Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 7 R 5595/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Erwerbsminderungsrente der am 9. November 1955 geborenen Klägerin abschlagsfrei zu berechnen ist und der Klägerin eine entsprechend höhere Rente zu zahlen ist.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 1. Juli 2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Oktober 2004, die bis zum März 2006 befristet wurde. Aus den vollständig festgestellten rentenversicherungsrechtlichen Zeiten der Klägerin ermittelte die Beklagte 47,6457 Entgeltpunkte. Die Beklagte berücksichtigte eine Zurechnungszeit von Januar 2005 bis 8. November 2015. Der Ermittlung der Rentenhöhe legte die Beklagte 42,5 persönliche Entgeltpunkte zugrunde, die sich aus der Multiplikation eines Zugangs-faktors in Höhe von 0,892 mit den vorgenannten 47,6457 Entgeltpunkten ergab. Den Zu-gangsfaktor von 0,892, der also um 0,108 (10,8%) geringer ist als 1, ermittelte die Beklag-te, in dem sie den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 vermindert, beginnend ab dem 30. November 2015 (Vollendung des 60. Lebensjahres). Damit wurden insgesamt 36 Ka-lendermonate bei der Verminderung des Zugangsfaktors berücksichtigt (36 x 0,003 = 0,108). Hieraus ergab sich eine Rentenhöhe von 1.110,53 Euro (für Bezugszeiten ab September 2005), die die Beklagte aus dem Produkt der persönlichen Entgeltpunkte, dem aktuellen Rentenwert von 26,13 Euro und dem Rentenartfaktor 1 errechnete. Vorstehenden Rentenbescheid focht die Klägerin nicht mit dem Widerspruch an. Im Sep-tember 2006 hat sie die Überprüfung dieses Rentenbescheides nach § 44 SGB X beantragt und greift den hieraufhin ergangenen Bescheid vom 30. November 2006/ Widerspruchs-bescheid vom 14. Februar 2007 im Klageverfahren S ... an. Diese Klage ist aktuell noch beim Sozialgericht Berlin anhängig.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 10. Februar 2006 für den Zeitraum von April 2006 bis März 2009 weiter Rente wegen voller Erwerbsminderung in der bishe-rigen Höhe. Da die Umsetzung des BSG-Urteils vom 24. Oktober 1996 (4 RA 31/96) technisch zurzeit nicht möglich sei, habe der Bescheid bezüglich der Rentenhöhe nur vor-läufigen Charakter. Mit dem im vorliegenden Gerichtsverfahren streitgegenständlichen Bescheid vom 7. Sep-tember 2006 legte die Beklagte dar, bei einer Probeberechnung habe sich ergeben, dass sich in Umsetzung des BSG-Urteils vom 24. Oktober 1996 im Fall der Klägerin kein hö-herer Rentenzahlbetrag ergebe. Mit dem Widerspruch vom 13. September 2006 macht die Klägerin geltend, die Vermin-derung des Zugangsfaktors sei rechtswidrig, die Rente sei aus 47,6457 persönlichen Ent-geltpunkten zu berechnen. Zur Begründung verweist die Klägerin auf das Urteil des BSG vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Dem Begehren einer Zahlung der Rente ohne Min-derung des Zugangsfaktors könne nicht entsprochen werden, weil das BSG-Urteil nicht der Rechtsauffassung der Beklagten entspreche. Dagegen spreche allein schon der Um-stand, dass der Gesetzgeber zur Abfederung von Abschlägen aus Erwerbsminderungsren-ten eine Verlängerung der Zurechungszeit eingeführt habe, von der ausschließlich Berech-tigte unter 60 Jahren profitieren würden.
