S 12 VJ 7/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 VJ 7/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Am 09.02.2015 stellten die Eltern des am 00.00.0000 geborenen Klägers, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, einen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG). Darin führten sie aus, der Kläger sei als vollkommen gesundes Kind auf die Welt gekommen. Erst mehrere Monate nach seiner Geburt seien erhebliche Behinderungen entstanden. Mittlerweile sei das Kind schwerst behindert und vollständig auf die Hilfe Dritter angewiesen. Auffällig sei, dass der Kläger mit Infanrix® geimpft wurde und die Behinderungen sich erst nach den Impfungen eingestellt hätten. Infanrix® mit seiner Sechsfach-Impfung sei dafür bekannt, Ursache für Kindstodfälle sowie Impfschäden zu sein. Genetische Untersuchungen beim Kläger hätten einen genetischen Defekt nicht nachweisen können. Beim Kläger ist durch das Versorgungsamt B. einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G, aG, B, H und Bl festgestellt.

Dem Antrag beigefügt waren Arztberichte der Klinik und Poliklinik für Allgemeine Kinderheilkunde der Uniklinik L., des Krankenhaus N. gGmbH C., sowie des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der städtischen Kliniken N. Ergänzend führte der Kläger aus, die entsprechende Impfung sei am 30.03.2006 durch den Kinderarzt Dr. G. erfolgt. Es habe sich um Infanrix® hexa mit der Chargennummer A21CA134C gehandelt. Der Kläger sei nach der Impfung unruhig gewesen, habe Schreiattacken gehabt, Fieber, Verstopfung und starke Blähungen.

Im Laufe des Verwaltungsverfahrens wurden weitere Arztberichte des Epilepsie-Zentrums Bethel im evangelischen Krankenhaus C., CT- und MRT-Berichte der städtischen Kliniken N., Arztberichte der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums N., ein humangenetisches Gutachten des MGZ in N. sowie eine humangenetische Beurteilung durch das medizinische Versorgungszentrum Dr. T. + Kollegen eingeholt. Darüber hinaus wurde das Kinder-Untersuchungsheft (U-Heft) des Klägers vorgelegt.

Der Beklagte holte weitere Arzt und Befundberichte des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der städtischen Kliniken N. und einen Arztbericht der Klinik für Manuelle Therapie ein und wertete die vorliegenden Berichte durch seinen ärztlichen Dienst aus.

Dieser führte aus, der Kläger sei am 15.02.2006, 30.03.2006, 21.08.2006 sowie am 08.02.2007 mit dem 6-fach Impfstoff Infanrix® (Tetanus, Polio, Pertussis, Diphterie, HIN und Hepatitis B) geimpft worden. Unerwünschte Nebenwirkungen seien nicht dokumentiert worden bzw. bis zur Antragstellung auch nicht diskutiert worden. Im nunmehr gestellten Antrag werde nun das beim Kläger bestehende Lennox-Gastaut- Syndrom auf die Impfung vom 30.03.2006 zurückgeführt. Bei dem Lennox-Gastaut- Syndrom handele sich um eine therapieresistente Epilepsie mit beim Kläger zusätzlicher schwerer geistiger Behinderung, dystoner Tetraparese und Blindheit. Der Kläger sei häufig stationär behandelt worden. Eine Verbindung zwischen dem beim Kläger vorliegenden Krankheitsbild und einer Impfung werde in keinem der hieraus resultierenden Befunde erwähnt, bzw. für möglich gehalten. Ein Zusammenhang zwischen diesem schweren Krankheitsbild und der Impfung sei nicht zu erkennen, da zum einen der zeitliche Abstand zwischen Impfung und den Erstsymptomen des Lennox-Gastaut-Syndroms mehr als drei Wochen betragen habe, zum anderen aber auch nach der wissenschaftlichen Lehrmeinung das Lennox-Gastaut-Syndrom nicht durch die Infanrix®- Impfung bzw. eine andere Impfung ausgelöst werden könne. Insoweit werde auf das epidemiologische Bulletin vom 22.06.2007 der ständigen im Kommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts verwiesen. Danach würden als Komplikation eine vorübergehende Temperaturerhöhung und Fieberkrämpfe, allergische Reaktionen sowie hypoton-hyporesponsive Episoden aufgeführt. Unter der Rubrik "Krankheiten/Krankheitserscheinungen in ungeklärtem ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung" heiße es dort "nach Ablösung der früher verwendeten Vollbakterien-Pertussis-Komponenten im DTP- Impfstoff durch eine moderne azelluläre Pertussis-Komponente wurde über zentral-nervöse Schäden nach einer Impfung in der medizinischen Fachliteratur nicht mehr berichtet. Eine veröffentlichte Kasuistik (Encephalopathie) über den ursächlichen Zusammenhang ist fraglich. Demzufolge ist auch beim DTaP-IPV-IPV-Hib-HB-Impfstoff nicht mit einer Encephalopathie zu rechnen".

