S 20 AY 14/15 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 AY 14/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AY 70/15 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe:

I. Die Antragsteller sind kosovarische Staatsangehörige und haben Asylanträge gestellt. Nach ihren Angaben verfügen der Antragsteller zu 1) über eine Duldung, die Antragsteller zu 2) bis 4) über Aufenthaltsgestattungen. Die Antragstellerin zu 2) leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Sie ist in der 13. Woche schwanger; der errechnete Geburtstermin ist der 02.06.2016. Der behandelnde Psychiater Prof. Dr. M. hält deshalb eine Reisefähigkeit für nicht gegeben. Die Antragstellerin zu 3) besucht eine Grundschule, der Antragsteller zu 4) einen Kindergarten, beide jeweils in Geilenkirchen.

Die Antragsteller erhalten von der Antragsgegnerin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Sie wohnen seit Februar 2015 in einem Mehrfamilienhaus in der Bahnhofstraße 3b in Geilenkirchen, das bis vor Kurzem mit 10 weiteren Personen (Flüchtlinge) belegt war. Die Antragsgegnerin beabsichtigt, die Unterkunft in der Bahnhofstraße 3b kurzfristig anderweitig zu nutzen. Sie will dort unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unterbringen. Im Hinblick darauf hat sie den Antragstellern eine andere Wohnung in der Gneisenaustraße in Teveren zugewiesen und sie aufgefordert, dorthin umzuziehen. Diese teilten der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 08.12.215 unter Vorlage ärztlicher Bescheinigungen des behandelnden Psychiaters vom 14.06., 16.11. und 06.12.2015 mit, sie hielten den Umzug im Hinblick auf die PTBS und die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2) für unzumutbar. Die Antragsgegnerin teilte den Antragstellern daraufhin am 09.12.2015 mit, sie sei verpflichtet, Wohnraum zur Verfügung zu stellen; daraus resultiere jedoch kein Anspruch auf eine bestimmte Wohnung. Die derzeit zugewiesene Wohnung werde künftig anderweitig genutzt; die anderen dort bisher wohnenden Flüchtlinge seien bereits umgezogen.

Am 10.12.2015 haben die Antragsteller um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht. Sie sind der Auffassung, die Umverteilung sei unberechtigt und verstoße gegen Art. 2 Grundgesetz (GG). Sie verweisen auf die erhebliche psychische Erkrankung der Antragstellerin zu 2) und deren Schwangerschaft. Sie behaupten, der behandelnde Arzt bescheinige, "dass ein Ortswechsel ein gesundheitliches Risiko" darstelle. Auch sei es unzumutbar, wenn die Kinder "jeden Tag über 10 Kilometer von Teveren nach Geilenkirchen anreisen" müssten; sie hätten ihren sozialen Lebensmittelpunkt in Geilenkirchen; ihr gesamter Freundeskreis lebe dort; das Herausreißen der Kinder aus ihrem sozialen Umfeld berge ein unkalkulierbares Risiko für die kindliche Entwicklung. Hierzu haben die Antragsteller schriftliche Äußerungen der Grundschule und der Kindertagesstätte vorgelegt. Im Übrigen meinen die Antragsteller, ihre Zuweisung durch die Bezirksregierung könne nicht einfach geändert werden; auch das spreche gegen einen Umzug nach Teveren.

