S 12 VG 11/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 VG 11/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der am 00.00.0000 geborene Kläger stellte bei dem Beklagten, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, am 17.05.2013 einen Antrag nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG). Hierin trug er vor, er sei in der Zeit vom 29.04.1963 bis zum Verlassen des Heimes mit 19 Jahren im Kinderheim S. in E. vollstationär untergebracht gewesen. Dort habe er schwer für das Heim auf dem Feld und in der Küche arbeiten müssen und sei durch die dortigen Heimerzieher massiv körperlichen Züchtigungen, Misshandlungen und umfangreichem sexuellen Missbrauch sowie körperlichen und psychischen Demütigungen ausgesetzt gewesen. Er leide bis zum heutigen Zeitpunkt krankheitsbedingt unter diesen Beeinträchtigung, insbesondere unter den sexuellen Missbrauch und den Misshandlungen physisch und psychisch. Bei ihm bestehe eine Schwerbeschädigung im Sinne des § 10a OEG. Dem Antrag beigefügt war eine sozialmedizinische Stellungnahme des Arztes der Agentur für Arbeit Dr. N. vom 12.11.2012, wonach der Kläger voraussichtlich auf Dauer täglich weniger als 3 Stunden arbeiten könne.

Mit Antrag vom 05.06.2013 machte der Kläger weitere Angaben zu den Zuständen im Kinderheim und zu diversen weiteren Misshandlungen körperlicher und seelischer Art. So schilderte er u.a., er habe die ersten Jahre seines Lebens in Säuglingsheimen, anschließend – ab dem dritten Jahr – in einem Kinderheim verbracht. 1957 sei er dann aus dem Heim nach Hause geholt worden. Dort sei Gewalt an der Tagesordnung gewesen. Er selbst habe gesehen wie seine Mutter vom Stiefvater "im Suff" vergewaltigt worden sei, und Prügel hätten zu seinem Leben gehört. Sein Stiefvater und seine Mutter hätten ihn verprügelt und für Stunden im Keller eingesperrt. Er könne sich noch heute erinnern, wie seine Mutter mit einer Nachttischlampe auf ihn eingeschlagen habe. Nach der Scheidung der Ehe habe seine Mutter ihre Launen und "sadistische Züge" an ihm ausgelassen. Habe er sich dabei aus Sicht der Mutter fehl verhalten, sei Prügel die Konsequenz gewesen. Jeden Sonntag seien sie zur seinem Großvater gegangen. Auch dort habe es Prügel gegeben, teilweise auch mit einem Wasserschlauch. Sein Großvater und seine Mutter hätten ihn auch stundenlang auf einem dunklen Speicher eingesperrt und ihn dort in Verkleidung ("als Hexen") geängstigt. Dieser Großvater habe ihn auch als erster sexuell missbraucht als er neun Jahre alt gewesen sei. Der Großvater habe sein Geschlechtsteil herausgeholt und den Kläger aufgefordert dieses zu reiben. Der Geruch des Geschlechtsteils verfolge ihn bis heute mit Ekel und Erbrechen. Im Jahr 1963 sei er dann in das S. in E. verbracht worden. Leiterin der Gruppe sei eine Schwester S. der Missionsschwestern vom G. G. H. gewesen. Daneben habe es bei einer Gruppe von 50 Kindern lediglich einen Erzieher gegeben. Züchtigungen und drakonische Strafen seien an der Tagesordnung gewesen. Es habe Schläge mit der Hand in das Gesicht oder mit einem Rohrstock gegeben, auch bei Nichterfüllung von Arbeiten, die die Kinder hätten verrichten müssen. Eine "beliebte Strafe" sei das Hineinhalten des Kopfes in die Toilette gewesen. Neben physischen Misshandlungen habe es auch psychische Misshandlungen gegeben. Der Kläger und sein damaliger Freund, B. E., seien beide im Alter von 11 Jahren mit verschiedenen Gegenständen geschlagen worden (Gürtel, Handfeger). Dabei habe man ihn ans Bett gefesselt. Heute sei er sich sicher, dass diese Fesseln teilweise über mehrere Tage angelegt worden seien, verbunden mit Entzug von Essen und Trinken. Die Züchtigungen seien durch die Schwester erfolgt. Die Schwester habe auch sein Geschlechtsteil in die Hand genommen und es hin und her gerieben. Sie habe auch mit einem Stock darauf geschlagen. Im Alter von zwölf Jahren habe ihm der Erzieher, nach Abschluss des Sportunterrichts, in einen Raum gedrängt und diesen abgeschlossen. Der Kläger habe Panik bekommen, sei aber mit wenigen Handgriffen geknebelt und gefesselt gewesen. Daraufhin habe der Erzieher die Hose des Klägers heruntergezogen, eine Jonglierkeule genommen und ihm dieses Teil in den After gerammt. Anschließend habe er ihn "endlos brutal vergewaltigt" und ihn "total mit seinem Samen eingesaut". Danach habe er den Sportunterricht nie wieder besucht. In der Lehre, die er ab dem 14.12.1968 in C./D. absolviert habe, sei sein Martyrium weitergegangen. Sein Lehrmeister habe jede Gelegenheit genutzt, sich an ihm zu vergehen, etwa dahingehend, dass er abends in sein Zimmer gekommen sei und der Kläger ihn habe mit der Hand befriedigen müssen. Anschließend habe er sich auf dem Bauch legen müssen. Sofern er sich gewehrt habe, sei er mit Schlägen ins Gesicht und am Körper gefügig gemacht worden. Er habe seinen Lehrmeister auch wöchentlich in einer Sauna begleiten müssen. Dort sei es noch schlimmer und ungreifbarer weitergegangen.