Zusammengefasst liege ein Zusammenhang zwischen dem beim Kläger bestehenden Lennox-Gastaut- Syndrom und der Impfung vom 30.03.2006 nicht vor.

Mit Bescheid vom 02.07.2015 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab.

Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, am 10.07.2015 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 04.03.2016 als unbegründet zurückgewiesen wurde.

Am 02.04.2016 hat der Kläger Klage erhoben und hierbei zunächst beantragt, ihm wegen eines im Zusammenhang mit der Impfung vom 08.02.2007 erlittenen Schadens in Gestalt einer Epilepsie Beschädigtenversorgung nach dem IfSG ab dem 01.02.2015 zu gewähren. Mit Schriftsatz vom 19.08.2016 hat er dann klargestellt, es gehe um die am 30.03.2006 erfolgte Impfung.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung verschiedener Arztberichte des Chefarztes des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der städtischen Kliniken N. Prof. Dr. L. aus den Jahren 2006 bis 2016 sowie eines Befundberichts des Arztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. G. Darüber hinaus hat es ein Gutachten nach Aktenlage durch den Arzt für Innere Medizin sowie Mikrobiologie und Epidemiologie Prof. Dr. E. eingeholt.

Am 11.07.2017 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 02.07.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2016 zu verurteilen, ihm wegen eines im Zusammenhang mit der Impfung vom 30.03.2006 erlittenen Schadens in Gestalt einer Epilepsie und Folgeerkrankungen Beschädigtenversorgung nach dem IfSG ab dem 01.02.2015 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Kläger ist nicht gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen Rechten verletzt, da die angegriffenen Bescheide rechtmäßig sind. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen als Folge der Impfung mit Infanrix® hexa vom 30.03.2006. Er erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Gewährung einer Versorgung als Pflichtleistung gemäß § 60 Abs. 1 i.V.m. § 61 S. 1 IfSG. Auch die Grundsätze, die eine Gewährung von Leistungen im Rahmen der sog. Kannversorgung nach § 60 Abs. 1 i.V.m. § 61 S. 2 IfSG in Betracht kommen ließen, liegen nicht vor.

Gemäß § 60 Abs. 1 i.V.m. § 61 S. 1 IfSG erhält derjenige, der u.a. durch eine Schutzimpfung, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieses Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Impfschaden ist nach der Legaldefinition des § 2 Nr. 11 lfSG die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch eine Impfung eine gesundheitliche
(Primär-)Schädigung eingetreten ist und dass Gesundheitsstörungen vorliegen, die als deren Folgen zu bewerten sind. Die Impfung als das schädigende Ereignis, der Impfschaden als die (Primär-)Schädigung und die Schädigungsfolgen müssen mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit – sog. Vollbeweis – erwiesen sein (Bundessozialgericht – BSG – Urteil vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84 = juris; BSG Urteil vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R = juris; BSG Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VJ 1/10 R = juris; vgl. auch Landessozialgericht – LSG – Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.09.2010, L 6 VJ 23/05 = juris).

Der Kläger ist unstreitig am 30.03.2006 mit dem Sechsfach-Impfstoff Infanrix® gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Hepatitis B, und Haemophilus influenzae-Erkrankungen geimpft worden. Dies entsprach auch 2006 den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut (vgl. etwa Epidemiologisches Bulletin Nr.32/2006). Es handelte sich hiermit gemäß § 20 Abs. 3 IfSG in der damals geltenden Fassung i.V.m. dem damals geltenden Runderlass des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit vom 7.12.2000 (MBl. NRW, 2000 S. 1639) um eine öffentliche Empfehlung im Sinne des § 60 IfSG.
Zur Beschreibung des hier verwendeten Impfstoffes Infanrix® hexa verweist das
Paul-Ehrlich-Institut auf seiner Homepage auf die Informationen der European Medicines Agency über die Bewertung des Mittels durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) im Europäischen Öffentlichen Beurteilungsberichts (EPAR; abrufbar unter Dort (http://www.ema.europa.eu/docs/de DE/document library/EPAR -Summary for the public/human/000296/WC500032499.pdf; vgl. auch die ausführliche Beschreibung des Impfstoffes, einschließlich der sog. "Packungsbeilage" unter /000296/WC500032505.pdf).

