S 12 VG 1/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 VG 1/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der am 10.04.1982 geborene Kläger stellte am 25.02.2016 beim Beklagten einen Antrag auf Leistungen auf Leistungen für Gewaltopfer nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG).

Zur Begründung gab er an, es sei am 03.12.2015 zu einer Auseinandersetzung mit dem seinem Nachbarn, Herrn X. Q., gekommen. Er, der Kläger, sei an diesem Tage gegen 16:00 Uhr damit beschäftigt gewesen auf dem Flachdach des Anbaus M. Straße 0 in X. Gitterteile zu ordnen, um sie dann auf dem Dach montieren zu können. Als Herr Q. ihn erblickt habe, sei dieser offensichtlich einem cholerischen Wutanfall unterlegen, der damit geendet habe, dass er dem Kläger entgegengebrüllt habe "Ich steche dich ab, Du Krüppel". In diesem Moment habe Herr Q. zudem an das Dach des Anbaus eine Leiter aufgestellt, eine Mistgabel ergriffen und sich auf das Dach begeben. Herr Q. habe schon mit der Mistgabel ausgeholt, was den Kläger veranlasst habe, zu fliehen und sich durch ein Fenster des Hauses M. Straße 0 in Sicherheit zu bringen. Dabei habe er sich sein rechtes Knie verdreht, was zu einer Ruptur des vorderen Kreuzbands des rechten Knies im mittleren Drittel geführt habe. Hinzugekommen seien begleitende Knochenkontusionen des posteromedialen posterolateralen Tibiakopfs mit kleiner knöcherner Impressionsfraktur der posteromedialen Tibiakante. Weiterhin habe er eine ausgeprägte Deformierung des Hoffa-Fettkörpers im Sinne einer erheblichen Kontusion mit wahrscheinlichen Einriss erlitten. Dem Antrag beigefügt waren u.a. ein Entlassungs- und OP-Bericht des medizinischen Versorgungszentrums B. in B ...

Auf entsprechende Strafanzeige und Strafantrag des Klägers hin führte die Staatsanwaltschaft B. ein Ermittlungsverfahren durch, welches indes eingestellt wurde, weil die Erhebung einer öffentlichen Klage nicht im öffentlichen Interesse liege. Der Kläger sei auf den Weg der Privatklage zu verweisen. Bei dem geschilderten Sachverhalt handele es sich um das Ergebnis eines bereits seit längerer Zeit schwelenden Nachbarschaftsstreits, der über die Nachbarschaft hinaus Interessen der Allgemeinheit nicht berühre. Rein vorsorglich wurde darauf verwiesen, dass der Beschuldigte bestreite, irgendwelche bedrohenden Äußerungen getätigt zu haben. Mit der Mistgabel habe er die auf dem Mauerwerk bereitgestellten Gitter wegschieben wollen. Die vom Kläger hiergegen eingelegte Beschwerde wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft L. als unbegründet zurückgewiesen, der hiergegen gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde durch Beschluss des Oberlandesgerichts L. vom 08.07.2016 als unzulässig verworfen. Der Senat des Oberlandesgerichts führte hierbei unter anderem aus:

"Ungeachtet der aufgeführten inhaltlichen Mängel, die bereits aus formalen Gründen zwingend zu einer Zurückweisung des Antrags führen, vermag der Senat Grund einer summarischen Durchsicht der Akten dem Begehren auch innerlich keine Erfolgsaussichten beizumessen. Schon nach dem eigenen Vorbringen des Anzeigeerstatters, wonach er sich außerhalb der Reichweite der Mistgabel des Beschuldigten befunden habe, scheidet ein Tatnachweis wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung jedenfalls in subjektiver Hinsicht erkennbar aus. Soweit der Anzeigeerstatter den Beschuldigten wegen Nötigung verfolgt wissen will bestehen durchgreifende Zweifel im Hinblick auf den Einsatz eines Nötigungsmittels zu einem auch nur annähernd konkretisierten Unterlassen durch den Anzeigeerstatter als Handlungsziel des Beschuldigten".