Die Stadt C. teilte auf Anfrage des Beklagten mit, dass Vorgänge betreffend den Kläger spätestens Mitte der achtziger Jahre vernichtet worden seien. Der Beklagte zog sodann die noch beim S. befindliche Akte bei und fragte überdies schriftlich beim ehemaligen Lehrherrn des Klägers, dem Zeugen E. nach, der erklärte, die ihn betreffenden Äußerungen des Klägers träfen nicht zu.

Der Beklagte holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten der Frau Dr. I. ein, welches diese am 26.08.2014 erstattete. Zu diesem nahm der Ärztliche Dienst des Beklagten Stellung. Dieser kam zu der Einschätzung beim Kläger sei als Schädigungsfolge eine posttraumatische Belastungsstörung anzunehmen, die einen Grad der Schädigungsfolge (GdS) von 20 bedinge. Mit Bescheid vom 01.10.2014 stellte der Beklagte auf den Antrag vom 17.05.2013 fest, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Versorgung im Rahmen einer Härtefallregelung nach § 10a des OEG nicht erfüllt seien. Hiergegen legte der Kläger am 06.10.2014 Widerspruch ein. Mit weiterem Bescheid vom 28.10.2014 lehnte der Beklagte auch den Antrag vom 05.06.2013 ab. Soweit der Kläger sexuellen und körperlichen Missbrauch im Rahmen seiner Lehre behaupte, sei der erforderliche Nachweis hierfür nicht erbracht. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 06.11.2014 ebenfalls Widerspruch ein. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte der Beklagte ein aussagepsychologisches Gutachten der Diplom-Psychologin E. ein, welches diese – aufgrund Untersuchung des Klägers am 21.05.2015, am 15.06.2015 – gegenüber dem Beklagten erstattete. Mit Widerspruchsbescheid vom 06.08.2015 wies der Beklagte die Widersprüche des Klägers gegen die Bescheide vom 01.10.2014 und vom 28.10.2014 als unbegründet zurück. Hiergegen richtet sich der Kläger mit der am 09.09.2015 erhobenen Klage. Das Gericht hat zunächst Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des behandelnden Psychiaters G. und des Allgemeinmediziners Dr. N ... Der Beklagte hat hierzu durch Frau Dr. X. sozialmedizinisch Stellung genommen. Am 06.12.2016 hat das Gericht sodann einen Termin zur Erörterung des Rechtsstreits durchgeführt, in dem die Zeugen E. und N. vernommen worden sind. Im Anschluss daran hat das Gericht ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, welches durch Frau Dr. T., nach entsprechender Begutachtung des Klägers, am 27.06.2017 gegenüber dem Gericht erstattet hat. Am 28.11.2017 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden, in dem der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, beantragt hat, den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 01.10.2014 und 28.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2015 zu verurteilen, dem Kläger Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten zu gewähren. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand des Erörterungstermins sowie des Termins zur mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen Rechten verletzt, da diese rechtmäßig sind. Der Kläger hat schon deshalb keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG), da dieser Anspruch nur unter den Voraussetzungen eines Härtefalls im Sinne des § 10a OEG in Betracht käme. Ein solcher Härtefall liegt jedenfalls nicht vor.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG).

Voraussetzung für die Annahme des Tatbestands sind damit das Vorliegen eines "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs", das Vorliegen einer Schädigung sowie das Bestehen von Schädigungsfolgen, wobei die einzelnen Elemente durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27; BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/010 R = juris Rn. 32; vgl. auch Bischofs, SGb 2010, 693 f.), wobei je nach Fallkonstellation in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben werden. Leitlinie dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung ist hierbei aber stets der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes.