Der Kläger leidet im Wesentlichen unter folgenden Gesundheitsstörungen:

1. Sog. "BNS"-Epilepsie, West-Syndrom, infantile Spasmen
2. Lennox-Gastaut-Syndrom

mit den mit diesen Erkrankungen einhergehenden schwerwiegenden Folgeerkrankungen, insbesondere einer schweren geistigen Behinderung und Tetraparese. Das Vorliegen dieser Gesundheitsstörung steht für die Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Befund- und Arztberichten sowie der gutachterlichen Stellungnahmen und Gutachten fest.

Zur Krankengeschichte ist festzuhalten, dass der Kläger nach unauffälligem Verlauf von Schwangerschaft und Geburt sowie der ersten vier Lebensmonate am 22.04. (23.04.?) 2006 wegen Verstopfung in der Kinderklinik H. betreut wurde. Dort sei auch der Verdacht auf eine Sehstörung geäußert worden (keine Blickkontaktaufnahme, keine Folgebewegungen). Nach augenärztlicher Untersuchung erfolgte die Vorstellung in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Städtischen Kliniken N. (Kinderklinik N.) zur weiteren Abklärung, zuerst wohl ambulant, danach stationäre Aufnahme. Bei Erhebung der Vorgeschichte verwies die Mutter auf ihre Beobachtung, dass der Kläger seit etwa zwei Wochen oft zu beiden Seiten an ihr vorbei schauen würde. Während der stationären Behandlung vom 23.4.2006-8.8.2006 traten bei dem Kläger die ersten BNS-verdächtigen Anfälle auf, die in zusammenfassender Wertung zur Diagnose BNS-Epilepsie führten. Im Verlauf nach der Diagnosestellung BNS-Epilepsie wurde der Kläger engmaschig ambulant und vor allem stationär in der Kinderklinik N. und dem Epilepsiezentrum Bethel des Evangelischen Krankenhauses C. behandelt. Das BNS- Krampfleiden mit schwerster psychomotorischer Entwicklungsretardierung erwies sich als Therapierefraktär, begleitende Erkrankungen traten zusätzlich auf (unter anderen CMV-Hepatitis, Bronchitiden, allergisches Asthma bronchiale). Die Ursache der Erkrankung konnte trotz umfangreicher, auch entsprechender humangenetischer Diagnostik, nicht geklärt werden (Abteilung Humangenetik des Universitätsklinikums N., Medizinisches Genetisches Zentrum N., Medizinisches Versorgungszentrum Dr. T., N.). Die Aufnahme erfolgte hierbei freilich nicht wegen eines Krampfanfalls, auch die Aufnahmeuntersuchung verzeichnet keinen Anfall. Im Krankenblatt der Kinderklinik fehlen exakte Daten des ersten Anfalls. Dieser könnte aber frühestens nach dem 22. oder 23.4.2006 aufgetreten sein und damit in einem Mindestintervall von 24 bis 25 Tagen nach der zweiten Infanrix-Impfung, wahrscheinlich Tage später.