Hiergegen richtet sich die am 30. November 2006 zum Sozialgericht Berlin erhobene Kla-ge, mit der die Klägerin an dem Begehren festhält und geltend macht, ihr stehe abschlags-freie Rente zu, der Zugangsfaktor sei in ihrem Fall 1,0. Der § 77 Abs. 2 SGB VI sei ein-fach gesetzlich und unter Beachtung des Art. 14 GG erst Recht verfassungskonform aus-zulegen. Abschläge kämen bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 60. Lebensjahr nicht in Betracht.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 7. September 2006 in der Ges-talt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2006 abzu-ändern und die Beklagte zu verurteilen, vom 1. April 2006 bis 31. März 2009 der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminde-rung auf Grundlage von 47,6457 persönlichen Entgeltpunkten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Der 4. Senat des BSG ste-he mit seiner Rechtsansicht allein.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen. Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beige-zogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die der Kammer vorlag und die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gemacht wurde, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rech-ten. Die Klägerin hat für den streitgegenständlichen Zeitraum keinen Anspruch auf Ge-währung einer höheren Rente. Die von der Beklagten vorgenommene Minderung des Zu-gangsfaktors um 0,003 für jeden Monat der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres, jedoch begrenzt auf maximal 36 Monate, ist rechtens und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Vorab ist auf zwei Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens hinzuweisen: Zum einen ist eine endgültige Regelung der Rentenhöhe für Bezugszeiträume ab April 2006, die Ge-genstand der vorliegenden Klage sind, erst mit dem Bescheid vom 7. September 2006 er-folgt (der Bescheid vom 10. Februar 2006 war die Rentenhöhe betreffend vorläufig). Da-mit regelt der Bescheid vom 7. September 2006 erstmalig endgültig die Rentenhöhe. Zum anderen ist zwar ein Überprüfungsverfahren für den vorangegangenen Rentenbe-zugszeitraum (Oktober 2004 bis März 2006) bei Gericht in der 10. Kammer anhängig. Dieses Verfahren ist jedoch für das vorliegende Klageverfahren nicht vorgreiflich, weil bis zu einem Erfolg des Überprüfungsantrages der Bescheid vom 1. Juli 2005 bestandskräftig bleibt.
§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bestimmt in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung, dass der Zugangsfaktor für Entgeltpunkt, die noch nicht Grundlage von persönlichen Ent-geltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalender-monats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0 ist. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI bestimmt, dass bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollen-dung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist. Der folgende Satz 3 bestimmt, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme gilt.
Nach Wortlaut und systematischer Stellung der einzelnen Teilregelungen zueinander sind die Vorschrift so zu verstehen, dass auch bei Inanspruchnahme einer Rente wegen ver-minderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Verminderung des Zugangsfaktors vorgenommen wird, dies jedoch auf maximal 36 Kalendermonate, also maximal 10,8 Prozent begrenzt wird.
Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist als Grundregelungen der Verminderung des Zugangsfaktors zu verstehen. Ohne weitere Einschränkungen bestimmt Nr. 3 der Vor-schrift, dass bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres eine Verminderung des Zugangsfaktors vorgenommen wird. Ein Ausschluss dieser Kürzungswirkung für Rentenbezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Vielmehr ließe § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bei isolierter Betrachtung der Vorschrift bei einem sehr jungen Erwerbsmin-derungsrentner eine Verminderung des Zugangsfaktors auf 0 zu.
Um das Erwerbsminderungsrentenrecht bei relativ jungen Jahrgängen nicht vollkommen leer laufen zu lassen (was bei einem Zugangsfaktor 0 der Fall wäre) beziehungsweise über Gebühr einzuschränken, hat der Gesetzgeber sodann mit den Sätzen 2 und 3 des § 77 Abs.2 SGB VI eine Begrenzung der Minderung des Zugangsfaktors und eine Untergrenze des Zugangsfaktors eingeführt.
Die Kammer hat sich zunächst den § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI vergegenwärtigt: Beginnt - eine Erwerbsminderungsrente (wie im vorliegenden Fall) vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder - ist bei einer Hinterbliebenenrente der Versicherte vor Vollendung des 60. Le-bensjahres verstorben dann ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors (also die Berechnung der Abschläge) maßgebend. Der § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI regelt, dass bei Bestimmung des Zugangsfaktors immer fiktiv auf das 60. Lebensjahr abzustellen ist, auch, wenn der Versicherte bei Beginn der Rente wegen verminderter Erwerbsfähig-keit dieses Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Mit dieser Vorschrift wird bei der Berech-nung der Abschläge die Vollendung des 60. Lebensjahres fingiert, damit die Abschläge (die bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gerechnet werden) höchstens 10,8% (36 x 0,3%) betragen. Damit ergeben sich nach dieser Vorschrift bei jedem Erwerbsminderungs-rentenbezug vor dem 60. Lebensjahr (Maximal-) Abschläge 10,8% (aber gemildert durch Zurechnungszeit, dazu später). Die Annahme des 4. Senates des BSG in dem Urteil vom 16. Mai 2006, erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres kämen Abschläge überhaupt in Betracht (es handele sich also um die Untergrenze für Abschläge) und vor dem 60. Le-bensjahr seien Abschläge ausgeschlossen, teilt die Kammer nicht. Nach dem § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist die Annahme des BSG, dass es einer (von 1,0 abweichenden) Bestim-mung des Zugangsfaktors erst dann bedürfe wenn das 60. Lebensjahr vollendet sei, unzu-treffend. Tatsächlich muss in jedem Fall zur Berechnung der Rentenhöhe der Zugangsfak-tor bestimmt werden und spricht § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI daher auch von der Bestim-mung "des" (und nicht etwa "eines", wie es dem Verständnis des BSG entspräche) Zu-gangsfaktors.