Grundsätzlich bestimmt sich Vorliegen eines tätlichen Angriffs aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten und liegt im Allgemeinen vor, wenn eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung gegeben ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R = juris Rn. 25). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27; BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = juris Rn. 36).

Der Kläger macht zahlreiche Misshandlungen körperlicher und seelischer, einschließlich - aber nicht ausschließlich – sexueller, Art geltend. Die vom Kläger behaupteten Sachverhalte stellten grundsätzlich vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe dar. Dies gälte – auch unter Berücksichtigung der insoweit zwischenzeitlich geänderten rechtlichen und gesellschaftlichen Auffassung zur Zulässigkeit eines Kindern gegenüber bestehenden Züchtigungsrechts - insbesondere wohl auch für die behaupteten Züchtigungen und

Misshandlungen durch seine Mutter, den Großvater, aber auch durch die Erzieherinnen und Erzieher im Kinderheim.

Zum Zeitpunkt der vorliegend angeschuldigten Taten verblieb Eltern bei der Erziehung von Kindern nach der damaligen Rechtslage (und Gesellschaftsauffassung) zwar eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung. Sogar die Verwendung von Schlaggegenständen erfüllte nach den damaligen Maßstäben nicht zwingend das Merkmal einer verbotenen und damit ggfs. als Körperverletzung strafbaren Erziehungsmaßnahme. Zu Erziehungszwecken erlaubte Schläge von strafbaren Körperverletzungen abzugrenzen, erforderte vielmehr eine Würdigung der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigte. So urteilte der BGH im Jahr 1952, dass Eltern, die ihre 16jährige "sittlich verdorbene" Tochter durch Kurzschneiden der Haare und Festbinden an Bett und Stuhl bestraften, nicht das elterliche Züchtigungsrecht überschritten (BGH, Urteil vom 25. September 1952, 3 StR 742/51). 1957 urteilte der BGH, dass Ohrfeigen und Rohrstockschläge eines Lehrers nicht strafbar seien, wenn der Lehrer zur Züchtigung rechtlich befugt sei und sich innerhalb der Grenzen dieser Befugnis halte (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1957, 2 StR 458/56). Und noch im Jahr 1986 sah der BGH nicht per se das elterliche Züchtigungsrecht als überschritten an, als Eltern ihr Kind mit einem 1,4 cm starken und in sich stabilen Wasserschlauch auf Gesäß und Oberschenkel geschlagen hatten, wobei jeweils rote Striemen entstanden waren. Vielmehr forderte der BGH auch in diesem Fall eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens und erkannte ausdrücklich, dass allein die Verwendung eines Schlaggegenstandes noch nicht das Merkmal der "entwürdigenden Erziehungsmaßnahme" erfülle (BGH, Beschluss vom 25. November 1986, 4 StR 605/86). Bis zur Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts im November 2000 können elterliche Schläge deshalb nicht grundsätzlich als "rechtswidrig" eingestuft werden. Notwendig ist vielmehr die Abgrenzung zur maßvollen körperlichen Züchtigung und eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigen. (LSG Niedersachsen-Bremen L 10 VE 39/10 = juris Rn. 23 ff.). Auch seinerzeit galt freilich durch ein Verbot des Übermaßes, welches nach Auffassung der Kammer bei den hier vom Kläger behaupteten "Erziehungs"-Maßnahmen (etwa das Hinunterdrücken des Kopfes in die Toilette) überschritten wäre. Der behauptete Missbrauch wäre freilich auch damals unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gerechtfertigt gewesen.

Allerdings trifft den Kläger hinsichtlich des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen die objektive Beweislast. Das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, kennt hierbei hinsichtlich der entscheidungserheblichen drei Beweismaßstäbe.

Grundsätzlich bedürfen die drei Elemente des Tatbestandes (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises (vgl. BSG Beschluss vom 12.05.2016 – B 9 V 11/16 B = juris Rn. 9; Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG Rn 169 m.w.N.). Für die Kausalität selbst hingegen genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.; Kühl, in: Breitkreuz/Fichte, SGG. 2. Aufl. 2014, § 103 Rn. 4 m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R = juris Rn. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist demgegenüber dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = juris). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Schließlich ist die die Beweiserleichterung des § 6 Abs. 3 OEG in Verbindung mit § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) zu beachten.

