Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SB 1175/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 SB 178/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist zuletzt noch die Höhe des Grades des Behinderung (GdB) streitig.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18.04.2012 aufgrund von Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, Funktionsbeeinträchtigung von Herz und Kreislauf, einer Sehminderung und Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße einen GdB von 40 fest.
Am 14.05.2013 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag und begehrte die Feststellung eines höheren GdB sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und RF. Zur Begründung gab sie an, sie leide unter eine Wirbelsäulenerkrankung der Hals-, Brust, und Lendenwirbelsäule mit sehr starken Schmerzen und nachweisbaren Läsionen in den Segmenten C6/7 sowie von der Halswirbelsäule ausgehenden Taubheitsgefühlen über die rechte Schulter in die rechte Hand, einer Herzerkrankung mit Einsetzung eines Stent, wechselnd niedrigem und hohem Blutdruck, stark schmerzenden Beschwerden im linken Knie und Beeinträchtigungen der Motorik.
Der Beklagte holte Befundberichte des Neurologen und Psychiaters T sowie des Hausarztes und Internisten Dr. G ein und wertete diese, zusammen mit Arztberichten der Praxis Radiologie B, der Klinik für Neurologie der Medizinisches Zentrum T GmbH und einem Entlassungsbericht der F über eine Rehabilitationsmaßnahme vom 14.03. bis 08.04.2013, durch seinen ärztlichen Dienst aus. Dieser kam zu der Einschätzung der GdB für die Wirbelsäule sei weiter mit 30 zu bewerten, auch der GdB für die Einschränkung der Herz und Kreislauf sei mit 30 weiter zutreffend bewertet. Die Sehminderung und die Funktionsstörungen der unteren Extremitäten sei jeweils weiter mit einem GdB von 10 angemessen beurteilt, weswegen es insgesamt bei einem GdB von 40 verbleiben könne.
Mit Bescheid vom 16.07.2013 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB und Zuerkennung der begehrten Merkzeichen ab. Hiergegen legte die Klägerin am 30.07.2013 Widerspruch ein. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zog der Beklagte noch Befundberichte der Orthopädin und speziellen Schmerztherapeutin Dr. Q sowie der Anästhesiologin und Schmerztherapeutin Dr. L bei und wertete auch diese durch seinen ärztlichen Dienst aus.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2013 wies die Bezirksregierung N den Widerspruch als unbegründet zurück.
Am 05.11.2013 hat die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Klage erhoben.
Das Gericht hat zunächst Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Neurologen und Psychiaters T, des Chirurgen Dr. W, der Anästhesiologin und Schmerztherapeutin Dr. L, des Augenarztes Dr. Q, des Neurochirurgen Prof. Dr. L sowie der Orthopädin und Schmerztherapeutin Dr. Q ... Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellung gegeben worden.
Am 19.08.2014 hat ein Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligen stattgefunden. In diesem Termin hat die Klägerin die Klage hinsichtlich der Merkzeichen G und RF zurückgenommen.
Das Gericht hat sodann ein Gutachten des Orthopäden und Schmerztherapeuten Dr. N eingeholt, welches dieser am 27.02.2015 gegenüber dem Gericht erstattet hat.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.04.2015 hat die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, sich auf die sozialmedizinische Bewertung des gerichtlich bestellten Gutachters bezogen und beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2013 zu verurteilen, bei der Klägerin ab August 2013 den GdB mit 50 festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er sich insbesondere auf die gutachterlichen Stellungnahmen seines ärztlichen Beraters im vorliegenden Verfahren bezogen, wonach die Bildung des Gesamt-GdB durch den Gutachter Dr. N nicht überzeugen könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Ihr steht derzeit kein höherer GdB als 40 zu.
Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (BSG Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.
Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).
Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.
Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht die Feststellung eines GdB von mehr als 40 rechtfertigen.
Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter
1. einer rezidivierenden Cervicobrachialgie rechts bei Status nach Nukleotomie und Implantation von Bandscheibenprothesen am 18.02.2013; Radikulopathie C6 bei Verdacht auf Spinalkanalstenose; rezidivierendes BWS-Syndrom und LWS-Syndrom mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung bei leicht bis mäßiger Spondylchondrose L4 bis S1 2. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren 3. Initiale Femorpatellargelenksarthrose links, Status nach Arthroskopie des linken Kniegelenks 2010 4. Funktionsbeeinträchtigung von Herz und Kreislauf, Zustand nach PTCA und Stentversorgung 5. Sehminderung
Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte, sowie des Gutachten des Dr. N fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen eines erfahrenen Orthopäden und Schmerztherapeuten, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Lediglich die sozialmedizinische Bewertung ist bis zuletzt umstritten geblieben. Nach Auffassung der Kammer überzeugt die Bildung des Gesamt-GdB durch den Gutachter Dr. N im Ergebnis nicht.
Für das Funktionssystem der Wirbelsäule ist – in Übereinstimmung mit dem Gutachter und der seinerzeit behandelnden Orthopädin Dr. Q in ihrem Befundbericht – der GdB gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit 30 zu bewerten.
Die Klägerin gab gegenüber dem Gutachter sowie während des gesamten Verfahrens Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule an, wobei diese im Bereich der Halswirbelsäule besonders ausgeprägt sein. Dort komme es nach ihren eigenen Angaben auch zu Ausstrahlungen in den Bereich der Arme, wobei der rechte stärker als der linke betroffen sei. Dies korrespondiert weitgehend auch mit den objektivierten Befunden im Rahmen der körperlichen Untersuchung der Klägerin. Im Bereich der Halswirbelsäule sind im Februar 2013 Bandscheibenprothesen implantiert worden. Äußerlich sind hiervon reizlosen Narben verblieben. Im Bereich der Halswirbelsäule bestehen ausgeprägte Muskelverhärtungen (sog. Myogelosen). Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule zeigte folgende nach Neutral-Null ermittelten Ausmaße (li/re): das Seitenneigen war mit 20°/0°/20°, die Reklination/Inklination mit 30°/0°/30° und die Rotation mit 40°/0°/40°. Dies entspricht mäßigen bis teilweise – so im Bereich der Neigefähigkeit - fortgeschrittenen Einschränkungen. Die Facettengelenke C4 bis C7 erweisen sich als druckschmerzhaft.
Die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule erschien leichtgradig, die der Lendenwirbelsäule leicht bis mäßiggradig eingeschränkt. Der Finger-Boden-Abstand konnte mit 50 cm ermittelt werden, wobei sich ein Fingerkuppen-Zehenabstand in sitzender Position von 15 cm ergab. Das Ott’sche Zeichen mit 30/32 cm, das Maß nach Schober mit 10/13 cm (zu den Werten nach Schober und Ott vgl. Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S. 224). Die Seitenneigung in der LWS wurde mit 30°/0°/30° und die Rotation der LWS mit 30°/0°/30° beschrieben (vgl. zu den Bewegungsausmaßen der Wirbelsäule allgemein Grifka/Krämer, Orthopädische Unfallchirurgie, 9. Aufl. 2013, S. 157 f.; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2009, S. 17). Das Zeichen nach Lasègue war negativ. Eine Fußheber- oder Fußsenkerschwäche bestand nicht. Im Bereich der Arme konnte der Gutachter Missempfindungen (sog. Dysästhesien) rechts beschreiben sowie einen geringgradig verminderten Fausstschluss rechts gegenüber links. Die Hände zeigte im Übrigen eine seitengleiche Beschwielung, die Umfangsmaße des rechten Armes ließen keine Verschmächtigung der dortigen Muskulatur erkennen. Neurologisch zeigte sich ein aufgehobener Trizepssehnenreflex rechts bei sonst regelhaften Muskeleigenreflexen.
Nach alledem ist bei der Klägerin, zusammen mit dem Gutachter, von schweren funktionellen Auswirkungen im Bereich der Halswirbelsäule bei leicht- bis mittelgradigen Auswirkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule auszugehen, woraus der Gutachter nach Auffassung der Kammer zutreffend, den GdB mit 30 bestimmt.