Nach der Grundregel von § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI bleibt der Zugangsfaktor für diejeni-gen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, maßgeblich. Vor diesem Hintergrund ist dann auch der § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI zu verstehen: Die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebens-jahres des Versicherten gilt nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme. Dieser Rege-lung bedarf es, um § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI z.B. im folgender Konstellation auszu-schließen: Ein Versicherter bezieht für wenige Jahre vor seinem 60. Lebensjahr Erwerbs-minderungsrente (mit Abschlägen, s.o.), dann tritt ein Zwischenzeitraum ohne Rentenbe-zug auf und beginnt schließlich nach dem 60. Lebensjahr eine Altersrente. Für die Bere-chung dieser Altersrente soll (so die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI) nicht mehr der (ungünstige) Zugangsfaktor der Erwerbsminderungsrente maßgebend sein, sondern ein neuer Zugangsfaktor errechnet werden. Es handelt sich also um eine den Versicherten begünstigende Regelung. Mit § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI wird in diesem Zusammenhang verhindert, dass bei zeitlich befristeter Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente in früheren Lebensjahren diese rentenmindernde Wirkung für eine nachfolgende Rente ein-tritt. Dagegen vertritt der 4. Senat des BSG die Ansicht, der Satz 3 bestätige, dass Abschläge erst ab dem 60. Lebensjahr in Betracht kämen. Wäre aber eine vorzeitige Inanspruchnah-me von Renten (um den Preis von Abschlägen) überhaupt erst ab dem 60. Lebensjahr möglich, würde sich ein (aus Sicht der Kammer ersichtlich vom Gesetzgeber nicht gewoll-te) Ergebnis ergeben, dass die Rente bis zum 60. Lebensjahr ohne Abschläge und dann ab dem 60. Lebensjahr mit Abschlägen gewährt werden müsste. In den Gesetzgebungsmate-rialien ist kein Anhaltspunkt ersichtlich, dass es sich hierbei um ein vom Gesetzgeber ge-wolltes Ergebnis handeln könnte. Vielmehr würde dieses Ergebnis, dass mit Vollendung des 60. Lebensjahres eine Minderung der Rente auf Grund einer Kürzung der persönlichen Entgeltpunkt um 10,8 Prozent eintreten würde (es würde also keine neue Erwerbsminde-rungsrente im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI beginnen, sondern die bisherige Rente nur neu berechnet werden), gegen Sinn und Zweck des § 88 SGB VI verstoßen. Der § 88 Abs. 1 SGB VI schützt persönliche Entgeltpunkte, die bereits Grundlage für eine Rente waren, grundsätzlich auch bei Bezug einer späteren Rente. Der im § 88 SGB VI vorgese-hene Entgeltpunkteschutz bewirkt, dass eine spätere Rente grundsätzlich zumindest nicht auf Grund niedrigerer persönlicher Entgeltpunkte gezahlt werden darf. Bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit greift dieser Entgeltpunkteschutz nach § 88 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sogar, wenn zwischen zwei Rentenbezugszeiten weniger als 24 Kalendermonate liegen. Eine Nahtlosigkeit des Rentenbezuges ist nicht erforderlich. Die nach der Lösung des 4. Senates eintretende Minderung der persönlichen Entgeltpunkte während des laufen-den Rentenbezuges nur auf Grund der Vollendung des 60. Lebensjahres würde damit ei-nen wesentlichen systematischen Bruch zu den sonstigen Regelungen des SGB VI darstel-len, die von Vertrauensschutz bei der Zugrundelegung persönlicher Entgeltpunkte zuguns-ten der Versicherten geprägt sind.
Der Satz 3 des § 77 Abs. 2 SGB VI stellt klar, dass Zeiten vor Vollendung des 60. Lebens-jahres hinsichtlich der Berechnung des Zugangsfaktors nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten. Eine inhaltliche Modifikation zu der allgemeinen Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI enthält er gerade nicht. Wäre dies beabsichtigt gewesen, so hätte gesetzestechnisch wesentlich einfacher direkt in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB geregelt werden können, dass eine Verminderung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminde-rungsrenten nur für Rentenbezugszeiten zwischen Vollendung des 60. und 63. Lebensjah-res stattfindet.