Mit Bescheid vom 25.08.2016 lehnte der Beklagte den Antrag auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG) ab. Das Vorliegen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG sei nicht nachgewiesen. Der hiergegen mit Telefax 23.09.2016 eingelegte Widerspruch wurde durch den Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2016 als unbegründet zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich der Kläger mit der am 05.01.2017 erhobenen Klage.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 05.09.2017 hat das Gericht Beweis erhoben durch Vernehmung des Vaters des Klägers, Herrn I. H. L. sowie Frau H. Q., der Ehefrau des Herrn X. X. Q ... Dieser, ebenfalls als Zeuge geladen, hat am 04.09.2017 ein ärztliches Attest vom gleichen Datum vorgelegt, wonach er aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Gerichtsverhandlung teilnehmen könne.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 25.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz im Hinblick auf den Vorfall vom 03.12.2015 zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid vom 25.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2016 gerichtete Klage ist zulässig aber unbegründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen Rechten verletzt, da diese rechtmäßig sind. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG), da zur Überzeugung der Kammer die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht nachgewiesen sind.

Zur Begründung verweist die Kammer zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Beklagten in seinem Widerspruchsbescheid vom 29.11.2016. Ergänzend und erläuternd führt die Kammer zudem Folgendes aus.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Voraussetzung für die Annahme des Tatbestands sind damit das Vorliegen eines "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs", das Vorliegen einer Schädigung sowie das Bestehen von Schädigungsfolgen, wobei die einzelnen Elemente durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dem sich die erkennende Kammer nach eigener Prüfung anschließt, grundsätzlich unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27; BSG Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R = juris Rn. 35 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R = juris Rn. 25).

Soweit insoweit eine "gewaltsame" Einwirkung vorausgesetzt wird, ist nach der benannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch den Begriff des "tätlichen Angriffs" den schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat (BSG Urteil 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R = juris Rn. 36 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 - = juris; BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R = juris). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (vgl. dazu etwa Küpper in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 240 Rn. 3 ff.; Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, § 240 Rn. 8 ff m.w.N.) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus (vgl. insbesondere BT-Drucks 7/2506, S. 10), wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein; dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, d.h. als tätiger Einsatz materieller Zwangsmittel, insbesondere körperlicher Kraft (vgl. Bosch, Münchener Kommentar, StGB, 2012, § 113 Rn. 18 m.w.N.; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 113 Rn. 42). Damit liegt ein tätlicher Angriff im Sinne der hier einschlägigen Norm im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor (vgl. BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 = juris; BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 = juris; BSG Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 = juris; sowie Begründung des Regierungsentwurfs zum OEG, BT-Drucks 7/2506, S. 10, 13 f.), setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus; das Bundessozialgericht ist einem an Aggression orientiertem Begriffsverständnis des tätlichen Angriffs trotz dessen inhaltlicher Nähe zur Gewalttätigkeit im Sinne des § 125 StGB (vgl. Eser in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 113 Rn. 46; zu § 125 StGB vgl. Bundesgerichtshof - BGH - Urteil vom 8.8.1969 - 2 StR 171/69 = juris) letztlich nicht gefolgt (st. Rspr.ds seit 1995; vgl. BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 = juris; BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 = juris; BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 5/95 -= juris). Dahinter steht der Gedanke, dass auch nicht zum (körperlichen) Widerstand fähige Opfer von Straftaten den Schutz des OEG genießen sollen.

Für die Annahme eines tätlichen Angriffs ist freilich nicht maßgeblich, ob der vom Täter ggf. beabsichtigte Verletzungserfolg eingetreten ist (vgl. BSG Urteil vom 28.3.1984 - 9a RVg 1/83 = juris). Auch über das Versuchsstadium einer Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Opfers hinaus, kann eine Handlung des Täters als tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG angesehen werden.

