S 40 SB 554/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
40
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 SB 554/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 30/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Der 1954 geborenen Klägerin war durch Bescheid vom 13. Juni 1991 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 zuerkannt worden. Im Dezember 2002 stellte die Klägerin einen Antrag auf Neufeststellung, mit dem sie u. a. auf eine Gehbehinderung und eine multiple Chemikalienunverträglichkeit hinwies; sie brachte Atteste des Facharztes für Pharmakologie und Toxikologie Prof. Dr. L und des Arztes für Neurologie B bei, wonach sie unter verschiedenen Allergien und Überempfindlichkeiten gegenüber einer Vielzahl besonders geruchsintensiver Chemikalien sowie physikalischer Reize und an einer Trigeminusneuropathie leide. Der Beklagte holte ärztliche Befundberichte und sodann Gutachten durch des Arztes für Chirurgie Dr. B vom 03. September 2003, der Fachärztin für Innere Medizin R vom 15. September 2003 sowie von der Ärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. M vom 18. September 2003 ein. Durch Bescheid vom 06. Oktober 2003 teilte der Beklagte daraufhin mit, dass der GdB 80 betrage, wobei er die Behinderungen wie folgt bezeichnete (die verwaltungsintern festgelegten Einzel-GdB ergeben sich aus den Zusätzen in Klammern):

a) Neurotische Entwicklung mit somatoformem Erscheinungsbild (70) b) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und der großen Gelenke, schmerzhaftes Bewegungsausmaß, Fehlhaltung der Wirbelsäule (20) c) Allergisches Asthma bronchiale (20) d) Relative Harninkontinenz (20) e) Trigeminusneuralgie (20).

Es lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens " RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und Vergünstigung bei den Telefongebühren), nicht jedoch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" vor. Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte der Beklagte erneut ärztliche Befundberichte ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2004 bezeichnete er die Funktionsbeeinträchtigung zu a) nunmehr als "somatoforme Störung" und ergänzte c) um "Neigung zu multiplen allergischen Reaktionen". Abgelehnt wurde ferner die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung). Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück.

Die hiergegen erhobene Klage, die auch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" gerichtet war, hat das Sozialgericht Berlin durch Urteil vom 10. Januar 2005 abgewiesen. Nr. 30 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2004 (AHP 2004) setzten für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge behinderungsbedingter Einschränkungen des Gehvermögens voraus, wobei auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen müssten, die für sich einen GdB von wenigstens 50 oder aber einen GdB von unter 50 bedingten, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders nachteilig auswirkten, wie z. B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusserkrankungen mit einem GdB von mindestens 40. Dieses Regelbeispiel auf orthopädisch-chirurgischem Gebiet sei in der Person der Klägerin nicht erfüllt, da an den unteren Extremitäten und in der Lendenwirbelsäule lediglich Behinderungen vorlägen, die einen GdB von 20 bedingten. Aus internistisch pulmologischer Sicht lägen die Voraussetzungen nicht vor, weil diesbezüglich dauerhafte Funktionseinschränkungen wenigstens mittleren Grades gefordert seien, während bei der Klägerin lediglich eine leichtgradige Lungenfunktionseinschränkung vorliege. Ob es sich bei den allergieartigen Anfällen der Klägerin um eine organische Erkrankung oder um ein durch eine neurotische Fehlentwicklung hervorgerufenes Geschehen handele, müsse nicht geklärt werden, da es nicht auf die Ursache der Behinderung, sondern auf die Intensität der verursachten Funktionsbeeinträchtigungen ankomme. Die von der Klägerin geschilderten Symptome seien in ihrer mobilitätsbehindernden Wirkung nicht mit den in Nr. 30 AHP 2004 genannten hirnorganischen Anfällen ab einer mittleren Anfallshäufigkeit vergleichbar.