Die Antragsteller beantragen nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Antragsteller aus ihrer zugewiesenen Unterkunft in der Bahnhofstraße 3b in Geilenkirchen zu räumen und ihnen eine andere Unterkunft in Teveren zuzuteilen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie hat mitgeteilt, dass die Antragsteller in eine andere Wohnung eines Einfamilienhauses in einem Außenort von Geilenkirchen umziehen sollen, die etwa 5 Kilometer vom Stadtkern entfernt und durch öffentliche Nahverkehrsmittel sehr gut zu erreichen sei. In diesem Ortsteil seien insgesamt siebzehn Einfami¬lienhäuser von der Stadt Geilenkirchen zur Belegung mit Flüchtlingsfamilien und Einzelperso¬nen angemietet worden. Fünfzehn Häuser seien hier derzeit belegt. Die Wohnsituation der Familie, die durch die Zuweisung einer Wohnung bereits erheblich besser sei als die vieler anderer Flüchtlinge, die in Gemeinschaftsunterkünften und Turnhallen untergebracht seien, verschlechtere sich durch den Umzug nicht. Auch mache die größere Entfernung zum Stadtkern die Wohnsituation nicht unzumutbar, da alle Einrichtungen der Innenstadt mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln zu erreichen seien. Auch die weiteren im Außenort lebenden Flüchtlinge und Transferleistungsempfänger nutzten diese Möglichkeit der Mobilität. Aus den in der betreffenden Wohnsiedlung ansonsten lebenden und durch die Stadt Geilenkirchen unter¬gebrachten Flüchtlingsfamilien besuchten derzeit bereits 4 Grundschulkinder die Europa-Grundschule im Stadtkern und nutzen für den Schulweg regelmäßig den öffentlichen Nahver¬kehr. Sofern mit dem Antrag gesundheitliche Gründe für die Ablehnung eines Umzuges geltend ge¬macht werden, könne dies nicht dazu führen, den geplanten Umzug zu verbieten. So¬fern die Antragsteller sich auf traumatische Belastungsstörungen beriefen, gelte dies derzeit auch für landesweite tausende anderer Flüchtlinge, auch für solche, die in Gemeinschafts- und Sammelunterkünften Zuflucht gefunden hätten. Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass das Begehren der Antragsteller gegenüber den sonstigen Interessen, die in Bezug auf die Unterbringung ihr zugewiesener unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zu berücksichtigen seien, nachrangig sei. Hierzu hat die Antragsgegnerin dargelegt: "Die hohe Zahl der zugewiesenen Flüchtlinge bedingt auch eine entsprechend hohe Zahl von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die durch das Jugendamt in Obhut zu nehmen sind und für die mitunter in der Folge Amtsvormundschaften durch das Jugendamt auszuüben sind. An die Unterbringung und die Versorgung und Betreuung der Kinder sind in Zusammenar¬beit mit den freien Trägern der Jugendhilfe und entsprechend auszuarbeitenden sozialpädagogischen Konzepten besondere Maßstäbe anzulegen. U. a. sollen Wohnungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ein geschütztes Umfeld bieten. Die derzeit noch von den Antragstel¬lern bewohnte Wohnung sowie die weiteren Wohnungen in dem Mehrfamilienhaus bieten eine solche Voraussetzung in besonderem Maße, sodass bereits alle anderen Flüchtlingsfamilien innerhalb des hier bestehenden dezentralen Unterbringungskonzeptes in andere Wohnungen umgezogen sind. Nach dem Umzug der Antragsteller soll hier umgehend das Wohnkonzept für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings umgesetzt werden. Die bisherige Unterbringung dieser minderjährigen Flüchtlinge entspricht trotz der derzeit überall bestehenden Notsituatio¬nen nicht den Anforderungen des Landesjugendamtes, sodass hier dringender Handlungsbedarf besteht und die Gesamtsituation eine entsprechende Handlungsweise der Stadt Geilenkir¬chen notwendig macht. Handlungsalternativen bestehen auf Grund der derzeit insgesamt ange¬spannten Versorgungssituation der Flüchtlinge nicht. Eine gleichzeitige Nutzung der Wohnein¬heiten in dem derzeit von den Antragstellern bewohnten Objekt durch die Antragsteller sowie die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist durch die konzeptionell vorgegebenen Rah¬menbedingungen ausgeschlossen."

II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Ast. muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage dringend geboten ist.

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien fehlt es für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowohl am Anordnungsanspruch als auch am Anordnungsgrund.

Gemäß § 3 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte zur Deckung des notwendigen Bedarfs Unterkunft (Abs. 1 Satz 1). Der notwendige Bedarf wird durch Sachleistungen gedeckt (Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 4). Die leistungsberechtigten Antragsteller haben Anspruch auf eine Unterkunft, aber nicht auf eine bestimmte – von ihnen bevorzugte oder gewünschte – Wohnung. Sie haben weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass die neue Wohnung in der Gneisenaustraße, in der die Antragsgegnerin sie unterbringen will, eine unzumutbare Unterkunft ist. Für unzumutbar halten sie allein einen Umzug von der bisher bewohnten in die neue Wohnung.

In Eilverfahren, die zulässig sind, wenn ohne sie den Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, dürfen Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Jedoch stellt Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht zu beseitigen wären. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgeabwägung zu entscheiden. Die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint und nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05).