Für die Lösung der Kammer sprechen weitere Argumente:
Nach dem Verständnis der Kammer war die Absenkung des Zugangsfaktors Teil eines gesetzgeberischen Gesamtpaketes und wurde durch die Verlängerung der Zurechnungszeit (§ 59 SGB VI) abgemildert. In der Fassung bis zum 31. Dezember 2000 regelte § 59 Abs. 3 SGB VI, dass bei Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit die Zurechnungszeit mit dem Zeitpunkt endet, der sich ergibt, wenn die Zeit bis zum vollendeten 55. Lebens-jahr im vollen Umfang, die darüber hinausgehende Zeit bis zum vollendeten 60. Lebens-jahr zu einem Drittel dem Zeitpunkt des Eintritts der Minderung der Erwerbsfähigkeit hin-zugerechnet wird. In der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung des § 59 Abs. 2 Satz 3 SGB VI endet die Zurechnungszeit mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Durch diese Verlängerung der Zurechnungszeit wird die Wirkung der Minderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres abgemildert. Dieses Zusammenspiel der beiden Regelungen ist von dem Gesetzgeber da-bei ausdrücklich intendiert gewesen (Bundestagsdrucksache 14/4230, Seite 24, 26). Auf-grund des Zusammenwirkens dieser beiden Vorschriften ist es nicht angezeigt, § 77 Abs. 2 SGB VI so zu verstehen, dass eine Minderung des Zugangsfaktors für Rentenbezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht eintritt. Bei diesem Verständnis der Norm wä-re eine gleichzeitige Ausdehnung der Zurechnungszeit und die damit verbundene Besser-stellung gegenüber den vorherigen Berechnungsregelungen nicht geboten gewesen: Würde man dem Verständnis der Regelung des 4. Senates des BSG folgen, würden Erwerbsmin-derungsrentner vor dem 60. Lebensjahr von der Verlängerung der Zurechnungszeit unein-geschränkt (da nach BSG keine Abschläge zu beachten wären) profitieren und wären Er-werbsminderungsrentner, deren Rente nach dem 60. Lebensjahr beginnt, nur mit Abschlä-gen belastet (ohne Kompensation durch eine erweiterte Zurechnungszeit, da diese sich nur bis zum 60. Lebensjahr erstrecken kann). Vorstehendes Ergebnis wäre im höchsten Maße unbefriedigend und mit dem Willen des Gesetzgebers unvereinbar. Nach der Gesetzesbegründung bezweckte der Gesetzgeber, die Höhe der Erwerbsminde-rungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten in der Wei-se anzugleichen, dass diese Renten mit einem Abschlag von höchstens 10,8 % versehen werden (BT-Drs. 14/4230, S. 24). Zwar beginnen Altersrenten nicht vor dem 60. Lebens-jahr. Gleichwohl wird in der Gesetzesbegründung nicht zwischen Versicherten, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, und solchen, die das 60. Lebensjahr nicht vollendet haben, differenziert. Vielmehr wird deutlich, dass auch die Versicherten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahrs eine Rente wegen Erwerbsminderung beziehen, von der Verminderung des Zugangsfaktors erfasst werden. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. a. a. O.) heißt es: "Die Auswirkungen einer solchen Regelung werden dadurch abgemildert, dass die Zeit zwischen dem vollendeten 55. und 60. Lebensjahr (statt wie im geltenden Recht zu einem Drittel) künftig voll als Zurechnungszeit angerechnet wird. ( ...) Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung ergibt sich jedoch bei einem Eckrentner eine gegenüber dem geltenden Recht nur um 3,3 % (Rentenfall bis zum Lebensalter 56 Jahre und 8 Mona-te) bzw. um max. 10,8 % (Rentenfall bei Lebensalter 60 Jahre) niedrigere Rente."
Für dieses Verständnis von § 77 Abs. 2 SGB VI spricht auch die detaillierte Regelung des § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI, der die Erhöhung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor von weniger als 1,0 bei Nichtin-anspruchnahme dieser Rente zwischen Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres re-gelt. Diese Vorschrift ergibt nur einen Sinn, wenn man § 77 Abs. 2 SGB VI so versteht, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung mit Zugangs-faktor mindernder Wirkung grundsätzlich auch bei Inanspruchnahme dieser Rente für Zei-ten vor Vollendung des 60. Lebensjahres vorliegt.
Auch das Rentenversicherungsaltersgrenzenanpassungsgesetz (Gesetz vom 20. April 2007, BGBl. I Seite 554 ff) hat die Kammer in ihrer Rechtsansicht bestärkt: Der § 77 wird geändert werden (Artikel 1 Nr. 23, in Kraft tretend am 1. Januar 2008 nach Art 27 Abs. 1). In der Begründung zum Gesetzentwurf (Bundestagsdrucksache 16/3794) wird auf Seite 36 in wünschenswerter Klarheit dargelegt, dass "die Abschläge bei den Erwerbsminderungs-renten in Höhe von 10,8% entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes (!) und entgegen einer Entscheidung des 4. Senates des Bundessozialgerichtes – Urteil vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R – in allen Fällen vorzunehmen (sind), in denen die Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird".