Nach dieser Vorschrift sind Angaben eines Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, dann der Entscheidung zu Grunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen, wenn Unterlagen nicht vorhanden sind oder nicht zu beschaffen sind oder ohne Verschulden des Antragstellers verloren gegangen sind. § 15 KOV-VfG sollte zwar ursprünglich nur der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse (Luftangriffe, Vertreibung usw.) die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw. nicht mehr erlangen konnten. Die unter den Bedingungen des § 15 KOV-VfG gemachten Angaben hat die Versorgungsverwaltung zum Nachweis der Schädigung im Allgemeinen für ausreichend gehalten, also ohne dass es noch der Anhörung von Auskunftspersonen oder Zeugen bedurft hätte, was ansonsten in anderen Vorschriften zur Aufklärung des Sachverhalts im KOV-VfG vorgesehen ist (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.06.2008, L 13 VG 1/05). Mit der Verweisung in § 6 Abs. 3 OEG auf diese Vorschrift hat der Gesetzgeber des OEG aber nunmehr auch der Beweisnot derjenigen Verbrechensopfer Rechnung tragen wollen, bei denen die Tat ohne Zeugen geschehen ist und bei denen sich der Täter einer Feststellung entzogen hat, mithin andere Beweismittel außer den eigenen Angaben des Betroffenen nicht zur Verfügung stehen (vgl. dazu auch Rohr/Sträßer/Dahm, Bundesversorgungsgesetz, Bd. 3, 7. Aufl. Stand: März 2017, § 15-3 VfG-KOV). Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOV- VfG gilt dabei nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren, denn sie enthält materielles Beweisrecht (Rohr/Sträßer/Dahm, a.a.O., m.w.N.). Es ist daher anerkannt, dass diese Beweiserleichterung auch im Rahmen der gerichtlichen Klärung von Ansprüchen nach dem OEG den Antragstellern zugutekommt (vgl. Landessozialgericht, a.a.O.; Bundessozialgericht, Urteil vom 22.06.1988, 9/9 a RVg 3/87; Urteil vom 31.05.1989, 9 RVg 3/8).

Der in § 15 Satz 1 KOVVfG enthaltene Maßstab des "Glaubhafterscheinens" stellt den mildesten Beweismaßstab dar und bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = juris). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 S 1 SGG; vgl. BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = juris).

Das Gericht darf eine Entscheidung nach § 15 KOVVfG aber nur dann auf die glaubhaften Angaben des Antragstellers im obigen Sinne stützen, wenn alle anderen Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären erschöpft sind oder für eine Entscheidung nicht ausreichen. Die Beweiserleichterung kommt erst dann zum Zug, wenn andere Beweismittel objektiv nicht vorhanden sind und der Betroffene diesen Beweisnotstand nicht verschuldet hat. Das Vorliegen eines solchen Beweisnotstandes und das Fehlen von Verschulden muss im Vollbeweis feststehen (Rohr/Sträßer/Dahm, Bundesversorgungsgesetz, 7. Aufl., Stand: März 2017, Bd. 3 § 15-2 VfG-KOV; Bayerisches LSG Urteil vom 17.08.2011 – L 15 VG 21/10 = juris Rn. 39).

In diesem Zusammenhang ist vorliegend freilich zu bedenken, dass bestehende Zeugen, insbesondere die angeblichen Täterinnen und Täter, bereits verstorben sind bzw. aufgrund der lange zurückliegenden Zeit nicht mehr zu befragen sind. Dies wäre zu vermeiden gewesen, wäre der Antrag nach dem OEG nicht erst 2013 und damit mehr als 40 Jahre nach den behaupteten Geschehen gestellt worden. Hier stellt sich schon die Frage, ob eine beim Kläger bestehende Beweisnot nicht nach dem Grundsatz der objektiven Feststellungslast zu Lasten des Klägers geht.

Hierauf kommt es im Ergebnis letztlich aber nicht an.

Der Beklagte hatte – im Rahmen der im ebenfalls obliegenden Pflicht zur Amtsermittlung – im Widerspruchsverfahren ein aussagepsychologisches Gutachten der Diplom-Psychologin E. eingeholt. In diesem wurde festgestellt, dass bei dem Kläger von einer intakten allgemeinen sowie einer speziellen, d.h. tatzeitbezogenen, Aussagetüchtigkeit auszugehen ist. Bei der Frage nach der Aussagezuverlässigkeit, d.h. der Frage nach internen oder externen Störfaktoren, die geeignet sind, die Validität der Bekundungen herabzusetzen oder aufzuheben, verweist die Gutachterin auf das Vorliegen dissozialer Verhaltensweisen. Daneben stellt sie indes auch prosoziale Verhaltensweisen, insbesondere im Hinblick auf die Fürsorge betreffend seine Söhne, dar. Die Gutachterin führt überdies aus, der Kläger sei geprägt von Einsamkeit, Tendenz zum sozialen Rückzug, Urmisstrauen vor dem Hintergrund des Fehlens stabiler Bindungserfahrungen, eine externe Kontrollüberzeugung und eine negative Erwartungshaltung bei Bestehen leicht depressiver Züge und einer gewissen emotionalen Instabilität, ohne dass sich das Vollbild einer Persönlichkeitsstörung etwa emotional instabiler Art oder das Vollbild einer schweren Depression abzeichnen würde. Als Ursache hierfür sei ein ganzes Bündel ungünstiger und entwicklungsschädigender Einflussnahmen und Mangelsituationen anzunehmen.