Mit dem Gutachter ist weiterhin davon auszugehen, dass bei der Klägerin sich zwischenzeitlich eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren entwickelt hat. Dies ergibt sich daraus, dass einige der von der Klägerin geklagten Beeinträchtigungen im Bereich der Lendenwirbelsäule aber auch im Bereich der oberen Extremitäten organisch nicht erklärt werden können. Vor dem Hintergrund der nach Auffassung des Gutachters noch bestehenden therapeutischen Maßnahmen im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie einschließlich einer – bislang nicht durchgeführten - psychiatrischen Mitbehandlung sowie der Tatsache, dass bislang gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze allenfalls eine leichtgradige Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beschrieben wird, erachtet die Kammer den vom Gutachter insoweit in Vorschlag gebrachten GdB von 10 als zutreffend. Soweit Frau Dr. Q in ihrem Befundbericht insoweit einen GdB von 20 in Ansatz bringt, ist dies nach Auffassung der Kammer demgegenüber nicht hinreichend begründbar, dies umso mehr als die mit der Funktionsstörung der Wirbelsäule einhergehenden Schmerzen auch bereits bei Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mitberücksichtigt sind.
Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten ist nach Auffassung der Kammer gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von höchstens 10 in Ansatz zu bringen.
Bei der Untersuchung zeigte die Klägerin ein ausreichend flüssiges, wenngleich geringgradig in der Geschwindigkeit gemindertes Gangbild. Die Hockposition konnte von der Klägerin zur Hälfte eingenommen werden, ohne das ein Druckschmerz im Bereich der Leistenbeugen oder der Trochanteren auftrat. Die Beweglichkeit der Hüftgelenke war weitegehend altersentsprechend normgerecht (vgl. hierzu Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2009, S. 16). Im Bereich der linken Kniescheibe fand sich ein leichter Druck- und Verschiebeschmerz. Die Klägerin trug dort eine Bandage. Retropatellar fand sich ein leichtes Knirschen. Die Meniskuszeichen (Steinmann I und II) waren negativ. Anhaltspunkte für eine Instabilität fanden sich nicht. Die Bewegungsausmaße waren mit beidseits 0°/0/°130° altersentsprechend normgerecht (vgl. zu den anatomisch normalen Bewegungsausmaßen, Schünke, Topgraphie und Funktion des Bewegungssystems, 2. Aufl. 2014, S. 62; Thomann/Schröter/Grosser, a.a.O.). Von Seiten der Sprunggelenke ließen sich keine pathologischen Befunde erheben. Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer für den Bereich der unteren Extremitäten an sich kein GdB festzustellen, allerhöchstens kommt hier ein GdB von 10 im Hinblick auf den Zustand nach Arthroskopie in Betracht.
Für das Funktionssystem Herz und Kreislauf ist gemäß Teil B Ziffer 9 ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen, der nach Auffassung der Kammer indes nur soeben erreicht ist.
Bei der Klägerin erfolgte im Jahr 2010 nach Stenose des Ramus interventricularis anterior (RIVA) die Durchführung einer perkutanen transluminalen koronaren Angioplastie (PTCA) mit Einsetzen eines Stents. Gemäß Teil B Ziffer 9.1.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist nach operativen Eingriffen am Herzen der GdB von der verbleibenden Leistungsbeeinträchtigung abhängig. Nur sofern Herzklappenprothesen eingesetzt wurden –was bei der Klägerin freilich nicht der Fall ist – kommt ein GdB von nicht weniger als 30 in Betracht. Der Eingriff bei der Klägerin ist, dies steht für die Kammer auf der Grundlage der vorliegenden Befund- und Arztberichte, aber auch dem eigenen Vortrag der Klägerin fest, im Ergebnis gut verlaufen. Die Klägerin leidet in erheblich geringerem Maße an Beeinträchtigungen von Herz und Kreislauf. Es kam zwar 2012 zum erneuten Einsatz eines Stents. Allerdings berichtet der Internist und Hausarzt Dr. G nicht über aktuelle Beschwerden. Diese bezogen sich weitgehend auf die orthopädischen Beschwerden der Klägerin, die auch im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erkennbar im Vordergrund standen. Eine aktuelle durchgängige fachkardiologische Betreuung der Klägerin findet offenbar nicht statt. Die Klägerin arbeitet nach eigenen Angaben 7 bis 8 Stunden pro Woche als Reinigungskraft. Hierbei, das gab sie im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme an, muss sie sich treppauf und treppab bewegen. Die Klägerin nimmt überdies Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen und es sind Probleme mit dem Blutdruck vorbeschrieben. Unter Berücksichtigung der der Klägerin noch möglichen Arbeit und der Tatsache, dass objektivierbare Beschwerden seit Längerem nicht nachgewiesen sind, ist nach Auffassung der Kammer der GdB von 30, den der Beklagte festgesetzt hat und der Gutachter übernommen hat, angemessen, wenngleich durchaus wohlwollend.