Das Gericht schließt sich daher im Ergebnis den Entscheidungen des Sozialgerichts Al-tenburg vom 22. März 2007 (S 14 KN 64/07), des Sozialgerichts Aachen vom 9. Februar 2007 (S 8 R 96/06) und vom 20. März 2007 (S 13 R 76/06), des Sozialgerichtes Köln vom 12. April 2007 (S 29(25)R 337/06), des Sozialgerichtes Augsburg vom 23. April 2007 (S 3 R 26/07), des Sozialgerichtes Nürnberg vom 30. Mai 2007 (S 14 R 4013/07), des Sozi-algerichtes für das Saarland vom 08. Mai 2007 (S 14 R 82/07) und des Sozialgerichtes Berlin vom 26. Juni 2007 (S 10 R 2610/06) und 17. Juli 2007 (S 6 R 2423/07) sowie des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 13. Dezember 2006 (L 2 R 466/06 ER) an, ebenso Polster in Kasseler Kommentar, 53. Ergänzungslieferung 2007, § 77 Rn. 21 und Kreikebohm, SGB VI, 2. Auflage 2003, § 77 Rn. 12. Den abweichenden Entschei-dungen des Landessozialgerichtes für das Saarland vom 9. Februar 2007 (L 7 R 40/06) und des Bundessozialgerichtes vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) folgt das Gericht hin-gegen aus den dargestellten Gründen nicht.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Inhalt des § 77 Abs.2 SGB VI nach der hier vorgenommenen Interpretation bestehen aus Sicht der Kammer nicht. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG vor. Das Rentenversicherungsverhältnis ist kein unabänderliches. Es beruht im Unterschied zum Privatversicherungsverhältnis von Anfang an nicht auf dem reinen Versicherungsprinzip, sondern wesentlich auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs. Die Gestaltungsfreiheit des Ge-setzgebers verengt sich jedoch in dem Maße, in dem Rentenanwartschaften durch den per-sonalen Anteil eigener Leistungen der Versicherten geprägt sind, was vor allem in ein-kommensbezogenen Beitragszahlungen Ausdruck findet (so zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2007, Az. 1 BvL 10/00 mit weiteren Nachweisen). Der durch Verminde-rung des Zugangsfaktors bewirkte Eingriff dient dem legitimen Zweck der Verhinderung von Ausweichreaktionen von Altersrenten in Renten wegen verminderter Erwerbsfähig-keit. Unter Berücksichtigung der Anhebung der Zurechnungszeit in § 59 SGB VI ist die Regelung verhältnismäßig. Der Abschlag, den die betroffenen Versicherten hinnehmen müssen, wird durch die Anhebung der Zurechnungszeit sowie Übergangsregelungen kom-pensiert. Die Abschlagsregelung und die erweiterte Anrechnung der Zurechnungszeit ste-hen als "Paketlösung" in einem engen Zusammenhang. Beide Regelungen wurden nicht unmittelbar, sondern gemäß §§ 253a, 264c SGB VI schrittweise eingeführt (Kreikebohm a. a. O., Rn. 13), so dass den Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit Genüge getan ist.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und orientiert sich am Ergebnis der Haupt-sache, da Anhaltspunkte für eine abweichende Kostenentscheidung nicht ersichtlich wa-ren.