Die Abwägung der unterschiedlichen Belange und Interessen der von dem Verbleib der Antragssteller in der bisherigen Wohnung betroffenen (natürlichen und juristischen) Personen ergibt, dass der Umzug für die Antragsteller nicht unzumutbar ist und die damit verbundenen Belastungen hinter den Belangen der Antragsgegnerin und insbesondere der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, denen nach dem Jugendhilferecht (vgl. §§ 42a bis 42f des Achten Buch Sozialgesetzbuch – SGB VIII, eingefügt durch Art. 1 Nr. 4 des "Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher" vom 28.10.2015 – BGBl. I S. 1802) besonderer Schutz zu gewähren ist, zurückzustehen haben.

Die Behauptung der Antragsteller, der behandelnde Arzt habe bescheinigt, dass "ein Ortswechsel ein gesundheitliches Risiko darstellt", lässt sich durch die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht verifizieren. Der behandelnde Psychiater der Antragstellerin zu 2) hält eine "Reisefähigkeit" für nicht gegeben und eine "Abschiebung" für nicht menschengerecht. Mit dem von der Antragsgegnerin vorgesehenen Wohnungswechsel von der Bahnhofstraße 3b in die davon nur 6,1 km (recherchiert nach "google maps") entfernte Gneisenaustraße ist weder eine Reise noch ein Abschiebung verbunden. Beide Wohnungen liegen in 52511 Geilenkirchen; Teveren ist lediglich ein Ortsteil von Geilenkirchen. Deshalb greift auch der Einwand hinsichtlich der Wohnsitzauflage nicht. Wenn in den Aufenthaltstiteln der Antragsteller die Wohnsitznahme auf "52511 Geilenkirchen" mit dem Zusatz "zurzeit: Bahnhofstraße 3b" beschränkt ist, steht dem ein Wohnungswechsel innerhalb von Geilenkirchen in den Ortsteil Teveren nicht entgegen, dann ggf. mit dem Zusatz "zurzeit: Gneisenaustraße" verbunden. Die PTBS der Antragstellerin ist zwar eine erhebliche gesundheitliche Störung; jedoch ist nicht glaubhaft gemacht, dass ein innerstädtischer Umzug in eine andere Wohnung zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen würde und deshalb nicht zugemutet werden könnte. Die (Früh-)Schwangerschaft in der 13. Woche ist keine Krankheit; dass mit dem vorgesehene Umzug eine konkrete Gefahr für die die Gesundheit der Antragstellerin zu 2) und das ungeborene Kind verbunden sein könnte, ist weder substanziiert dargelegt noch durch ärztliche Atteste belegt noch überhaupt plausibel.

Auch die Belange der Antragsteller zu 3) und 4) sind nicht derart erheblich, dass sie einen innerstädtischen Umzug als unzumutbar erscheinen ließen. Ein "Herausreißen der Kinder aus ihrem sozialen Umfeld" ist nicht erkennbar. Sie brauchen die Schule bzw. die Kindertagesstätte nicht zu wechseln. Die etwas längeren Wegstrecken – zur Schule 5,4 km statt bisher 1,1 km, zur Kindertagesstätte 5,5 km statt bisher 2,8 km (jeweils recherchiert nach "google maps") – können nach Angaben der Antragsgegnerin mit Nahverkehrsmitteln sehr gut erreicht werden. Soweit daher die Antragsteller es für unzumutbar halten, "wenn die Kinder jeden Tag über 10 Kilometer von Teveren nach Geilenkirchen anreisen müssen", ist diese Annahme schon in tatsächlicher Hinsicht falsch.

Demgegenüber hat die Antragsgegnerin nachvollziehbar und überzeugend erklärt, dass eine hohe Zahl von ihr zu betreuender unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge eines besonderen Schutzes bedarf, der u a. durch entsprechend geeignete Wohnungen in einem geschützten Umfeld gewährleistet werden kann. Das für die Unterbringung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge vorgesehene Mehrfamilienhaus, in dem die Antragsteller derzeit noch wohnen, trägt den Anforderungen – auch des Landesjugendamtes – an den nach dem Jugendhilferecht vorgeschrieben hohen Schutzbedarf dieser Personengruppe Rechnung; es erfüllt in besonderem Maße die Voraussetzungen für ein geschütztes Umfeld der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Im Hinblick darauf ist den Antragsteller der Umzug in die vorgesehene Wohnung in Geilenkirchen/Teveren zumutbar.
Rechtskraft
Aus
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