Die BNS-Epilepsie (synonym: West-Syndrom; treffender wohl: epileptischer Spasmus – engl. Infantile spasm), beginnt fast immer im ersten Lebensjahr, ganz überwiegend zwischen dem zweiten und zehnten (vgl. auch Schmitz/Steinhoff, Epilepsien – Taschenatlas spezial, 2005, S. 22: dritter bis 12. Lebensmonat; Neubauer/Hahn, Dooses Epilepsien im Kindes- und Jugendalter, 13. Aufl. 2014, S. 184: zweiter bis achter Lebensmonat); in Ausnahmen auch erstmals im zweiten Lebensjahr. Die erkrankten Kinder zeigen nahezu regelhaft mit Epilepsiebeginn einen Entwicklungsstillstand, die meisten Kinder erleiden einen Verlust bereits erworbener Fähigkeiten. Die möglichen Ursachen für die Erkrankung sind mannigfaltig. Hier kommen vor allem Schädigungen in Betracht, die das kindliche Gehirn vor der Geburt und während der Schwangerschaft, unter der Geburt und in der frühen Säuglingszeit treffen: Veränderungen der Chromosomen, Gehirnfehlbildungen, angeborene Stoffwechselstörungen, andere Entwicklungsstörungen des Gehirn, Sauerstoffmangel unter der Geburt oder postnatal, Infektionen während der Schwangerschaft oder auch in der Neugeborenenperiode oder im frühen Säuglingsalter, traumatische
Schädel-Hirn-Verletzungen unter der Geburt oder postnatal (vgl. Gutachten Prof. Dr. Dittmann; vgl. auch Schmitz/Steinhoff, Epilepsien – Taschenatlas spezial, 2005, S. 22; Staudt, Kinder-EEG, 2014, S. 134 f.; Neubauer/Hahn, Dooses Epilepsien im
Kindes- und Jugendalter, 13. Aufl. 2014, S. 184 ff.). Daneben lässt sich bei einer kleineren Gruppe von Kindern keine solche Ursache nachweisen (sog. "kryptogene" Formen, bzw. Formen unbekannter Ätiologie). Diese Kinder entwickeln sich bis kurz vor dem Auftreten der ersten Anfälle völlig normal. Sehr selten besteht eine familiäre Belastung allgemein für Epilepsien. Insgesamt hat die Erkrankung ein sehr breites Spektrum möglicher Ursachen. Der Gutachter Prof. Dr. E. führt aus, dass das international anerkannte Standardwerk (Aicardi: Diseases oft he nervous system in childhood) insgesamt etwa 50 Ursachen der BNS-Epilepsie aufführt.
Bei verschiedensten genetischen Defekten wird eine mögliche Ursächlichkeit diskutiert.

Gelingt es nicht, die Anfälle in Remission zu bringen, erfolgt häufig ein Übergang in ein Lennox-Gastaut-Syndrom oder andere Epilepsien (vgl. Schmitz/Steinhoff, Epilepsien – Taschenatlas spezial, 2005, S. 22). Beim Lennox-Gastaut-Syndrom handelt sich um eine seltene, aber eine der am schwersten behandelbaren Epilepsien im Kindesalter, die mit sehr häufigen Anfällen und verschiedenen Anfallsformen sowie schwerster psychomotorischer und intellektueller Entwicklungsretardierung einhergeht und zu einem sehr komplexen Krankheitsbild führt. Die Krampfanfälle sind schwer zu kontrollieren, persistieren häufig bis in das Erwachsenenalter und benötigen eine lebenslange Behandlung (Gutachter Prof. Dr. E.; vgl. zum
Lennox-Gastaut-Syndrom auch etwa Fegers/Eggert/Resch, Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, 2. Aufl. 2012, S. 342 f.; Neubauer/Hahn, Dooses Epilepsien im Kindes- und Jugendalter, 13. Aufl. 2014, S. 196 ff.).

Für den Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der (Primär-) Schädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, wenn die Kausalität wahrscheinlich gemacht ist (§ 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn nach der aktuell geltenden
medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen sie spricht, d.h. die für den Zusammenhang sprechende Umstände mindestens deutlich überwiegen (vgl. BSG Urteil vom 19.03.1986 - 9a RVi 2/84 = juris; BSG Beschluss vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 = juris; BSG Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VJ 1/10 R = juris; BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R = juris).

Hierzu formuliert Teil C Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze:

"a) Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden
medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Mit besonderer Sorgfalt ist das Für und Wider abzuwägen. Auch bei schwierigen Zusammenhangsfragen soll man bemüht sein, im Gutachten zu einer verwertbaren Beurteilung zu kommen.