Die Revision war gemäß § 161 Abs. 2 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, weil das Gericht von dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Erwerbsminderungsrente der am 9. November 1955 geborenen Klägerin abschlagsfrei zu berechnen ist und der Klägerin eine entsprechend höhere Rente zu zahlen ist.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 1. Juli 2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Oktober 2004, die bis zum März 2006 befristet wurde. Aus den vollständig festgestellten rentenversicherungsrechtlichen Zeiten der Klägerin ermittelte die Beklagte 47,6457 Entgeltpunkte. Die Beklagte berücksichtigte eine Zurechnungszeit von Januar 2005 bis 8. November 2015. Der Ermittlung der Rentenhöhe legte die Beklagte 42,5 persönliche Entgeltpunkte zugrunde, die sich aus der Multiplikation eines Zugangs-faktors in Höhe von 0,892 mit den vorgenannten 47,6457 Entgeltpunkten ergab. Den Zu-gangsfaktor von 0,892, der also um 0,108 (10,8%) geringer ist als 1, ermittelte die Beklag-te, in dem sie den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 vermindert, beginnend ab dem 30. November 2015 (Vollendung des 60. Lebensjahres). Damit wurden insgesamt 36 Ka-lendermonate bei der Verminderung des Zugangsfaktors berücksichtigt (36 x 0,003 = 0,108). Hieraus ergab sich eine Rentenhöhe von 1.110,53 Euro (für Bezugszeiten ab September 2005), die die Beklagte aus dem Produkt der persönlichen Entgeltpunkte, dem aktuellen Rentenwert von 26,13 Euro und dem Rentenartfaktor 1 errechnete. Vorstehenden Rentenbescheid focht die Klägerin nicht mit dem Widerspruch an. Im Sep-tember 2006 hat sie die Überprüfung dieses Rentenbescheides nach § 44 SGB X beantragt und greift den hieraufhin ergangenen Bescheid vom 30. November 2006/ Widerspruchs-bescheid vom 14. Februar 2007 im Klageverfahren S ... an. Diese Klage ist aktuell noch beim Sozialgericht Berlin anhängig.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 10. Februar 2006 für den Zeitraum von April 2006 bis März 2009 weiter Rente wegen voller Erwerbsminderung in der bishe-rigen Höhe. Da die Umsetzung des BSG-Urteils vom 24. Oktober 1996 (4 RA 31/96) technisch zurzeit nicht möglich sei, habe der Bescheid bezüglich der Rentenhöhe nur vor-läufigen Charakter. Mit dem im vorliegenden Gerichtsverfahren streitgegenständlichen Bescheid vom 7. Sep-tember 2006 legte die Beklagte dar, bei einer Probeberechnung habe sich ergeben, dass sich in Umsetzung des BSG-Urteils vom 24. Oktober 1996 im Fall der Klägerin kein hö-herer Rentenzahlbetrag ergebe. Mit dem Widerspruch vom 13. September 2006 macht die Klägerin geltend, die Vermin-derung des Zugangsfaktors sei rechtswidrig, die Rente sei aus 47,6457 persönlichen Ent-geltpunkten zu berechnen. Zur Begründung verweist die Klägerin auf das Urteil des BSG vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Dem Begehren einer Zahlung der Rente ohne Min-derung des Zugangsfaktors könne nicht entsprochen werden, weil das BSG-Urteil nicht der Rechtsauffassung der Beklagten entspreche. Dagegen spreche allein schon der Um-stand, dass der Gesetzgeber zur Abfederung von Abschlägen aus Erwerbsminderungsren-ten eine Verlängerung der Zurechungszeit eingeführt habe, von der ausschließlich Berech-tigte unter 60 Jahren profitieren würden.
Hiergegen richtet sich die am 30. November 2006 zum Sozialgericht Berlin erhobene Kla-ge, mit der die Klägerin an dem Begehren festhält und geltend macht, ihr stehe abschlags-freie Rente zu, der Zugangsfaktor sei in ihrem Fall 1,0. Der § 77 Abs. 2 SGB VI sei ein-fach gesetzlich und unter Beachtung des Art. 14 GG erst Recht verfassungskonform aus-zulegen. Abschläge kämen bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 60. Lebensjahr nicht in Betracht.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 7. September 2006 in der Ges-talt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2006 abzu-ändern und die Beklagte zu verurteilen, vom 1. April 2006 bis 31. März 2009 der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminde-rung auf Grundlage von 47,6457 persönlichen Entgeltpunkten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Der 4. Senat des BSG ste-he mit seiner Rechtsansicht allein.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen. Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beige-zogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die der Kammer vorlag und die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gemacht wurde, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rech-ten. Die Klägerin hat für den streitgegenständlichen Zeitraum keinen Anspruch auf Ge-währung einer höheren Rente. Die von der Beklagten vorgenommene Minderung des Zu-gangsfaktors um 0,003 für jeden Monat der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres, jedoch begrenzt auf maximal 36 Monate, ist rechtens und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Vorab ist auf zwei Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens hinzuweisen: Zum einen ist eine endgültige Regelung der Rentenhöhe für Bezugszeiträume ab April 2006, die Ge-genstand der vorliegenden Klage sind, erst mit dem Bescheid vom 7. September 2006 er-folgt (der Bescheid vom 10. Februar 2006 war die Rentenhöhe betreffend vorläufig). Da-mit regelt der Bescheid vom 7. September 2006 erstmalig endgültig die Rentenhöhe. Zum anderen ist zwar ein Überprüfungsverfahren für den vorangegangenen Rentenbe-zugszeitraum (Oktober 2004 bis März 2006) bei Gericht in der 10. Kammer anhängig. Dieses Verfahren ist jedoch für das vorliegende Klageverfahren nicht vorgreiflich, weil bis zu einem Erfolg des Überprüfungsantrages der Bescheid vom 1. Juli 2005 bestandskräftig bleibt.