Es kann nach der genannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts durchaus eine gewaltsame Einwirkung auf den Körper eines anderen in diesem Sinne grundsätzlich auch schon bei einem physisch vermittelten Zwang vorliegen, ohne dass es zu einer körperlichen Berührung zwischen Täter und Opfer kommen muss (vgl. etwa BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RVg 5/91 = juris; BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RVg 1/94 = juris); besteht in diesen Fällen doch – ungeachtet eines verwirklichten Verletzungserfolgs - wegen der Angriffshandlung bereits eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit der anderen Person; damit geht regelmäßig die reale Gefahr eines Körperschadens einher (vgl. etwa BSG Urteil vom 28.5.1997 - 9 RVg 1/95 = juris; BGS Urteil vom 3.2.1999 - B 9 VG 7/97 R = juris).

Ob in diesen Fällen die Grenze zum tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG überschritten ist, beurteilt sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung aus der objektiven Sicht eines vernünftigen Dritten und orientiert sich dabei an folgenden Grundsätzen:

Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bzw. je größer der Einsatz körperlicher Gewalt oder physischer Mittel ist, desto geringere Anforderungen sind zur Bejahung eines tätlichen Angriffs in objektiver Hinsicht zu stellen. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt, desto genauer muss geprüft werden, inwiefern durch die Handlung - unter Berücksichtigung eines möglichen Geschehensablaufs - eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand. Die Grenze zwischen einem sozialadäquaten Verhalten und einem tätlichen Angriff ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass auch das bereits objektiv hochgefährdete Opfer bei Abwehr-, Ausweich- oder Fluchtreaktionen den Schutz des OEG genießt; sie ist jedenfalls dann überschritten, wenn die Abwehr eines solchen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt wäre (BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 4/01 R = juris zur Drohung mit Gewalt). Die Angriffshandlung (bzw. der Einsatz körperlicher Mittel) muss für sich genommen nicht gravierend sein, um - unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - eine hinreichende Gefährdung von Leib oder Leben des Opfers und damit einen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anzunehmen.

Im vorliegenden Fall stellt sich das tatsächliche Geschehen nach Auffassung der Kammer nach Durchführung der Beweisaufnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 05.09.2017 wie folgt dar.

Der Nachbar, Herr Q., hat mit einer Mistgabel eine an den Anbau, auf dem sich der Kläger befand, gestellte Leiter bestiegen. In diesem Zusammenhang hat Herr Q. auch die Mistgabel in Richtung des Klägers gehalten und diesen mit den Worten "Ich stech‘ Dich ab!" bedroht. Dieses Szenario legt die Kammer zugrunde. Es entspricht den Angaben des Klägers im Antrag sowie denen seines Vaters, dem Zeugen L., im Rahmen der Beweisanordnung. Eine Vernehmung des Herrn Q. zu diesem Aspekt war nach Auffassung der Kammer nicht erforderlich. Dieser hatte seinerzeit in seiner polizeilichen Befragung Herr Q. grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, dass er den Kläger mit der Mistgabel mit den Worten "Ich stech‘ Dich ab" bedroht habe. Soweit Herr Q. später angegeben haben soll, er habe lediglich die Gitter wegschieben wollen, so mag dies grundsätzlich sein. Es bleibt aber die Drohung mit der Mistgabel, die für die Kammer ebenfalls zur Überzeugung feststeht. Die seinerzeit eingesetzten Beamten hatten in ihrer Strafanzeige vermerkt, sie gingen nicht davon aus, dass der Beschuldigte seine Drohung habe umsetzen wollen. Er habe dies vielmehr wohl eher als Folge einer bestehenden Verzweiflung, die auf einen lang andauernden Nachbarschaftsstreit zurückzuführen sei, geäußert. Unter Berücksichtigung der Zeugenaussagen des Vaters des Klägers aber auch der Zeugin Q., geht auch die Kammer hiervon aus.