Die Gutachterin kommt, nach Auswertung der Aussagen des Klägers, zu der Einschätzung, dass diese im Hinblick auf sexuell missbräuchliche Handlungen durch die verschiedenen genannten Personen ein hohes Maß an Variabilität und Widersprüchlichkeit aufweisen. Es finden sich bestimmte einzelne erlebnisorientiert anmutende Fragmente (insbesondere im Hinblick auf die der Schwester S. zugeordneten manuellen und verbalen Handlungen in der Kleiderkammer) wobei diesen dann deutliche Schwächen in der Aussagequalität, zum Teil im Hinblick auf die Realistik und Wirklichkeitsnähe und zum Teil im Hinblick auf die Konstanz und Widerspruchsfreiheit gegenüberstehen. Es scheint danach möglich, dass der Kläger sexuell missbräuchlichen Handlungen über die benannten Körperverletzungen und Züchtigungen hinaus im Kinderheim ausgesetzt war. Es ist aber – aufgrund verschiedener Faktoren, wie das Bestehen der benannten dissozialen Persönlichkeitszüge, der nur eingeschränkt möglichen Konstanzuntersuchung, möglichen externen potentiellen Fehlerquellen, insbesondere aber vor dem Hintergrund der Aussagequalität und der hohen Aussagevariabilität im Hinblick auf die den verschiedenen Personen angelasteten missbräuchlichen Handlungen – mit aussagepsychologischen Gründen nicht möglich, ausreichend zu begründen dass eine Wahrscheinlichkeit in dem Sinne, dass ernste Zweifel hinsichtlich anderer Möglichkeiten ausscheiden, besteht. Es besteht freilich aus aussagepsychologischer Sicht die Möglichkeit, dass es zu sexuellen Misshandlungen gekommen ist, wobei auch in diesem Fall zu berücksichtigen ist, dass es durch den Kläger zu Übertreibungen und unzutreffenden Mehrbelastungen gekommen ist, die die Zuverlässigkeit bzw. die Validität der Aussage beschädigt erscheinen lassen. Bezogen auf die verschiedensten Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs in dieser Zeit lässt sich ein gewisses Übergewicht dieser Möglichkeit aussagepsychologisch gerade nicht feststellen. Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer das Vorliegen selbst des Maßstabs der Glaubhaftmachung hinsichtlich der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG als nicht gegeben an.

Bezogen auf den vom Kläger behaupteten sexuellen Missbrauch durch seinen Lehrherrn, den Zeugen E., steht für die Kammer vor dem Hintergrund dessen Aussage im Erörterungstermin vom 06.12.2016 zur Überzeugung fest, dass dieser nicht stattgefunden hat. Der Zeuge E. hat freimütig eingeräumt, dass es durchaus ein könne, dass er den Kläger in seiner Zeit als Lehrling auch körperlich gezüchtigt habe (bspw. durch Ohrfeigen). Dies habe dann wohl auch mit dem "losen Mundwerk" zu tun gehabt, das der Kläger gehabt habe. Ihm selbst habe das aber in der Regel leidgetan, weil er selbst unter der Prügel seines Vaters gelitten habe. Die vom Kläger behaupteten sexuellen Übergriffe hat er demgegenüber – für die Kammer glaubhaft – als unwahr bezeichnet. Er habe aus seiner Sicht im Übrigen auch viel später, zunächst ein gutes Verhältnis zum Kläger, gehabt. Dieser sei jahrelang mit seinen beiden Söhnen zu ihm in die Bäckerei gekommen.

Die glaubhafte Aussage des im Übrigen auch glaubwürdigen Zeugen E. in Verbindung mit Feststellungen im aussagepsychologischen Gutachten lässt es für die Kammer feststehen, dass es den vom Kläger geschilderten sexuellen Missbrauch durch den Zeugen E. nicht gegeben hat. Daneben steht fest, dass es zu körperlichen Züchtigungen des Klägers durch seinen Lehrherrn gekommen ist, welche indes nach Auffassung der Kammer durch das seinerzeit gewohnheitsrechtlich anerkannte Züchtigungsrecht gedeckt gewesen sind (dazu bereits oben).