Für die Sehminderung ist nach Auffassung der Kammer nach Teil B Ziffer 4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze kein GdB in Ansatz zu bringen. Maßgeblich ist die korrigierte Sehschärfe. Diese beträgt bei der Klägerin rechts 1,0 und links 0,9. Hierfür ist kein GdB vorgesehen. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Gesichtsfelddefekts bestanden aktuell und in der Vergangenheit nicht.
Wesentliche weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die einen GdB bedingen könnten sind nicht objektiviert. Dies gilt insbesondere für die geklagten Beeinträchtigungen der Arme. Diese wurden bei der Bewertung des GdB für die Wirbelsäule – als Ausfluss der Beeinträchtigung der HWS – bereits mitbewertet.
Vor diesem Hintergrund ist bei der Klägerin gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.
§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).
Im Vordergrund stehen vorliegend erkennbar die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule. Diese bedingen – wie oben ausgeführt – soeben einen GdB von 30. Neben diesen sind die Beeinträchtigungen für das Funktionssystem Herz und Kreislauf in Ansatz zu bringen. Diese stehen aber – wie bereits mehrfach ausgeführt – erkennbar hinter den Beeinträchtigungen durch die orthopädischen Beeinträchtigungen zurück, weswegen es nach Auffassung der Kammer gerechtfertigt erscheint, den GdB insgesamt auf 40 zu erhöhen.
Die Auffassung des Gutachter Dr. N, der GdB sei "knapp mit 50" zu bewerten überzeugt die Kammer nicht. Dies schon vor allem deshalb, weil sich die objektivierten Beeinträchtigungen der Klägerin gerade nicht gemäß Teil A Nr. 3 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen lassen, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen GdB-Wert von 50 angeben (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur). Insbesondere lassen sich Beeinträchtigungen vergleichbar einer Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthesen die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst, schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb), oder aber einer Versteifung des Hüftgelenks in ungünstiger Stellung oder dem Verlust eines Beins im Unterschenkel bei der Klägerin nicht feststellen.
Die begehrte Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft kommt damit derzeit nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist zuletzt noch die Höhe des Grades des Behinderung (GdB) streitig.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18.04.2012 aufgrund von Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, Funktionsbeeinträchtigung von Herz und Kreislauf, einer Sehminderung und Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße einen GdB von 40 fest.
Am 14.05.2013 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag und begehrte die Feststellung eines höheren GdB sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und RF. Zur Begründung gab sie an, sie leide unter eine Wirbelsäulenerkrankung der Hals-, Brust, und Lendenwirbelsäule mit sehr starken Schmerzen und nachweisbaren Läsionen in den Segmenten C6/7 sowie von der Halswirbelsäule ausgehenden Taubheitsgefühlen über die rechte Schulter in die rechte Hand, einer Herzerkrankung mit Einsetzung eines Stent, wechselnd niedrigem und hohem Blutdruck, stark schmerzenden Beschwerden im linken Knie und Beeinträchtigungen der Motorik.
Der Beklagte holte Befundberichte des Neurologen und Psychiaters T sowie des Hausarztes und Internisten Dr. G ein und wertete diese, zusammen mit Arztberichten der Praxis Radiologie B, der Klinik für Neurologie der Medizinisches Zentrum T GmbH und einem Entlassungsbericht der F über eine Rehabilitationsmaßnahme vom 14.03. bis 08.04.2013, durch seinen ärztlichen Dienst aus. Dieser kam zu der Einschätzung der GdB für die Wirbelsäule sei weiter mit 30 zu bewerten, auch der GdB für die Einschränkung der Herz und Kreislauf sei mit 30 weiter zutreffend bewertet. Die Sehminderung und die Funktionsstörungen der unteren Extremitäten sei jeweils weiter mit einem GdB von 10 angemessen beurteilt, weswegen es insgesamt bei einem GdB von 40 verbleiben könne.
Mit Bescheid vom 16.07.2013 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB und Zuerkennung der begehrten Merkzeichen ab. Hiergegen legte die Klägerin am 30.07.2013 Widerspruch ein. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zog der Beklagte noch Befundberichte der Orthopädin und speziellen Schmerztherapeutin Dr. Q sowie der Anästhesiologin und Schmerztherapeutin Dr. L bei und wertete auch diese durch seinen ärztlichen Dienst aus.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2013 wies die Bezirksregierung N den Widerspruch als unbegründet zurück.
Am 05.11.2013 hat die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Klage erhoben.
Das Gericht hat zunächst Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Neurologen und Psychiaters T, des Chirurgen Dr. W, der Anästhesiologin und Schmerztherapeutin Dr. L, des Augenarztes Dr. Q, des Neurochirurgen Prof. Dr. L sowie der Orthopädin und Schmerztherapeutin Dr. Q ... Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellung gegeben worden.
Am 19.08.2014 hat ein Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligen stattgefunden. In diesem Termin hat die Klägerin die Klage hinsichtlich der Merkzeichen G und RF zurückgenommen.
Das Gericht hat sodann ein Gutachten des Orthopäden und Schmerztherapeuten Dr. N eingeholt, welches dieser am 27.02.2015 gegenüber dem Gericht erstattet hat.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.04.2015 hat die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, sich auf die sozialmedizinische Bewertung des gerichtlich bestellten Gutachters bezogen und beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2013 zu verurteilen, bei der Klägerin ab August 2013 den GdB mit 50 festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er sich insbesondere auf die gutachterlichen Stellungnahmen seines ärztlichen Beraters im vorliegenden Verfahren bezogen, wonach die Bildung des Gesamt-GdB durch den Gutachter Dr. N nicht überzeugen könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Ihr steht derzeit kein höherer GdB als 40 zu.
Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (BSG Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.
Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).
Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.
Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht die Feststellung eines GdB von mehr als 40 rechtfertigen.
Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter
1. einer rezidivierenden Cervicobrachialgie rechts bei Status nach Nukleotomie und Implantation von Bandscheibenprothesen am 18.02.2013; Radikulopathie C6 bei Verdacht auf Spinalkanalstenose; rezidivierendes BWS-Syndrom und LWS-Syndrom mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung bei leicht bis mäßiger Spondylchondrose L4 bis S1 2. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren 3. Initiale Femorpatellargelenksarthrose links, Status nach Arthroskopie des linken Kniegelenks 2010 4. Funktionsbeeinträchtigung von Herz und Kreislauf, Zustand nach PTCA und Stentversorgung 5. Sehminderung
Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte, sowie des Gutachten des Dr. N fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen eines erfahrenen Orthopäden und Schmerztherapeuten, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Lediglich die sozialmedizinische Bewertung ist bis zuletzt umstritten geblieben. Nach Auffassung der Kammer überzeugt die Bildung des Gesamt-GdB durch den Gutachter Dr. N im Ergebnis nicht.
Für das Funktionssystem der Wirbelsäule ist – in Übereinstimmung mit dem Gutachter und der seinerzeit behandelnden Orthopädin Dr. Q in ihrem Befundbericht – der GdB gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit 30 zu bewerten.
Die Klägerin gab gegenüber dem Gutachter sowie während des gesamten Verfahrens Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule an, wobei diese im Bereich der Halswirbelsäule besonders ausgeprägt sein. Dort komme es nach ihren eigenen Angaben auch zu Ausstrahlungen in den Bereich der Arme, wobei der rechte stärker als der linke betroffen sei. Dies korrespondiert weitgehend auch mit den objektivierten Befunden im Rahmen der körperlichen Untersuchung der Klägerin. Im Bereich der Halswirbelsäule sind im Februar 2013 Bandscheibenprothesen implantiert worden. Äußerlich sind hiervon reizlosen Narben verblieben. Im Bereich der Halswirbelsäule bestehen ausgeprägte Muskelverhärtungen (sog. Myogelosen). Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule zeigte folgende nach Neutral-Null ermittelten Ausmaße (li/re): das Seitenneigen war mit 20°/0°/20°, die Reklination/Inklination mit 30°/0°/30° und die Rotation mit 40°/0°/40°. Dies entspricht mäßigen bis teilweise – so im Bereich der Neigefähigkeit - fortgeschrittenen Einschränkungen. Die Facettengelenke C4 bis C7 erweisen sich als druckschmerzhaft.