b) Grundlage für die medizinische Beurteilung sind die von der herrschenden
wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese. Es genügt nicht, dass ein einzelner Wissenschaftler oder eine einzelne Wissenschaftlerin eine Arbeitshypothese aufgestellt oder einen Erklärungsversuch unternommen hat. Es kommt auch nicht allein auf die subjektive Auffassung der beurteilenden Person an.
c) Vielfach lässt allein der große zeitliche Abstand ohne Brückensymptome den ursächlichen Zusammenhang unwahrscheinlich erscheinen. Die angemessene zeitliche Verbindung ist in der Regel eine Voraussetzung für die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Andererseits kann die zeitliche Verbindung zwischen einer Gesundheitsstörung und dem geleisteten Dienst für sich allein die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht begründen. Die Tatsache, dass z.B. ein Soldat beim Eintritt in den Dienst gesund war, dass er den Einflüssen des Dienstes ausgesetzt war und dass eine Krankheit während der Dienstzeit entstanden oder hervorgetreten ist, reicht für die Annahme einer Schädigungsfolge nicht aus. Es muss vielmehr der ungünstige Einfluss einer bestimmten Dienstverrichtung oder allgemeiner dienstlicher Verhältnisse auf die Entstehung oder Verschlimmerung der Krankheit dargelegt werden, da Krankheiten aller Art, insbesondere innere Leiden, zu jeder Zeit auch ohne wesentliche Mitwirkung eines schädigenden
Vorgangs entstehen können.
d) Aus dem Umstand, dass der Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang nach wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden kann, lässt sich nicht folgern, dass er darum wahrscheinlich sei. Ebenso wenig kann das Vorliegen einer Schädigungsfolge bejaht werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang nur möglich ist."

In diesem Zusammenhang sind auch – trotz zwischenzeitlicher Einführung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – auch Teil C Nr. 57 der Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) aus dem Jahr 2008 (AHP 2008) weiterhin von Bedeutung (vgl. dazu etwa BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VJ 1/10 = juris; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 16.11.2011 – L 4 VJ 2/10 = juris), wonach die im Epidemiologischen Bulletin der beim Robert-Koch-Institut eingerichtete ständigen Impfkommission (STIKO) veröffentlichen Arbeitsergebnisse betreffend die Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft darstellen. Diese berücksichtigen die von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese.

Die Kammer geht mit dem Gutachter Prof. Dr. E. unter Berücksichtigung der gegenwärtigen wissenschaftlichen Auffassung zu DTaP-HB-IPV-Haemophilus influenzae-lmpfstoffen und BNS-Epilepsie und dem im vorliegenden Fall fehlenden engen zeitlichen Intervall zwischen Impfung und der Manifestation des Krampfleidens davon aus, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Infanrix®-Impfung und der BNS-Epilepsie beim Kläger nicht wahrscheinlich im oben genannten Sinne ist.

Bei Prof. Dr. E. handelt es sich um einen äußerst erfahrenen gerichtlichen Gutachter mit besonderer Expertise auf dem Gebiet der Epidemiologie und Mikrobiologie. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit des in dem Gutachten dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine durchgreifenden Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben.

Der Gutachter führt nachvollziehbar aus, dass ein Zusammenhang zwischen
BNS-Epilepsie und Impfstoffen gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Hepatitis B, Haemophilus influenzae Typ b (sowohl als monovalente als auch multivalente Impfstoffe bis zum 6-fach-lmpfstoff) nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht herzustellen ist. Zwar waren insbesondere zu Zeiten als die Pertussis-Impfung noch mit Vollbakterien-Impfstoffen durchgeführt wurde durchaus im Rahmen von entsprechen Studien in den 1970er und 1980er Jahren seltenen Impfschäden beschrieben, so insbesondere gelegentlich - nach anhaltendem schrillen Schreien - innerhalb von 3 Tagen Enzephalopathie, mit dabei oft bestehenden hirnorganische Anfälle, bei manchmal progredientem Verlauf. Nach Enzephalopathie blieben selten auch Dauerschäden (spastische Lähmungen und geistige Retardierung). Seit Längerem werden aber in den industrialisierten Ländern azelluläre Pertussis-Impfstoffe verwendet, so auch beim Kläger, da diese weniger Lokalreaktionen und Fieber verursachten und besser verträglich waren. In diesem Zusammenhang ist freilich festzustellen, dass nach dem Übergang auf azelluläre Pertussis-Impfstoffe nur wenige weitere Erkenntnisse zu Pertussis-Impfstoff und zentralnervösen Komplikationen gewonnen.

Es findet sich aber in der überwiegenden Mehrzahl der die - zahlreichen möglichen - Ursachen einer BNS-Epilepsie diskutierenden Publikationen Impfungen, insbesondere die Pertussis- Impfung, keine Erwähnung. Weder sind in dem international anerkannten Standardwerk (Aicardi: Diseases oft he nervous system in childhood), noch wird in dem Positionspapier der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pertussisimpfung/Diphtherie-Tetanus-Pertussisimpfung (2015) Impfungen als eine mögliche Ursache für die BNS-Epilepsie vermerkt. Auch die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut vermerkt in ihren Hinweisen zu Nebenwirkungen des Diphtherie- Tetanus-Pertussisimpfstoffs mit azellulärer Pertussis-Komponente keine Komplikation BNS, das Gleiche gilt für den Abschnitt DTP-vaccines and other combined vaccines based on DTP in der Enzyklopädie Meyler’s Side Effect of Drugs, wo ebenfalls keine entsprechende Impfkomplikation vermerkt ist. Ein 2012 veröffentlichter Bericht des Institute of Medicine (IOM) der (US) Akademie der Wissenschaften Adverse Effects of Vaccines: Evidence and Causality , in welchem mehr als 12 000 peer-reviewed Veröffentlichungen des nationalen (United States) und internationalen Schrifttums wurden einbezogen wurden, kam bei der Bewertung eines möglichen ursächlichen Zusammenhangs der nachfolgend genannten Impfstoffe mit infantile spasms (BNS-Epilepsie) zu der Einschätzung einer fehlenden mechanistische Evidenz für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Diphtherie-Tetanus-Impfstoff oder azellulärem Pertussisimpfstoff und einer ungenügenden oder fehlenden epidemiologischen Evidenz für eine ursächlichen Zusammenhang mit azellulärem Pertussis-Impfstoff. Insgesamt ist mithin festzuhalten, dass sich seit dem Austausch des Pertussis-Impfstoffes Berichte zur wahrscheinlichen Verursachung von
BNS-Epilepsie durch Impfstoffe mit Diphtherie-Tetanus-Pertussis-Poliomyelitis Hepatitis B-Haemophilus influenzae- Komponenten in der nationalen/ internationalen Literatur nicht mehr finden. Auch in der Fachinformation des von der Europäischen Zulassungsbehörde EMA lizensierten Impfstoffs Infanrix® werden als mögliche
ZNS- Komplikationen (Komplikationen im Bereich des Zentralen Nervensystems) genannt: Krampfanfälle (mit und ohne Fieber), bei gleichzeitiger Anwendung mit dem Pneumokokken-Impfstoff) Prevenar genannt. In den Hinweisen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2007/Ausgaben/25 07.pdf? blob=publicationFile) heißt es zu Komplikationen der Impfung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio-myelitis, Hepatitis B, Haemophilus influenzae Typ b-Erkrankungen:

"In Einzelfällen kann es im Zusammenhang mit einer Temperaturerhöhung beim Säugling und jungen Kleinkind zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen".

Eine Wahrscheinlichkeit für einen ursächlichen Zusammenhang der bestehenden Erkrankungen durch die Impfung lässt sich mithin nach derzeit herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung nicht herstellen. Er finden sich freilich Hinweise, dass Impfungen – durch eine damit u.U. einhergehende Fieberreaktion – den früheren Beginn dieser Syndrome (Dravet, West-Syndrom) triggern könnten. Konkrete Hinweise im vorliegenden Fall, dass die Impfung einen früheren Beginn der Epilepsie getriggert haben könnte, finden sich nach dem Gutachten des Prof. Dr. E., dem sich die Kammer auch insoweit anschließt, indes nicht. Hier ist auch auf die insoweit bestehende Karenzzeit zu verweisen.

Soweit der Kläger-Bevollmächtigte im Rahmen der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, der Gutachter sei nicht darauf eingegangen, dass ausweislich der Patientenakte des behandelnden Kinderarztes der Kläger am 13.04.2006 mit Schnupfen und Husten vorgestellt wurde, was als Brückensymptom anzusehen sei, folgt die Kammer dieser Einschätzung nicht. In der Tat findet sich am 13.04.2006 folgende Eintragung:

"Schnupfen, Husten, kein Fieber, kein Durchfall, kein Erbrechen, Lunge frei ( )"