Eine Verdichtung der Anhaltspunkte für das Vorliegen sexueller Übergriffe während der Zeit im S. konnte auch nicht durch die Vernehmung des Zeugen N. gewonnen werden. Dieser hat zwar erklärt, es gebe zahlreiche Berichte betreffend körperliche und seelische Gewalt im Zusammenhang mit dem S. und den dortigen Zuständen in den 1960er Jahren und er gehe auch davon aus, dass es zu entsprechender körperlicher und seelischer Gewalt gekommen sei. Konkrete Angaben, insbesondere zu sexuellem Missbrauch oder zu anderen konkreten Fällen konnte der Zeuge aus eigener Anschauung indes nicht machen. Für gut möglich erachtet die Kammer – unter Berücksichtigung der durchgeführten Ermittlungen – allerdings die vom Kläger behauptete grundsätzlich ihm gegenüber erfolgte körperliche und auch seelischer Gewalt durch Verwandte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des S., im Sinne von Schlägen, Demütigungen und sonstigen "Bestrafungen", wobei die Kammer es – auch vor dem Hintergrund der Darstellungen des Zeugen N. – als durchaus nachvollziehbar annimmt, dass seinerzeit auch die Grenzen des grundsätzlich bestehenden Züchtigungsrechts in dem einen oder anderen Fall überschritten wurden. Soweit der Kläger darüber hinaus eine psychische Kälte und emotionale Zurücksetzung in der Familie und dem Kinderheim beklagt, handelt es sich hierbei nicht um "Gewalttaten" im Sinne des § 1 OEG.

Selbst wenn man indes auch alle Vorwürfe, die der Kläger erhebt, als wahr unterstellt, käme vorliegend ein Anspruch auf Leistungen nach dem OEG nicht in Betracht.

Nach § 10 OEG gilt das OEG für Ansprüche aus Taten, die nach seinem Inkrafttreten begangen worden sind. Darüber hinaus gelten die §§ 1 bis 7 für Ansprüche aus Taten, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 begangen worden sind, nach Maßgabe der §§ 10 a und 10 b OEG. Personen, die in der Zeit vom 23.05.1949 bis 15.05.1976 geschädigt worden sind, erhalten nach der Härteregelung des § 10 a OEG auf Antrag nur dann Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. § 10 a OEG ist im vorliegenden Fall anwendbar, denn die vom Kläger behaupteten Taten sollen allesamt vor dem 15.05.1976 stattgefunden haben.

Beim Kläger wäre jedenfalls keine Schwerbeschädigung, im Sinne des § 31 Abs. 2 BVG, mithin ein GdS von mindestens 50 gegeben.

Dies steht für die Kammer aufgrund des Gutachtens der Frau Dr. T. fest. Die Gutachterin geht vom Vorliegen einer kombinierten Persönlichkeitsstörung und dem Bestehen einer Migräne aus. Diese und die hieraus ergebenden Beeinträchtigungen wären – selbst wenn man vom Vorliegen des geltend gemachten körperlichen und seelischen Missbrauchs ausginge – keinesfalls monokausal auf diesen zurückzuführen.

Insoweit bestätigt das Gutachten der Frau Dr. T. letztlich auch die insoweit im Aussagepsychologischen Gutachten getätigten Aussagen. Die Tatsache, dass der Kläger zuletzt ein einen Befund- und Behandlungsbericht des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. E. vorgelegt hat, worin dieser eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, ist nicht geeignet, die Feststellungen der Gutachterin zu erschüttern. Auch die Gutachterin hatte diese Diagnose gutachterlich erwogen, sie aber im Ergebnis – nach Auffassung der Kammer nachvollziehbar - verworfen, wobei die Abgrenzungen zwischen den hier in Rede stehenden Diagnosen schwer zu fassen sind.

Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entsteht nach dem medizinischen Diagnoseklassifikationssystem "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision (ICD-10) - German Modification Version 2016" ( Diagnoseschlüssel F43.1) "als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z.B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über."