Gegen dieses ihr am 25. Februar 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. März 2005 eingegangene Berufung, mit der lediglich noch die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "G" begehrt wird. Die Klägerin trägt zur Begründung vor, dass die bei ihr bestehenden Beeinträchtigungen sowohl für sich genommen als auch in Kombination geeignet seien, ihre körperliche Funktionsfähigkeit gravierend zu beeinträchtigen. Jeglicher Kontakt mit Verbrennungsgasen, Lösemitteln, Ausdünstungen von Lacken und Kunststoffen, Duftstoffen, Stäuben etc. führe zu Kopf-, Muskel- und Nervenschmerzen sowie zu Schwindel, Übelkeit und Lähmungserscheinungen. Dies bedeute, dass sie auch bei geringen chemischen Einflüssen außerstande sei, Strecken zu Fuß zurückzulegen. Sie müsse unter Zuhilfenahme von Sauerstoff zunächst den Anfall und die damit einhergehenden Symptome bekämpfen. Die Klägerin verweist ferner auf eine Bescheinigung der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. S (ohne Datum), wonach sie wegen des bei ihr bestehenden "MCS-Syndroms" (Multiple chemical sensitivity) auf eine Expositionsvermeidung aus gesundheitlichen Gründen dringend angewiesen sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2005 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 06. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2004 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verweist auf die Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung und auf versorgungsärztliche Stellungnahmen der Dr. MS vom 23. Mai 2005 sowie des Facharztes für Neurologie/Psychiatrie Dr. D vom 25. Mai 2005, wonach eine erhebliche psychogene Gangstörung nicht vorliege und auch aus dem undatierten Attest nicht ableitbar sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung nach den §§ 145, 146 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungs¬fähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ist es allerdings nicht ausreichend, dass die Klägerin eine Wegstrecke von 2000 Metern nicht in einem bestimmten Zeitraum zurückzulegen vermag oder dass sie sich nur unter den von ihr beschriebenen Schwierigkeiten auf Straßen und Wegen zu bewegen vermag. Denn die Anhaltspunkte geben als antizipierte Sachverständigengutachten auch an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die Anhaltspunkte dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu den neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die AHP beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" liegen danach nicht vor. Zunächst einmal besteht bei der Klägerin keine Einschränkung des Gehvermögens im Sinne der AHP 2004. Gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wird insoweit auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen, denen gefolgt wird. Die Klägerin leidet nicht an einer Einschränkung ihres Gehvermögens aufgrund einer Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule (LWS), die für sich einen GdB von wenigstens 50 bzw. von wenigstens 40 in Verbindung mit weiteren, sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkenden Behinderungen bedingen. Auf orthopädischem Gebiet bestehen bei der Klägerin vielmehr lediglich einen Einzel-GdB von 20 bedingende Einschränkungen. Es ist auch nicht nachvollziehbar, inwiefern die bei der Klägerin festgestellte Überempfindlichkeit gegenüber Chemikalien bzw. ihre Neigung zu allergischen Reaktionen eine "Einschränkung des Gehvermögens" bedingen, auf die es auch bei inneren Leiden nach den ausdrücklichen Vorgaben der Anhaltspunkte (Nr. 30 Abs. 3, 2. Absatz Satz 1 AHP 2004) maßgeblich ankommt. Beeinträchtigt ist die Klägerin vielmehr in ihrem Vermögen, sich überhaupt irgendwo außerhalb eines von ihr selbst kontrollierten und von jeglichen Einflüssen bereits längere Zeit zuvor freigehaltenen Raumes aufzuhalten, was zur Zuerkennung des Merkzeichens "RF" geführt hat. Die im Verwaltungsverfahren z. B. im Zusammenhang mit bevorstehenden Begutachtungen im Hinblick auf die Anforderungen an die Raumluft durch die Klägerin gesandten Schreiben lassen erkennen, dass die Beeinträchtigungen auch in geschlossenen Räumen und bei Ruhe bestehen. Letztlich kann dies dahinstehen bleiben. Denn das Sozialgericht hat zu Recht ausgeführt, dass Atembehinderungen, zu denen die Chemikalienunverträglichkeit und die Allergien der Klägerin führen, eine Einschränkung "wenigstens mittleren Grades" im Sinne der Nr. 26.8 AHP 2004 (S. 68) bedingen müssen, um als Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Sinne des Merkzeichens "G" angesehen werden zu können. Eine Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades, die mit einem GdB von 50 bis 70 zu bewerten ist, liegt danach vor bei einer dauernden Einschränkung der Lungenfunktion mit das gewöhnliche Maß übersteigender Atemnot bereits bei alltäglicher leichter Belastung; statischen und dynamischen Messwerten der Lungenfunktionsprüfung bis zu 2/3 niedriger als die Sollwerte, respiratorischer Lungeninsuffizienz. Einen derartigen Schweregrad hat die bei der Klägerin verwaltungsintern mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Asthmaerkrankung mit Neigung zu multiplen allergischen Reaktionen jedoch nicht. Die Gutachterin Roost, deren Feststellungen sich das Gericht anschließt, hatte hierzu ausgeführt, dass sich die lungenspezifischen Untersuchungsergebnisse im Zeitpunkt der Untersuchung im Normbereich befunden hätten; lediglich die Spirometrie hätte das Ergebnis einer leichten restriktiven Lungenfunktionsstörung ergeben.

Abgesehen von den Beeinträchtigungen des Gehvermögens und – bei der Klägerin ebenfalls nicht vorliegenden - hirnorganischen Anfällen führen nach Nr. 30 Abs. 5 AHP 2004 nur Störungen der Orientierungsfähigkeit zur Zuerkennung des Merkzeichens "G". Die Aufzählung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die zur Zuerkennung des Merkzeichens "G" führen, ist – im Hinblick auf die Einschränkungen, die den Beeinträchtigungen des Gehvermögens gegenübergestellt werden - abschließend. Der Gesetzgeber hat insoweit ausdrücklich vorgesehen, dass diese Behinderungen zur Störung der Orientierungsfähigkeit geführt haben müssen, soweit es sich nicht um Anfallsleiden handelt (BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994, AZ.: 9 BVS 45/93 unter Bezugnahme auf die amtliche Begründung zu § 58 des Regierungsentwurfs in BT – Drucksache 8/2453 Seite 9 f). Eine Störung der Orientierungsfähigkeit liegt jedoch nicht vor, da bei der Klägerin keine der abschließend aufgezählten Beeinträchtigungen (Störungen der Orientierungsfähigkeit bei Sehbehinderungen, Hörbehinderungen oder geistige Behinderung) vorliegt.

Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved