeschwerden, Tachykardien und niedrigem Blutdruck. Es besteht bei ihr eine ausgeprägt emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Sie ist als Schwerbehinderte anerkannt und nach einem Grad der Behinderung (GdB) von 80.

Am 24.06.2002 stellte der Amtsarzt des Beklagten fest, die Klägerin sei "auf Dauer voll erwerbsgemindert". Daraufhin bezog die Klägerin vom Beklagten seit 01.01.2003 Leistungen der GSi bei Erwerbsminderung, bis 31.12.2004 nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG), ab 01.01.2005 nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Zuletzt bewilligte der Beklagte diese Leistung durch Bescheid vom 21.06.2006 für den Zeitraum vom 01.07.2006 bis 30.06.2007.

Im Anschluss an diese Bewilligungsentscheidung leitete der Beklagte eine Überprüfung der GSi-Leistungsvoraussetzung dauerhafter Erwerbsminderung ein und richtete eine Bitte um entsprechende fachliche Stellungnahme an die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Rheinland. Am 21.11.2006 teilte die DRV Rheinland dem Beklagten das Ergebnis einer Untersuchung und Begutachtung der Klägerin durch Dr. X mit: die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII, sie sei nicht dauerhaft voll erwerbsgemindert, weil sie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens drei Stunden täglich erwerbsfähig sein könne.

Daraufhin hob der Beklagte den Bescheid vom 21.06.2006 mit Wirkung ab 01.01.2007 auf unter Hinweis auf die Stellungnahme der DRV Rheinland, wonach die Voraussetzungen für die GSi-Leistung nicht mehr erfüllt seien.

Dagegen legte die Klägerin am 30.11.2006 Widerspruch ein. Sie meinte, die übersandte Stellungnahme der DRV Rheinland sei in keiner Weise aussagekräftig; es sei nicht erkennbar, worauf die Feststellungen gestützt würden; sie sei keineswegs in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Seit dem 01.01.2007 bezieht die Klägerin von der Beigeladenen Arbeitslosengeld (Alg) II, bewilligt durch Bescheid vom 06.12.2006.

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 22.02.2007 - wie der Aufhebungsbescheid gestützt auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) - zurück. Es sei nicht ersichtlich, dass bei der Erstellung des Gutachtens seitens der DRV Rheinland die gesundheitliche Situation der Klägerin und deren Auswirkungen auf ihre Erwerbsfähigkeit unzureichend oder fehlerhaft berücksichtigt worden sein könnten.

Dagegen hat die Klägerin am 23.03.2007 Klage erhoben. Sie hält sich aufgrund ihrer verschiedenen Krankheiten und insbesondere auch aufgrund ihrer psychischen Leiden für nicht erwerbsfähig. Hierzu verweist sie auf ein nervenärztliches Gutachten der Universitätsklinik L. vom 16.01.1998 nebst testpsychologischem Zusatzgutachten vom 07.01.1998.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 23.11.2006 in der Fassung des Wider- spruchsbescheides vom 22.02.2007 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung.

Die Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt.

Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts und der Leistungsfähigkeit der Klägerin im Erwerbsleben von der DRV Rheinland das Gutachten von Dr. X. beigezogen sowie Befundberichte und ärztliche Unterlagen von den die Klägerin behandelnden Ärzten Dr. C.(Gynäkologe), Dr. K. (Internist), Dr. S. (HNO-Arzt bis 2006), Dr. C. (Kardiologe), Dr. Y. (HNO-Arzt aktuell) und Dr. D. (Neurologe/Psychiater) eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird auf das Gutachten vom 08.11.2006 und die Berichte vom 14.05., 22.05. (Eingang), 21.05., 13.06., 03.07. und 21.05.2007 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte, der die Klägerin betreffende Verwaltungsakte des Beklagten sowie der beigezogenen Sozialgerichtsakten S 17 (3) V 149/94 (SG Aachen) bzw. L 6 V 25/96 (LSG NRW), S 17 SB 5/02 und S 17 Vs 8/96 (SG Aachen), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Klägerin erfüllt (jedenfalls) seit Januar 2007 nicht mehr die Voraussetzungen für GSi-Leistungen bei Erwerbsminderung, da sie nicht mehr voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 des Sechsten Buch Sozialgesetzbuch ist, sondern allenfalls noch teilweise erwerbsgemindert (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII). Der Beklagte war demgemäß berechtigt, die Entscheidung über die Bewilligung dieser seit 01.01.2003 gewährten und zuletzt durch Bescheid vom 21.06.2006 für die Zeit ab 01.07.2006 bewilligten Leistung mit Wirkung für die Zukunft, d.h. ab 01.01.2007 aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei Erlass des Bescheides vom 21.06.2006, durch den GSi-Leistungen für die Zeit ab 01.07.2006 weiter bewilligt worden sind, waren die Voraussetzungen für diese Leistungen erfüllt. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin - unwiderlegt und unwidersprochen - voll erwerbsgemindert, und zwar dauerhaft, weil es unwahrscheinlich erschien, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden konnte. Grundlage dieser Entscheidung war die entsprechende amtsärztliche Feststellung vom 24.06.2002. Inzwischen haben sich die tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert. Nunmehr ist die Klägerin unter Berücksichtigung der bei ihr bestehenden körperlichen und psychischen Leiden (wieder) in der Lage, mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem auf Veranlassung der DRV Rheinland eingeholten Gutachten von Dr. X ... Diese hat ärztliche Unterlagen und Berichte über die Klägerin beigezogen und ist aufgrund eigener Untersuchung der Klägerin zum Ergebnis gekommen, dass bei ihr eine medikamentös eingestellte posttraumatische Epilepsie, Migräne, Angstneurose, eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung mit unstetem Bindungsverhalten sowie wiederkehrende Unterleibsbeschwerden bei entzündlichen Veränderungen als wesentliche die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben einschränkende Gesundheitsstörungen beste-hen. Sie ist zum Ergebnis gelangt, dass die Klägerin damit noch drei bis unter sechs Stunden mittelschwere Arbeiten unter Meidung von Anforderungen an die geistige und psychische Belastbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten kann. Diese Feststellungen werden durch diejenigen der behandelnden Ärzte Dr. C., Dr. D. und Dr. Y. im Wesentlichen bestätigt. Diese haben in ihren Befundberichten mitgeteilt, der Klägerin seien leichte Arbeiten (sogar) für sechs Stunden täglich zumutbar. Dr. K., Dr. S. und Dr. C. haben sich zu einer Beurteilung des Leistungsvermögens nicht in der Lage gesehen. Es gibt also keinen Arzt, der aktuell noch von einem unter dreistündigen Leistungsvermögen der Klägerin für Tätigkeiten im Erwerbsleben ausgeht. Angesichts dieser Beweislage bestand keine Notwendigkeit, von Amts wegen ein weiteres medizinisches Gutachten einzuholen.

