S 83 KA 253/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
83
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 83 KA 253/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2004 (schriftliche Fassung vom 19. Oktober 2004) verpflichtet, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Neufestsetzung des Individualbudgets, konkret über die Rechtmäßigkeit der Herausrechnung der im Bemessungszeitraum 2002 vom Kläger erbrachten KO-Leistungen.

Der Kläger nimmt als hausärztlicher Internist seit 1993 an der vertragsärztlichen Versorgung teil.

In dem ab 1. Juli 2003 geltenden Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten in der Fassung vom 6. Juni 2003 (HVM) ist in den §§ 9 und 10 die Einführung von individuellen Punktzahlvolumen für punktzahlbewertete Leistungen (Individualbudgets) vorgesehen. Nach § 9 Abs. 1 Unterabsatz 4 HVM gelten für alle Fachgruppen die Quartale 1/2002 bis 4/2002 als Bemessungszeitraum. Das maximal abrechenbare individuelle Punktzahlvolumen wird aus den individuellen Umsätzen des Durchschnittes des Bemessungszeitraumes getrennt nach Primär- und Ersatzkassen ermittelt. Nach § 9 Abs. 1 Unterabsatz 5 HVM werden für die Ermittlung der Individualbudgets unter anderem die "KO-Leistungen" (spezial-ärztliche Leistungen, die Hausärzte nach dem Hausärztevertrag bis zum 31. Dezember 2002 erbringen durften) der Hausärzte abgezogen. Nach § 9 Abs. 2 HVM unterliegen Leistungen, die über das maximal abrechenbare Individualbudget hinaus abgerechnet werden, einer Kürzung auf das zulässige Punktvolumen.

Mit am 11. September 2003 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 9. September 2003 legte der Kläger, so wörtlich, "Widerspruch gegen die Mitteilung" über sein Individualbudget ein. Mit der Kürzung des Individualbudgets um die KO-Leistungen sei er nicht einverstanden. Es sei ihm nicht zu verwehren, kompensatorisch andere Leistungen vermehrt zu erbringen. Die Beklagte fasste das Schreiben als Antrag auf Neufestsetzung des Individualbudgets auf und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 27. Januar 2004 ab. Zur Begründung verwies sie auf die Regelung des § 9 Abs. 1 Unterabsatz 5 HVM sowie darauf, dass dem Kläger als unterdurchschnittlich abrechnende Alt-Praxis nach § 9 Abs. 4 b ein erlaubter Zuwachs von jährlich 3 % bis zum Fachgruppendurchschnitt gestattet sei. Am 24. Februar 2004 legte der Kläger hiergegen Widerspruch ein, der mit Beschluss der Widerspruchsstelle vom 23. August 2004 in der Fassung des schriftlichen Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2004 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt: Die Herausnahme der KO-Leistungen bei der Ermittlung des Individualbudgets beruhe darauf, dass Hausärzte ab 1. Januar 2003 KO-Leistungen nicht mehr abrechnen dürften. Nach dem Beschluss des Bewertungsausschusses in der 77. Sitzung seien die Leistungen aus dem fachärztlichen Vergütungsanteil zu vergüten. Die Beklagte sei nicht berechtigt, Regelungen des Hausärztevertrages außer Kraft zu setzen.

Hiergegen richtet sich die am 22. November 2004 erhobene Klage, mit der der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung führt er im wesentlichen aus: Für die Herausnahme der KO-Leistungen bei der Festsetzung des Individualbudgets sei kein sachlicher Grund denkbar, weshalb die Beklagte ihren Gestaltungsspielraum bei der Honorarverteilung überschritten habe. Grundlage der Individualbudget-Berechnung müsse der reale Honoraranspruch seien, wozu die im Bemessungszeitraum erbrachten KO-Leistungen gehörten. Der in der Vergangenheit erreichte Praxisumsatz sei ein maßgebendes Indiz, worauf ein Arzt seine vertragsärztliche Tätigkeit ausgerichtet habe. Nur deshalb sei das Festhalten des Arztes an diesen Umsatzergebnissen zu rechtfertigen. Es gehe ihm nicht um die Erbringung von KO-Leistungen über das Jahr 2002 hinaus, sondern um die Möglichkeit, den Umsatz des Bemessungszeitraums durch Erbringung anderer Leistungen zu kompensieren. Für die Gewährung des Individualbudgets sei die konkrete Entwicklung der Praxis irrelevant. Es komme nicht darauf an, dass er sein Individualbudget auch voll ausnutze.