Fest steht für die Kammer ebenfalls, dass – auch unter Berücksichtigung allein des klägerischen Vortrags und der Aussage des Zeugen L. - dass es zu einem direkten Eingriff des Herrn Q. in die körperliche Unversehrtheit des Klägers nicht gekommen ist. Dies hatte bereits zu Recht auch der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts L. in seinem Beschluss vom 08.07.2016 (III-1 Ws 44/16 -35 -) festgestellt.

Nun war oben bereits dargelegt worden, dass freilich auch Fälle der bloßen Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, bei denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw. an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, denkbar sind, die ebenfalls unter die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zu fassen sind. Es ist, dies ist nach Auffassung der Kammer der insoweit einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu entnehmen, insoweit aber stets auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib oder Leben des Opfers abzustellen, wobei auch stets die Gesamtumstände mit in die Bewertung einzufließen haben.

So hat das Bundessozialgericht es in einem Fall insoweit genügen lassen, dass eine erhebliche Drohung gegenüber dem Opfer mit einer unmittelbaren Gewaltanwendung gegen eine Sache einherging, die als einziges Hindernis dem unmittelbaren körperlichen Zugriff auf das Opfer durch die Täter im Wege stand, sodass der Sachverhalt nicht allein auf Drohungen beschränkt war (BSG Urteil vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 = juris). Es hat auch die Würdigung eines Sachverhalts, bei dem ein einschlägig vorbestrafter Täter mit dem Ausruf "Jetzt hab´ ich Euch, Ihr Schweine" auf offener Straße auf das Opfer zugestürzt ist, als tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht beanstandet (vgl. BSG Beschluss vom 29.9.1993 - 9 BVg 3/93 = juris). Als tätlichen Angriff hat es das Bundessozialgericht zudem angesehen, wenn der Täter das Opfer vorsätzlich mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe bedroht hat, auch wenn ein Tötungs- oder Verletzungsvorsatz noch gefehlt hat (BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 4/01 R = juris), nicht aber die bloß verbale Drohung zu schießen, wenn der Täter keine Schusswaffe bei sich führt (vgl. BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R = juris Rn. 20).

Aus diesen Einzelfallentscheidungen lässt sich nach Ansicht der Kammer herauskristallisieren, dass bei der Würdigung des Tatgeschehens grundsätzlich alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, die auf eine objektiv hohe Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität des Opfers schließen lassen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kommt nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall die Bejahung eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht in Betracht. Für die Kammer steht – allein schon unter Berücksichtigung der Schilderungen des Klägers und des Zeugen L. im Rahmen der mündlichen Verhandlung – fest, dass Herr Q. sich zum einen noch so weit weg vom Kläger befand, dass eine Gefährdung zu diesem Zeitpunkt nach objektiven Gesichtspunkten ausgeschlossen war. Der Zeuge L. hat angegeben, Herr Q. habe etwa auf der achten Sprosse der Leiter stehend die Gabel gegen den Kläger gerichtet. Der Kläger befand sich hierbei, dies steht für die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme – in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Oberlandesgerichts L. – fest, außerhalb der Reichweite der Mistgabel. Eine objektive Gefährdung für den

Kläger war zu diesem Zeitpunkt nach Auffassung der Kammer mithin noch nicht gegeben.

Soweit Herr Q. den Kläger in diesem Zusammenhang mit den Worten "Ich stech‘ Dich ab!, (Du Krüppel)" bedroht hat, darf nach Auffassung der Kammer der Gesamtkontext der Situation nicht außer Betracht gelassen werden.