§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bestimmt in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung, dass der Zugangsfaktor für Entgeltpunkt, die noch nicht Grundlage von persönlichen Ent-geltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalender-monats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0 ist. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI bestimmt, dass bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollen-dung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist. Der folgende Satz 3 bestimmt, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme gilt.
Nach Wortlaut und systematischer Stellung der einzelnen Teilregelungen zueinander sind die Vorschrift so zu verstehen, dass auch bei Inanspruchnahme einer Rente wegen ver-minderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Verminderung des Zugangsfaktors vorgenommen wird, dies jedoch auf maximal 36 Kalendermonate, also maximal 10,8 Prozent begrenzt wird.
Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist als Grundregelungen der Verminderung des Zugangsfaktors zu verstehen. Ohne weitere Einschränkungen bestimmt Nr. 3 der Vor-schrift, dass bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres eine Verminderung des Zugangsfaktors vorgenommen wird. Ein Ausschluss dieser Kürzungswirkung für Rentenbezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Vielmehr ließe § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bei isolierter Betrachtung der Vorschrift bei einem sehr jungen Erwerbsmin-derungsrentner eine Verminderung des Zugangsfaktors auf 0 zu.
Um das Erwerbsminderungsrentenrecht bei relativ jungen Jahrgängen nicht vollkommen leer laufen zu lassen (was bei einem Zugangsfaktor 0 der Fall wäre) beziehungsweise über Gebühr einzuschränken, hat der Gesetzgeber sodann mit den Sätzen 2 und 3 des § 77 Abs.2 SGB VI eine Begrenzung der Minderung des Zugangsfaktors und eine Untergrenze des Zugangsfaktors eingeführt.
Die Kammer hat sich zunächst den § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI vergegenwärtigt: Beginnt - eine Erwerbsminderungsrente (wie im vorliegenden Fall) vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder - ist bei einer Hinterbliebenenrente der Versicherte vor Vollendung des 60. Le-bensjahres verstorben dann ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors (also die Berechnung der Abschläge) maßgebend. Der § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI regelt, dass bei Bestimmung des Zugangsfaktors immer fiktiv auf das 60. Lebensjahr abzustellen ist, auch, wenn der Versicherte bei Beginn der Rente wegen verminderter Erwerbsfähig-keit dieses Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Mit dieser Vorschrift wird bei der Berech-nung der Abschläge die Vollendung des 60. Lebensjahres fingiert, damit die Abschläge (die bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gerechnet werden) höchstens 10,8% (36 x 0,3%) betragen. Damit ergeben sich nach dieser Vorschrift bei jedem Erwerbsminderungs-rentenbezug vor dem 60. Lebensjahr (Maximal-) Abschläge 10,8% (aber gemildert durch Zurechnungszeit, dazu später). Die Annahme des 4. Senates des BSG in dem Urteil vom 16. Mai 2006, erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres kämen Abschläge überhaupt in Betracht (es handele sich also um die Untergrenze für Abschläge) und vor dem 60. Le-bensjahr seien Abschläge ausgeschlossen, teilt die Kammer nicht. Nach dem § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist die Annahme des BSG, dass es einer (von 1,0 abweichenden) Bestim-mung des Zugangsfaktors erst dann bedürfe wenn das 60. Lebensjahr vollendet sei, unzu-treffend. Tatsächlich muss in jedem Fall zur Berechnung der Rentenhöhe der Zugangsfak-tor bestimmt werden und spricht § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI daher auch von der Bestim-mung "des" (und nicht etwa "eines", wie es dem Verständnis des BSG entspräche) Zu-gangsfaktors.