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Meinung, dass die Herausrechnung der KO-Leistungen aus den Individualbudgets der Hausärzte ihre Rechtfertigung darin finde, dass diese Umsätze den Ärzten zur Verfügung zu stellen seien, die nach dem 31. Dezember 2002 die den KO-Leistungen entsprechenden Leistungen der fachärztlichen Versorgung zu erbringen hätten. Im übrigen habe der Kläger seine Praxisstruktur nicht angepasst und die im Jahr 2002 erbrachten KO-Leistungen nicht durch andere Leistungen ersetzt, was sich im Rückgang der Behandlungsfälle und angeforderten Punktzahlen in den Jahren 2003 und 2004 widerspiegele.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorlag und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung unter der Entscheidungsfindung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil die ihm von der Beklagten zu Grunde gelegte Regelung des § 9 Abs. 1 Unterabsatz 5 HVM, jedenfalls soweit sie die KO-Leistungen betrifft, rechtswidrig ist. Der Bescheid ist deshalb aufzuheben. Entsprechend dem Antrag des Klägers ist die Beklagte zu verpflichten, den Antrag auf Neufestsetzung des Individualbudgets neu zu bescheiden (§ 131 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Rechtsgrundlage für den angegriffenen Bescheid ist § 9 Abs. 9 HVM. Danach kann ein Leistungserbringer in begründeten Fällen beim Vorstand eine Neufestsetzung seines maximal abrechenbare individuellen Punktzahlvolumens beantragen, insbesondere wegen Praxisschließungen ohne Praxisnachfolge im Umfeld des Antragstellers und entsprechender Patientenübernahme, wegen Erlöschen von Ermächtigungen von Krankenhausärzten, wegen längerer Erkrankung im Bemessungszeitraum und wegen veränderter Praxisstruktur. Zwar liegen die in der Vorschrift gesondert aufgezählten Fälle nicht vor. Jedoch sind diese bereits dem Wortlaut nach ("insbesondere") nur Beispiele eines begründeten Falles, neben denen weitere denkbar sind. Ein solcher liegt hier vor. Denn die in § 9 Abs. 1 Unterabsatz 4 HVM getroffene Regelung, wonach die im Jahr 2002 von Hausärzten erbrachten KO-Leistungen für die Ermittlung der Individualbudgets herausgerechnet werden, ist rechtswidrig und unwirksam.