Soweit sich die Klägerin für ihre Auffassung eines im Sinne voller Erwerbsminderung aufgehobenen Leistungsvermögens auf das Gutachten der Klinik für Psychiatrie der Universität L. vom 16.01.1998 und das dazu eingeholte testpsychologische Gutachten vom 07.01.1998 beruft, verkennt sie, dass auch in diesem Gutachten keine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt wird. Prof. Dr. L. ist dem seinerzeit im Verfahren L 6 V 25/96 für das LSG NRW erstellten nervenärztlichem Gutachten zum Ergebnis gelangt: "Eine vollschichtige Arbeit erscheint aufgrund der Schwere der Grundstörung derzeit nur schwer möglich. Soziale Anpassungsfähigkeit und emotionale Instabilität sind hierfür zu stark ausgeprägt. Eine gegebenenfalls halbschichtige adäquate Tätigkeit sollte allerdings möglich sein."

Das Leistungsvermögen der Klägerin für Tätigkeiten im Erwerbsleben war also nach diesen Feststellungen im Jahre 1998 nicht im Sinne voller Erwerbsminderung aufgehoben. Offensichtlich hat sich allerdings die damalige Prognose des Sachverständigen Prof. Dr. L. nicht bestätigt, sondern ist es zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen mit der Folge, dass vier Jahre später im amtsärztlichen Gutachten von 24.06.2002 eine volle Erwerbsminderung festgestellt worden ist, und diese sogar dauerhaft. Ausgehend davon, dass diese Feststellung im Jahre 2002 zutreffend war, wovon nicht nur der Beklagte, sondern auch die Klägerin ausgehen, war die Entscheidung, der Klägerin im Nachgang dieser Feststellungen GSi-Leistungen zu gewähren, rechtmäßig. Aufgrund der aktuellen Feststellungen der Gutachterin Dr. X. und der die Klägerin behandelnden Ärzte besteht aber nunmehr nur noch eine teilweise Erwerbsminderung, da die Klägerin zumindest noch leichte Arbeiten drei Stunden täglich verrichten kann. Dementsprechend erfüllt die Klägerin nicht mehr die Voraussetzungen für GSi-Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII, sondern - bei gleichbleibender wirtschaftlicher Hilfebedürftigkeit - die Voraussetzungen für Alg II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Diese Leistungen erhält sie daher zu Recht seit 01.01.2007 von der Beigeladenen.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht, dass sie sich vernachlässigt fühlt. Sie möchte, dass ihr geholfen wird. Insbesondere würde sie gerne Unterstützung und Rehabilitation unter Berücksichtigung ihrer psychischen Leiden erfahren. Hierüber hat die Kammer jedoch nicht zu entscheiden. Wenn die Klägerin in letzter Zeit in dieser Hinsicht weder vom Beklagten noch von der Beigeladenen Hilfe erfahren hat, mag dies auch daran gelegen haben, dass aufgrund des anhängigen Verfahrens die Zuständigkeit des Leistungsträgers nicht geklärt war. Diese Unsicherheit ist nunmehr durch der Entscheidung der Kammer beseitigt. Die Klägerin wird sich nunmehr an den zuständigen Fallberater bei der Beigeladenen wenden und mit ihm - gegebenenfalls im Zusammenwirken mit anderen in Betracht kommenden Leistungsträgern - geeignete Maßnahmen zur Eingliederung und Rehabilitation besprechen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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