Die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule erschien leichtgradig, die der Lendenwirbelsäule leicht bis mäßiggradig eingeschränkt. Der Finger-Boden-Abstand konnte mit 50 cm ermittelt werden, wobei sich ein Fingerkuppen-Zehenabstand in sitzender Position von 15 cm ergab. Das Ott’sche Zeichen mit 30/32 cm, das Maß nach Schober mit 10/13 cm (zu den Werten nach Schober und Ott vgl. Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S. 224). Die Seitenneigung in der LWS wurde mit 30°/0°/30° und die Rotation der LWS mit 30°/0°/30° beschrieben (vgl. zu den Bewegungsausmaßen der Wirbelsäule allgemein Grifka/Krämer, Orthopädische Unfallchirurgie, 9. Aufl. 2013, S. 157 f.; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2009, S. 17). Das Zeichen nach Lasègue war negativ. Eine Fußheber- oder Fußsenkerschwäche bestand nicht. Im Bereich der Arme konnte der Gutachter Missempfindungen (sog. Dysästhesien) rechts beschreiben sowie einen geringgradig verminderten Fausstschluss rechts gegenüber links. Die Hände zeigte im Übrigen eine seitengleiche Beschwielung, die Umfangsmaße des rechten Armes ließen keine Verschmächtigung der dortigen Muskulatur erkennen. Neurologisch zeigte sich ein aufgehobener Trizepssehnenreflex rechts bei sonst regelhaften Muskeleigenreflexen.
Nach alledem ist bei der Klägerin, zusammen mit dem Gutachter, von schweren funktionellen Auswirkungen im Bereich der Halswirbelsäule bei leicht- bis mittelgradigen Auswirkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule auszugehen, woraus der Gutachter nach Auffassung der Kammer zutreffend, den GdB mit 30 bestimmt.
Mit dem Gutachter ist weiterhin davon auszugehen, dass bei der Klägerin sich zwischenzeitlich eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren entwickelt hat. Dies ergibt sich daraus, dass einige der von der Klägerin geklagten Beeinträchtigungen im Bereich der Lendenwirbelsäule aber auch im Bereich der oberen Extremitäten organisch nicht erklärt werden können. Vor dem Hintergrund der nach Auffassung des Gutachters noch bestehenden therapeutischen Maßnahmen im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie einschließlich einer – bislang nicht durchgeführten - psychiatrischen Mitbehandlung sowie der Tatsache, dass bislang gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze allenfalls eine leichtgradige Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beschrieben wird, erachtet die Kammer den vom Gutachter insoweit in Vorschlag gebrachten GdB von 10 als zutreffend. Soweit Frau Dr. Q in ihrem Befundbericht insoweit einen GdB von 20 in Ansatz bringt, ist dies nach Auffassung der Kammer demgegenüber nicht hinreichend begründbar, dies umso mehr als die mit der Funktionsstörung der Wirbelsäule einhergehenden Schmerzen auch bereits bei Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mitberücksichtigt sind.
Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten ist nach Auffassung der Kammer gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von höchstens 10 in Ansatz zu bringen.
Bei der Untersuchung zeigte die Klägerin ein ausreichend flüssiges, wenngleich geringgradig in der Geschwindigkeit gemindertes Gangbild. Die Hockposition konnte von der Klägerin zur Hälfte eingenommen werden, ohne das ein Druckschmerz im Bereich der Leistenbeugen oder der Trochanteren auftrat. Die Beweglichkeit der Hüftgelenke war weitegehend altersentsprechend normgerecht (vgl. hierzu Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2009, S. 16). Im Bereich der linken Kniescheibe fand sich ein leichter Druck- und Verschiebeschmerz. Die Klägerin trug dort eine Bandage. Retropatellar fand sich ein leichtes Knirschen. Die Meniskuszeichen (Steinmann I und II) waren negativ. Anhaltspunkte für eine Instabilität fanden sich nicht. Die Bewegungsausmaße waren mit beidseits 0°/0/°130° altersentsprechend normgerecht (vgl. zu den anatomisch normalen Bewegungsausmaßen, Schünke, Topgraphie und Funktion des Bewegungssystems, 2. Aufl. 2014, S. 62; Thomann/Schröter/Grosser, a.a.O.). Von Seiten der Sprunggelenke ließen sich keine pathologischen Befunde erheben. Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer für den Bereich der unteren Extremitäten an sich kein GdB festzustellen, allerhöchstens kommt hier ein GdB von 10 im Hinblick auf den Zustand nach Arthroskopie in Betracht.
Für das Funktionssystem Herz und Kreislauf ist gemäß Teil B Ziffer 9 ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen, der nach Auffassung der Kammer indes nur soeben erreicht ist.
Bei der Klägerin erfolgte im Jahr 2010 nach Stenose des Ramus interventricularis anterior (RIVA) die Durchführung einer perkutanen transluminalen koronaren Angioplastie (PTCA) mit Einsetzen eines Stents. Gemäß Teil B Ziffer 9.1.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist nach operativen Eingriffen am Herzen der GdB von der verbleibenden Leistungsbeeinträchtigung abhängig. Nur sofern Herzklappenprothesen eingesetzt wurden –was bei der Klägerin freilich nicht der Fall ist – kommt ein GdB von nicht weniger als 30 in Betracht. Der Eingriff bei der Klägerin ist, dies steht für die Kammer auf der Grundlage der vorliegenden Befund- und Arztberichte, aber auch dem eigenen Vortrag der Klägerin fest, im Ergebnis gut verlaufen. Die Klägerin leidet in erheblich geringerem Maße an Beeinträchtigungen von Herz und Kreislauf. Es kam zwar 2012 zum erneuten Einsatz eines Stents. Allerdings berichtet der Internist und Hausarzt Dr. G nicht über aktuelle Beschwerden. Diese bezogen sich weitgehend auf die orthopädischen Beschwerden der Klägerin, die auch im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erkennbar im Vordergrund standen. Eine aktuelle durchgängige fachkardiologische Betreuung der Klägerin findet offenbar nicht statt. Die Klägerin arbeitet nach eigenen Angaben 7 bis 8 Stunden pro Woche als Reinigungskraft. Hierbei, das gab sie im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme an, muss sie sich treppauf und treppab bewegen. Die Klägerin nimmt überdies Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen und es sind Probleme mit dem Blutdruck vorbeschrieben. Unter Berücksichtigung der der Klägerin noch möglichen Arbeit und der Tatsache, dass objektivierbare Beschwerden seit Längerem nicht nachgewiesen sind, ist nach Auffassung der Kammer der GdB von 30, den der Beklagte festgesetzt hat und der Gutachter übernommen hat, angemessen, wenngleich durchaus wohlwollend.
Für die Sehminderung ist nach Auffassung der Kammer nach Teil B Ziffer 4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze kein GdB in Ansatz zu bringen. Maßgeblich ist die korrigierte Sehschärfe. Diese beträgt bei der Klägerin rechts 1,0 und links 0,9. Hierfür ist kein GdB vorgesehen. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Gesichtsfelddefekts bestanden aktuell und in der Vergangenheit nicht.
Wesentliche weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die einen GdB bedingen könnten sind nicht objektiviert. Dies gilt insbesondere für die geklagten Beeinträchtigungen der Arme. Diese wurden bei der Bewertung des GdB für die Wirbelsäule – als Ausfluss der Beeinträchtigung der HWS – bereits mitbewertet.
Vor diesem Hintergrund ist bei der Klägerin gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.
§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).
Im Vordergrund stehen vorliegend erkennbar die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule. Diese bedingen – wie oben ausgeführt – soeben einen GdB von 30. Neben diesen sind die Beeinträchtigungen für das Funktionssystem Herz und Kreislauf in Ansatz zu bringen. Diese stehen aber – wie bereits mehrfach ausgeführt – erkennbar hinter den Beeinträchtigungen durch die orthopädischen Beeinträchtigungen zurück, weswegen es nach Auffassung der Kammer gerechtfertigt erscheint, den GdB insgesamt auf 40 zu erhöhen.
Die Auffassung des Gutachter Dr. N, der GdB sei "knapp mit 50" zu bewerten überzeugt die Kammer nicht. Dies schon vor allem deshalb, weil sich die objektivierten Beeinträchtigungen der Klägerin gerade nicht gemäß Teil A Nr. 3 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen lassen, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen GdB-Wert von 50 angeben (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur). Insbesondere lassen sich Beeinträchtigungen vergleichbar einer Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthesen die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst, schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb), oder aber einer Versteifung des Hüftgelenks in ungünstiger Stellung oder dem Verlust eines Beins im Unterschenkel bei der Klägerin nicht feststellen.
Die begehrte Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft kommt damit derzeit nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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