S 37 AS 8103/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 8103/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 12.6.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.8.2006 verurteilt, den Klägern für die Monate Juli und August 2006 ungekürzte Leistungen zu gewähren. Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Kürzung des Regelsatzes wegen der Beköstigung in einer Mutter-Kind-Kur.

Die Klägerin zu 1) und ihr 1999 geb. Sohn (Kläger zu 2)) beziehen laufend Alg II/Sozialgeld. Zu Beginn des Bewilligungsabschnitts Juli bis Dezember 2006 hatte die Klägerin dem Beklagten mitgeteilt, dass sie und ihr Sohn sich in der Zeit vom 19.7. bis zum 9.8.2006 in einer Mutter-Kind-Kur befinden werden.

Mit der Begründung einer Bedarfsdeckung mittels der in der Kur gewährten Verpflegung bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 12.6.2006 für Juli und August teilweise um den Regelsatzanteil für Verpflegung gekürzte Leistungen.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.8.2006 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 8.9.2006 beim Sozialgericht Berlin erhobene Klage auf ungekürzte Leistungen. Die Klägerin macht geltend, zur Durchführung der Mutter-Kind-Kur habe sie Aufwendungen gehabt, die den Ersparnisvorteil der Verpflegung nur unzureichend ausglichen. Außerdem fehle im SGB II eine Ermächtigung zur Veränderung des Regelsatzes. Dies hätten inzwischen zahlreiche Sozialgerichte festgestellt.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12.6.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.8.2006 zu verurteilten, für die Monate Juli und August 2006 ungekürzte Leistungen zu gewähren

Der Beklagtenvertreter beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Ergänzend wird zum übrigen Sach- und Streitstand auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogene Leistungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet. Zu Recht machen die Kläger geltend, ihnen müsse ungeachtet der Mutter-Kind-Kur der ungekürzte Regelsatz zustehen.

Eine Kürzung des Regelsatzes wegen der mit der Kur verbundenen Beköstigung ist unzulässig. Im SGB II sind die Regelsätze als strikte Pauschalen ausgestaltet; dies wird Anträgen auf Sonderbedarf außerhalb des Katalogs des § 23 Abs. 3 SGB II auch stets entgegengehalten, so auch den Klägern bzgl. des Antrags auf Übernahme der Fahrkosten zum Kurort.

Mit einer Ergänzung von § 3 SGB II im Fortentwicklungsgesetz hat der Gesetzgeber bestimmt, dass eine "abweichende Festlegung der Bedarfe" ausgeschlossen ist. Dem entspricht eine Ergänzung in § 23 SGB II, dass außer den dort genannten Leistungen "weitergehende Leistungen ausgeschlossen" sind.

Daraus folgt zwingend, dass keine Leistungskürzungen in Form einer pauschal um den für Nahrungsmittel angesetzten Bedarfsanteil im Regelsatz vorgenommen werden dürfen. Denn dies wäre eine abweichende Festlegung des Bedarfs analog § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, der in § 3 SGB II ausdrücklich ausgeschlossen wird.

Im Übrigen handelt es sich bei der Verpflegung in der Einrichtung nicht um eine Vollverpflegung, die z.B. auch Genussmittel einbezieht. Es müsste also ein kaum bestimmbarer Bruchteil aus dem Regelsatzanteil herausgerechnet werden (vgl. dazu SG Berlin vom 24.4.2007 – S 93 AS 9826/06). Schließlich wäre dann auch noch zu ermitteln, wie viel Kochenergie gespart wurde (vgl. dazu LSG BBRG vom 28.9.2006 – L 23 SO 1094/05).

Hieran wird deutlich, dass die Vorgehensweise des Beklagten auch nicht mit dem Argument ersparter Aufwendungen begründet werden kann. Dies wurde und wird vom Beklagten gar nicht ermittelt. Die Kürzung ist mithin nichts anderes als die von § 3 SGB II ausgeschlossene Festlegung eines abweichenden Bedarfs!

Als Argument für eine – wie auch immer zu quantifizierende - Leistungskürzung bliebe somit nur die Möglichkeit, die während der Kur zur Verfügung gestellte Beköstigung als Einkommen zu werten und nach § 11 SGB II anzurechnen. Das wirft aber eine Reihe sehr schwieriger Fragen auf: Wie ist der Wert der Beköstigung zu ermitteln? Was und wie viel hat der Patient an Nahrung tatsächlich konsumiert (fiktives Einkommen darf nicht angerechnet werden). Ist die Dienstleistung des Kochens und Servierens mit einzubeziehen? Sind Aufwendungen in Zusammenhang mit dem Kurantritt (Kostenbeteiligung, Reisekosten, Kleidung etc.) als Abzüge vom Einkommen gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 5 SGB II zu berücksichtigen?

Abzuziehen wäre zumindest die 30 EUR-Versicherungspauschale und etwaige Pflichtversicherungen.

Bei einer Bedarfsgemeinschaft mit weiteren, nicht anderweitig verpflegten Personen wäre das "Essenseinkommen" anteilig nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II anzurechnen.

Aus all dem wird deutlich, dass eine Kürzung des Regelsatzes um den Wert einer Kur- oder Krankenhausverpflegung nur um den Preis erheblicher Ungenauigkeiten trotz immensen Ermittlungsaufwands mit dem starren Bedarfsdeckungsschema des SGB II zu vereinbaren wäre.

Auch dann ließe sich aber eine Vielzahl ungerechter oder absurder Ergebnisse nicht vermeiden. So wäre beispielsweise bei einer auf die Dauer eines Monats begrenzten Kur- oder Krankenhausbehandlung zu prüfen, ob der Wert der Verpflegung im Bagatellebereich des § 1 Abs. 1 Nr. 1 der Alg II-VO (= 50 EUR) liegt. Ferner wäre zur Vermeidung einer willkürlichen Schlechterstellung Krankenhausbehandelter oder Kurteilnehmer bei jedem SGB II-Bezieher zu ermitteln, ob bei einem Verwandtenbesuch oder einer Esseneinladung Einkommen in Form kostenfreier Verpflegung mit einem Wert von über 50 EUR erzielt wurde.

SGB II-Berechtigte mit einem Anspruch auf den Zuschlag nach § 24 SGB II könnten durch Essenseinladungen im Eintrittsmonat des Alg II-Bezugs den Zuschlag aufbessern.

Das Gericht nimmt die angedeuteten Schwierigkeiten als sicheren Beleg dafür, dass die im SGB II gewollte, strikte Pauschalierung weder mit der Vorgehensweise des Beklagten (anderweitige Bedarfsfestlegung) noch einer wie auch immer darstellbaren Einkommensanrechnung in Einklang zu bringen ist. Ein Ausdruck der Pauschalierung ist eben auch, dass der Leistungsbezieher entscheiden kann, in welchem Umfang er die Regelsatzanteile für den vorgesehenen Bedarf einsetzt oder anderweitig verwendet; nichts verpflichtet ihn, 121 EUR im Monat für Verpflegung auszugeben.

Der Klage musste daher in vollem Umfang stattgegeben werden.

Die Berufung ist wegen eines Streitwerts von unter 500 EUR ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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