Etwas differenzierter erscheint die Beschreibung in der vierten Auflage des "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM IV). Dieses beschreibt die Voraussetzungen für eine PTBS wie folgt: ""A. The person has been exposed to a traumatic event in which both of the following were present: (1) the person experienced, witnessed, or was confronted with an event or events that involved actual or threatened death or serious injury, or a threat to the physical integrity of self or others (2) the person s response involved intense fear, helplessness, or horror. ( ) B. The traumatic event is persistently re-experienced in one (or more) of the following ways: (1) recurrent and intrusive distressing recollections of the event, including images, thoughts, or perceptions. ( ) (2) recurrent distressing dreams of the event. ( ) (3) acting or feeling as if the traumatic event were recurring (includes a sense of reliving the experience, illusions, hallucinations and dissociative flashback episodes, including those that occur on awakening or when intoxicated) ( ) (4) intense psychological distress at exposure to internal or external cues that symbolize or resemble an aspect of the traumatic event (5) physiological reactivity on exposure to internal or external cues that symbolize or resemble an aspect of the traumatic event C. Persistent avoidance of stimuli associated with the trauma and numbing of general responsiveness (not present before the trauma), as indicated by three (or more) of the following: (1) efforts to avoid thoughts, feelings, or conversations associated with the trauma (2) efforts to avoid activities, places, or people that arouse recollections of the trauma (3) inability to recall an important aspect of the trauma (4) markedly diminished interest or participation in significant activities (5) feeling of detachment or estrangement from others (6) restricted range of affect (e.g., unable to have loving feelings) (7) sense of a foreshortened future (e.g., does not expect to have a career, marriage, children, or a normal life span) D. Persistent symptoms of increased arousal (not present before the trauma), as indicated by two (or more) of the following: (1) difficulty falling or staying asleep (2) irritability or outbursts of anger (3) difficulty concentrating (4) hypervigilance (5) exaggerated startle response E. Duration of the disturbance (symptoms in Criteria B, C, and D) is more than 1 month. F. The disturbance causes clinically significant distress or impairment in social, occupational, or other important areas of functioning."

Hiernach sind mithin verschiedene Kriterien zu unterscheiden. Das Kriterium A1 setzt das direkte persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat oder die Beobachtung eines Ereignisses, das mit dem Tod, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person zu tun hat oder das Miterleben eines unerwarteten oder gewaltsamen Todes, schweren Leids, oder Androhung des Todes oder einer Verletzung eines Familienmitglieds oder einer nahestehenden Person (Kriterium A1) voraus. Hierauf muss die Person mit intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagieren (Kriterium A2). Darüber hinaus muss ein traumatisches Wiedererleben durch Intrusionen, Träume oder Flashbacks erfolgen (sog. Kriterium B). Außerdem kommt es bei den Betroffenen zu Vermeidungsreaktionen (Kriterium C), die sich in Erinnerungsverlusten, verminderter Teilnahme bzw. Interesse an wichtigen Aktivitäten oder ähnlichem äußern können, sowie zu einer Übererregbarkeit (Kriterium D) in Form von Ein- und Durchschlafproblemen, Konzentrationsstörungen, erhöhter Reizbarkeit oder ähnlichem äußern können.

Mittlerweile liegt die 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) vor, von dem seit 2015 auch eine autorisierte deutsche Übersetzung existiert (siehe Falkai/Wittchen (Hrsg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, 2015). Kennzeichnend für das Diagnoseklassifikationssystem DSM-5 ist u.a., dass auf das sog. A2-Kriterium und die dort genannte Qualität der Reaktion auf das Ereignis verzichtet wird (Hessisches LSG, Urteil vom 25.08.2015 - L 3 U 239/10 = juris Rn. 43 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.10.2014 - L 17 U 709/11 = juris, Rn. 34; vgl. auch Dreßing, Hessisches Ärzteblatt 2016, 271 ff., abrufbar unter https://www.laekh.de/images/ Hessisches Aerzteblatt/2016/05 2016/CME Fortbildung PTBS 05 2016.pdf), sowie, dass zwischen negativen Veränderungen der Kognitionen und der Stimmung mit Beginn der Verschlechterung nach dem Trauma (Kriterium D) und deutlichen Veränderungen im Arousal und in der Reaktion im Hinblick auf das Trauma (Kriterium E) unterschieden wird (siehe die Übersicht bei Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 564.). Hinsichtlich der Validität des DSM-5 werden in der Rechtsprechung und Literatur Bedenken erhoben (vgl. dazu etwa LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2015 - L 6 VS 4569/14 = juris, unter Hinweis auf National Institute of Mental Health, DSM-5 and RDoC: Shared Interests - "The diagnostic categories represented in the DSM-IV and the International Classification of Diseases-10 (ICD-10, containing virtually identical disorder codes remain the contemporary consensus standard for how mental disorders are diagnosed and treated." [Die diagnostischen Kategorien in DSM-IV und ICD-10 bleiben weiter der maßgebliche Code zur Einordnung psychischer Erkrankungen]), M. 13, 2013, und A. F., Normal, Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, 2013, siehe hierzu auch Stevens/Fabra MedSach 2015, 162 ff.). Die Kammer teilt im Ergebnis diese Bedenken, und verweist im Übrigen darauf, dass beim Kläger zum einen erhebliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass wesentliche von ihm geltend gemachte Taten sich nicht hinreichend objektivieren ließen, so dass das – für den behandelnden Psychiater aus therapeutischer Sicht nachvollziehbare – offenbar weitgehende "Als-wahr-Unterstellen" der Aussagen des Klägers für die Kammer nicht in Betracht kommt. Insoweit bestehen auch Bedenken hinsichtlich des anderen Behandlers T. Darüber hinaus weist die Gutachterin Dr. T. darauf hin, dass eindeutige Brückensymptome für die Jahre bis 2012 nicht nachgewiesen sind. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Versorgungsmedizinischen Grundsätze auf die aus den zugrundeliegenden Erkrankungen folgenden Beeinträchtigungen abstellt. Dies ist im vorliegenden Fall, unabhängig von der konkret benannten Diagnose Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze.

Nach den Feststellungen der Gutachterin Dr. T. unter Berücksichtigung auch der im Übrigen eingeholten Arzt- und Befundberichte findet sich beim Kläger durchaus eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Hierbei ist insgesamt das beim Kläger bestehende sonstige Aktivitätsniveau ebenfalls in Ansatz zu bringen. Es sind dies insbesondere etwa die Aspekte der Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, des häuslichen Lebens, der interpersonellen Interaktion und der Beziehungen und des sonstigen gemeinschaftlichen und sozialen Lebens. Zwar ist der Kläger nach den Feststellungen der Bundesagentur für Arbeit nicht mehr in der Lage einer Erwerbstätigkeit für mehr als drei Stunden täglich nachzugehen. Auf der anderen Seite ist er weiterhin in der Lage sich um sich und seinen mit ihn in einer Wohnung lebenden Sohn zu kümmern, wobei er hier angibt auch durch die Angst getrieben zu sein, den Sohn zu verlieren. Er macht nach eigenen Angaben den Haushalt, er kocht, wäscht, bügelt, putzt. Auch die Kommunikationsfähigkeit des Klägers mit seiner Umwelt ist nach Auffassung der Kammer nach den Feststellungen der verschiedenen Gutachten durchaus noch erhalten. Er interessiert sich nach eigenen Angaben für verschiedenste Gebiete, insbesondere auch Politik. Hier ist nach Auffassung der Kammer mit der Gutachterin von – rein final betrachteten – Funktionseinschränkungen auszugehen, die gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen mit einem GdB von 40 zu bewerten wären. Hierbei handelt es sich – wie dargelegt – um eine rein finale Betrachtungsweise, ohne dass hier eine Kausalität mit entsprechenden Gewalttaten geprüft worden wäre. Daneben besteht beim Kläger als Gesundheitsbeeinträchtigung eine Migräne, die gemäß Teil B Ziffer 2.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen mit einem GdB von 20 final zu bewerten wäre. Die daneben bestehenden Beeinträchtigungen der Wirbelsäule bedingten einen GdB von 10. Hieraus wäre – wie von der Gutachterin zutreffend vorgenommen – ein Gesamtgrad der Behinderung von 40 zu bilden, da wesentliche Überschneidungen zwischen den Funktionsbeeinträchtigungen bestehen, die letztlich nicht doppelt bewertet werden dürften. Schon die rein finale Betrachtung ergibt damit keinen GdB von 50.

Ein Anspruch des Klägers nach dem OEG würde aber einen nach kausalen Erwägungen zu bestimmenden Grad der Schädigungsfolge von mindestens 50 voraussetzen. Hierbei kann das Gericht als hinreichend objektiviert nur einzelne – übermäßige – Züchtigungen durch die Erzieherinnen und Schwestern im S. sowie im Elternhaus (Mutter, Stiefvater, Großvater) zugrunde legen. Diese können dann, dies steht zur Überzeugung der Kammer nach den Feststellungen der Gutachterin Dr. T. fest, in einem gewissen Teil ätiologische Relevanz haben, sind aber keinesfalls geeignet, dass beim Kläger derzeit bestehende Bild der vorhandenen Beeinträchtigung kausal hervorgerufen zu haben. Hier ist vor allem auf den bestehenden erheblichen erblichen genetischen Faktor zu verweisen. Dieser hat – dies steht für die Kammer aufgrund der insgesamt eingeholten Gutachten und vorhandenen Arztberichte fest – den wesentlichen Anteil an dem beim Kläger vorliegenden Störungsbild.

Hinreichend nachgewiesene vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriffe, durch die kausal einen GdS von 50 beim Kläger begründet würde, liegen nach Auffassung der Kammer nicht vor. Die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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