Rechtsgrundlage für den HVM ist § 85 Abs. 4 S. 1 und 2 SGB V, wonach die Kassenärztliche Vereinigung die Gesamtvergütungen an die Vertragsärzte verteilt und dabei den im Benehmen mit den Verbänden der Krankenkassen festgesetzten (beziehungsweise ab 1. Juli 2004 mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich zu vereinbarenden [vgl. § 85 Abs. 4 S. 2 SGB V in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes]) Verteilungsmaßstab anwendet. Der HVM ist als Berufsausübungsregelung (vgl. Clemens, MedR 2000, 17, 17) an Art. 12 GG zu messen. Er muss im Hinblick auf das verfolgte Ziel insbesondere verhältnismäßig sein. Danach ist die Einführung von Individualbudgets grundsätzlich nicht zu beanstanden (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003, -B 6 KA 54/02 R-, BSGE 92, 10; juris, Rn. 17 m.w.N.). Es ist im Hinblick auf das Ziel der Punktwertstabilisierung, der Vermeidung der Punktmengenausweitung (so genannter "Hamsterradeffekt") und damit der finanziellen Stabilität des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung von dem einzelnen Vertragsarzt hinzunehmen, dass ihm Leistungsmengenausweitungen grundsätzlich verwehrt werden. Auch die Honorarverteilungsgerechtigkeit bleibt hierdurch gewahrt (BSG a.a.O., Rn. 18). Allerdings darf der Vertragsarzt bei diesem schwerwiegenden Eingriff nicht pauschal auf bestimmte, in der Vergangenheit erzielte oder für die Zukunft zu erwartende Umsätze beschränkt werden. Vielmehr rechtfertigt sich die Einführung von Individualbudgets darin, dass der in der Vergangenheit erreichte Praxisumsatz bei typisierender Betrachtung ein maßgebendes Indiz für den Umfang ist, auf denen der Vertragsarzt seine vertragsärztliche Tätigkeit ausgerichtet hat (BSG a.a.O., Rn 17). Der Vertragsarzt darf im Rahmen seiner durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten freien Berufstätigkeit nicht an seinen geleisteten oder – wie vorliegend – zu erwartenden Umsätzen festgehalten werden, sondern nur an dem Umfang seiner Tätigkeit, den er in der Vergangenheit für sich als ausreichend und notwendig zur Finanzierung seiner Praxis und Einkommenserzielung erachtet hat. Dieser Tätigkeitsumfang kann durch den erzielten Honorarumsatz vergangener Zeiträume abgebildet werden und so Grundlage für die Berechnung des Individualbudgets sein. Die Regelung des § 9 Abs. 1 Unterabsatz 5 HVM, wonach die erbrachten KO-Leistungen bei der Berechnung des Individualbudgets unbeachtlich sind, dient jedoch nicht dem Ziel, den Vertragsarzt an dem Umfang seiner bisherigen Tätigkeit festzuhalten. Denn sie hat eine Reduzierung der vertragsärztlichen Tätigkeit zum Ziel oder zieht eine solche jedenfalls nach sich. Im Ergebnis dient sie vor allem dazu, das von der Beklagten insgesamt auszuschüttende Honorarvolumen auf dem Niveau des Jahres 2002 einzufrieren. Dies erweist sich gemessen an Art. 12 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig. Es ist dem Kläger nicht zuzumuten, wegen der Begrenztheit der Gesamtvergütung mittels Individualbudget auf einen Tätigkeitsumfang festgelegt zu werden, der unter demjenigen des Bemessungszeitraums liegt. Der Kläger kann von der Beklagten auch nicht auf die Erbringung bestimmter Tätigkeiten in einem bestimmten Umfang festgelegt werden. Wenn er im Rahmen seines Tätigkeitsumfangs im Bemessungszeitraum noch KO-Leistungen erbringen und abrechnen durfte, so muss ihm die Möglichkeit bleiben, im Rahmen seines bisherigen Arbeitsumfangs auch anderweitige (hausärztliche) Leistungen zu erbringen. Denn welcher Art – oder genauer: nach welchen EBM-Nrn. – die von ihm in einem Abrechnungszeitraum erbrachten Leistungen sind, entzieht sich seinem Einfluss und hängt (auch) von den Erkrankungen seiner Patienten ab. Mit anderen Worten: Grundlage der Individualbudget-Berechnung muss der reale Honoraranspruch in diesem Zeitraum sein (vgl. BSG, Beschluss vom 10. März 2005, -B 6 KA 123/03 B- zit. n. juris, Rn. 9), wozu vorliegend auch die im Jahr 2002 erbrachten KO-Leistungen gehören. Nur so ist die Äquivalenz zwischen dem Leistungs- und Tätigkeitsumfang der Vergangenheit und dem zukünftigen, auf den Umfang der Vergangenheit begrenzten, gewahrt.

Das Argument der Beklagten, die KO-Leistungen seien nunmehr dem fachärztlichen Vergütungsanteil zur Verfügung gestellt worden, weil die KO-Leistungen nunmehr allein von Fachärzten erbracht dürften, verfängt nicht: Denn dann hätte das Individualbudget der Fachärzte konsequenterweise ausgehend vom Bemessungszeitraum 2002 um die zusätzlich zu erbringenden KO-Leistungen erweitert werden müssen. Eine entsprechende Regelung findet sich im HVM aber nicht.

Darauf, dass die Umsätze und Fallzahlen des Klägers in den Jahren 2003 und 2004 gegenüber 2002 zurückgegangen sind, kommt es nicht an. Denn die Festsetzung des Individualbudgets ist eine Verwaltungsentscheidung mit selbstständigem Regelungsinhalt, deren Rechtmäßigkeit unabhängig vom tatsächlichen Abrechnungsverhalten des Vertragsarztes ist. Dementsprechend kann sie auch – wie vorliegend – unabhängig von den einzelnen Honorarbescheiden angefochten werden und Gegenstand eines sozialgerichtlichen Rechtsstreits sein, was die Beklagte im Übrigen nicht bestreitet (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998, -B 6 KA 71/97 R-, BSGE 83, 52, wo Streitgegenstand die Mitteilung über die Bemessungsgrundlage für das Budget war). Der Hinweis der Beklagten, dass der Kläger keine kompensatorischen Leistungen anstelle der KO-Leistungen erbracht hat, führt folglich nicht weiter. Wenn der Kläger seine Praxistätigkeit an der steuernden Wirkung der Individualbudgetfestsetzung ausrichtet, auch wenn diese noch umstritten ist, so darf ihm dies nicht zum Nachteil gereichen. Schließlich besteht ja auch keine Verpflichtung eines Vertragsarztes, das ihm gewährte Individualbudget stets auszuschöpfen.

Nach alledem wird die Beklagte das Individualbudget des Klägers auf Grundlage aller im Bemessungszeitraum 2002 erbrachten punktzahlbewerteten Leistungen einschließlich der KO-Leistungen neu festzusetzen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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