Es besteht seit einigen Jahren offenbar ein nachbarlicher Streit zwischen der Familie des Klägers und der Familie Q ... Dieser – hiervon geht die Kammer nach der Vernehmung auch der Zeugin Q. aus – hat seinen zeitlichen Ursprung in der Rückkehr des Klägers in das elterliche Haus. In diesem Zusammenhang ist nach Darstellung der Zeugin Q. zum einen zu Ruhestörungen gekommen. Zum anderen habe der Kläger bzw. seine Familie in der Vergangenheit den nachbarlichen Frieden dadurch gestört, dass bauliche Veränderungen in unzumutbarer Art und Weise und ohne jede Absprache vorgenommen worden sin. So sei seinerzeit ein - nach Auffassung der Familie Q. – unzumutbarer Sichtschutz mittels Planen zwischen den Grundstücken errichtet worden, wogegen man rechtlich vorgegangen sei. Die Familie des Klägers habe daraufhin letztlich von dieser Art des Sichtschutzes Abstand nehmen müssen und habe nun einen Holzpalisadenzaun errichtet. Dass es wegen des Sichtschutzes im Jahr 2009 zu Streitigkeiten gekommen ist wird auch durch die Aussage des Zeugen L. bestätigt. Im Dezember 2015 sollte nun offenbar erneut, eine – weder mit dem Nachbarn noch mit dem zuständigen Bauamt abgesprochene – bauliche Veränderung (Anbringen der Gitter) in unmittelbarer Nähe zur Außenwand des Hauses der Familie Q. errichtet werden. Es war für den Zeugen Q. in dieser Situation auch nicht erkennbar, ob hierdurch auch das eigene Grundstück bzw. das hierauf errichtete Haus beeinträchtigt würde. Im Nachgang stellte sich überdies heraus, dass die beabsichtige Maßnahme baurechtlich nicht zulässig war.

Dass der Nachbar sich bei dieser Sachlage provoziert fühlte und er wütend wurde ist nach Auffassung der Kammer durchaus nachzuvollziehen. Die Kammer legt freilich Wert auf die Feststellung, dass die konkret hieraus resultierende Aktion, nämlich den Kläger mit einer Mistgabel in der Hand zu bedrohen, nicht im Ansatz gerechtfertigt erscheint. Allerdings sieht die Kammer vorliegend auch die für die Annahme eines tätlichen Angriffs erforderliche objektive Gefährdungslage nicht als gegeben an. Dass Herr Q. zu irgendeiner Zeit davor – oder danach – durch Gewalttätigkeiten gegen seine Nachbar aufgefallen wäre ist nicht ersichtlich. Soweit der Zeuge L. angegeben hat, Herr Q. habe 2009 erwähnt, er gehe davon aus, es sei erst Ruhe, wenn er dem Kläger "den Kopf abgerissen habe", ist dies nach Auffassung der Kammer erkennbar keine ernsthafte Drohung gewesen, zumal in der Zwischenzeit entsprechende (körperliche) Aggressionen durch den Herrn Q. weder vorgetragen noch sonst ersichtlich waren. Letztlich war dies auch seinerzeit lediglich eine Reaktion auf eine als solche empfundene Provokation durch den Kläger. Dass es hier zu einer ernsthaften Gewaltanwendung durch Herrn Q. kommen würde, war nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der Gesamtsituation nicht anzunehmen. Es ging Herrn Q. vielmehr offenbar darum, die Errichtung des Gitters zu verhindern. Hier hat er sich nicht anders zu helfen gewusst, als den Kläger insoweit zu bedrohen. Die Kammer teilt damit die auch von den seinerzeit vor Ort befindlichen Polizeibeamten zu Protokoll genommene Auffassung, wonach Herr Q. nicht den Eindruck erweckt habe, tatsächlich körperlich gegen den Kläger vorzugehen. Er sei vielmehr vor dem Hintergrund der anhaltenden Nachbarschaftsstreitigkeiten verzweifelt gewesen.

Betrachtet man diese Gesamtsituation, nämlich das Alter und den körperlichen Zustand des Herrn Q., der nach Aussage der Ehefrau herzkrank ist, zum einen, sowie das Alter und den – nach eigener Aussage, mit Ausnahme einer bestehenden Wetterfühligkeit – nicht behinderten körperlichen Zustand des Klägers zum anderen, sowie die Tatsache, dass die Mistgabel zu keinem Zeitpunkt tatsächlich in Reichweite des Klägers war und sich dieser ohne Weiteres entfernen konnte, ist nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das Vorliegen eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht hinreichend nachgewiesen.

Die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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