Auch ist in der Packungsbeilage als gelegentliche Nebenwirkung eine Infektion der oberen Atemwege und Husten beschrieben. Dies wird nach Auffassung der Kammer indes zu Recht vom Gutachter nicht als "Brückensymptom" für die später eintretenden schwerwiegenden Erkrankungen diskutiert. Zum einen ist nach Auffassung der Kammer der April landläufig, wohl aufgrund der dort häufig herrschenden Witterung, als Erkältungszeit bekannt. Hinzu kommt, dass zwischen dem Husten und Schnupfen und der Impfung fast zwei Wochen vergangen sind. Schließlich änderte eine ggf. tatsächlich eingetretene Nebenwirkung in Form eines Schnupfens und Hustens nichts daran, dass nach herrschender wissenschaftlichen Lehrmeinung ein Zusammenhang zwischen den hier in Rede stehenden, schwersten Erkrankungen und der Impfung nicht besteht. Es besteht insoweit auch ein erheblicher Unterschied zu der Entscheidung des Sozialgerichts München vom 03.12.2015 (S 9 VJ 2/06). In dieser Entscheidung war es zu einer unmittelbaren Reaktion des dortigen Klägers auf die Impfung in Form von Fieber (40° C), schrillem Schreien und allgemeiner Unruhe gekommen. Dort war dann vom Vorliegen einer Encephalopathie ausgegangen worden. Ausgehend von dieser hat das Gericht dann einen Kausalzusammenhang angenommen. Entsprechende Befunde sind vorliegend indes nicht objektiviert, so dass die beiden Fälle schon auf tatsächlicher Ebene nicht zu vergleichen sind. Zwar hat der Kläger im Antrag beim Beklagten angegeben, es hätten sich nach der Impfung Schreiben, Fieber, Verstopfung und Blähungen eingestellt. Entsprechende Beschwerden sind indes – mit Ausnahme der Beeinträchtigung des Intestinaltraktes, aufgrund derer der Kläger am 22.04.2006 in der Kinderklinik H. behandelt wurde - nicht näher objektiviert.

Unter Zugrundelegung des vorliegend eingeholten Gutachtens steht für die Kammer mithin fest, dass es sich im Falle des Klägers um eine BNS-Epilepsie unklarer Ätiologie handelt, d.h. die mögliche Ursache ist ungeklärt. Es ist dies bei bis zu 20% der an BNS-Epilepsie-Erkrankten der Fall. Auch die Ergebnisse partieller
molekular-genetischer Untersuchungen führten zu keiner Aussage. Die Tatsache, dass der Zeitpunkt der Impfung und das Auftreten der Erkrankung nahe beisammen liegen, begründet nicht die Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit, zumal die Zeitrahmen der empfohlenen Impfung und der des gewöhnlichen Auftreten der Erkrankungen ähnlich sind (vgl. dazu auch SG Koblenz S 4 VJ 1/07 bestätigt durch LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 16.11.2011 – L 4 VJ 2/10 = juris).

Die Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit der Impfung für das beim Kläger vorliegende Lennox-Gastaut-Syndrom ist ebenfalls nicht gegeben. Es hat sich beim Kläger, wie leider häufig (vgl. dazu bereits die Ausführungen oben), das BSN-Syndrom in ein Lennox- Gastaut-Syndrom gewandelt.

Es besteht nach alledem unter Zugrundelegung der vorliegenden Fakten und Befunden sowie den Beurteilungen nationaler und internationaler Fachgremien zur Fragestellung und den Anforderungen der Versorgungsmedizin-Verordnung keine Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der am 30.3.2006 bei Ahmet durchgeführten Infanrix®-Impfung und der einige Wochen später beginnenden BNS-Epilepsie sowie den sich hieraus entwickelnden Folgeerkrankungen.

Es liegen auch nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Kann-Versorgung im Sinne des § 61 Satz 2 IfSG vor. Nach dieser Norm kann – es handelt sich mithin um eine Ermessensentscheidung - mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden, wenn die erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Nun besteht zwar insbesondere im Fall der BNS-Epilepsie unklarer Ätiologie - wie der Name schon sagt – Unklarheit über die konkrete Ursache des Leidens. Wie aber bereits oben ausgeführt ist eine Ursächlichkeit der geltend gemachten Impfung nach derzeitigem Stand der Wissenschaft nicht gegeben, so dass insoweit auch eine
Kann-Versorgung ausscheidet, vgl. Teil C Ziffer 4 lit. d) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (vgl. dazu auch BSG Urteil vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80 m.w.N. = juris; vgl. jüngst Hessisches LSG Urteil vom 22.09.2016 – L 1 VE 34/14 = juris Rn. 51 m.w.N.).

Die Klage war nach alledem abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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