Nach der Grundregel von § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI bleibt der Zugangsfaktor für diejeni-gen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, maßgeblich. Vor diesem Hintergrund ist dann auch der § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI zu verstehen: Die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebens-jahres des Versicherten gilt nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme. Dieser Rege-lung bedarf es, um § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI z.B. im folgender Konstellation auszu-schließen: Ein Versicherter bezieht für wenige Jahre vor seinem 60. Lebensjahr Erwerbs-minderungsrente (mit Abschlägen, s.o.), dann tritt ein Zwischenzeitraum ohne Rentenbe-zug auf und beginnt schließlich nach dem 60. Lebensjahr eine Altersrente. Für die Bere-chung dieser Altersrente soll (so die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI) nicht mehr der (ungünstige) Zugangsfaktor der Erwerbsminderungsrente maßgebend sein, sondern ein neuer Zugangsfaktor errechnet werden. Es handelt sich also um eine den Versicherten begünstigende Regelung. Mit § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI wird in diesem Zusammenhang verhindert, dass bei zeitlich befristeter Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente in früheren Lebensjahren diese rentenmindernde Wirkung für eine nachfolgende Rente ein-tritt. Dagegen vertritt der 4. Senat des BSG die Ansicht, der Satz 3 bestätige, dass Abschläge erst ab dem 60. Lebensjahr in Betracht kämen. Wäre aber eine vorzeitige Inanspruchnah-me von Renten (um den Preis von Abschlägen) überhaupt erst ab dem 60. Lebensjahr möglich, würde sich ein (aus Sicht der Kammer ersichtlich vom Gesetzgeber nicht gewoll-te) Ergebnis ergeben, dass die Rente bis zum 60. Lebensjahr ohne Abschläge und dann ab dem 60. Lebensjahr mit Abschlägen gewährt werden müsste. In den Gesetzgebungsmate-rialien ist kein Anhaltspunkt ersichtlich, dass es sich hierbei um ein vom Gesetzgeber ge-wolltes Ergebnis handeln könnte. Vielmehr würde dieses Ergebnis, dass mit Vollendung des 60. Lebensjahres eine Minderung der Rente auf Grund einer Kürzung der persönlichen Entgeltpunkt um 10,8 Prozent eintreten würde (es würde also keine neue Erwerbsminde-rungsrente im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI beginnen, sondern die bisherige Rente nur neu berechnet werden), gegen Sinn und Zweck des § 88 SGB VI verstoßen. Der § 88 Abs. 1 SGB VI schützt persönliche Entgeltpunkte, die bereits Grundlage für eine Rente waren, grundsätzlich auch bei Bezug einer späteren Rente. Der im § 88 SGB VI vorgese-hene Entgeltpunkteschutz bewirkt, dass eine spätere Rente grundsätzlich zumindest nicht auf Grund niedrigerer persönlicher Entgeltpunkte gezahlt werden darf. Bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit greift dieser Entgeltpunkteschutz nach § 88 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sogar, wenn zwischen zwei Rentenbezugszeiten weniger als 24 Kalendermonate liegen. Eine Nahtlosigkeit des Rentenbezuges ist nicht erforderlich. Die nach der Lösung des 4. Senates eintretende Minderung der persönlichen Entgeltpunkte während des laufen-den Rentenbezuges nur auf Grund der Vollendung des 60. Lebensjahres würde damit ei-nen wesentlichen systematischen Bruch zu den sonstigen Regelungen des SGB VI darstel-len, die von Vertrauensschutz bei der Zugrundelegung persönlicher Entgeltpunkte zuguns-ten der Versicherten geprägt sind.
Der Satz 3 des § 77 Abs. 2 SGB VI stellt klar, dass Zeiten vor Vollendung des 60. Lebens-jahres hinsichtlich der Berechnung des Zugangsfaktors nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten. Eine inhaltliche Modifikation zu der allgemeinen Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI enthält er gerade nicht. Wäre dies beabsichtigt gewesen, so hätte gesetzestechnisch wesentlich einfacher direkt in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB geregelt werden können, dass eine Verminderung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminde-rungsrenten nur für Rentenbezugszeiten zwischen Vollendung des 60. und 63. Lebensjah-res stattfindet.
Für die Lösung der Kammer sprechen weitere Argumente:
Nach dem Verständnis der Kammer war die Absenkung des Zugangsfaktors Teil eines gesetzgeberischen Gesamtpaketes und wurde durch die Verlängerung der Zurechnungszeit (§ 59 SGB VI) abgemildert. In der Fassung bis zum 31. Dezember 2000 regelte § 59 Abs. 3 SGB VI, dass bei Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit die Zurechnungszeit mit dem Zeitpunkt endet, der sich ergibt, wenn die Zeit bis zum vollendeten 55. Lebens-jahr im vollen Umfang, die darüber hinausgehende Zeit bis zum vollendeten 60. Lebens-jahr zu einem Drittel dem Zeitpunkt des Eintritts der Minderung der Erwerbsfähigkeit hin-zugerechnet wird. In der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung des § 59 Abs. 2 Satz 3 SGB VI endet die Zurechnungszeit mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Durch diese Verlängerung der Zurechnungszeit wird die Wirkung der Minderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres abgemildert. Dieses Zusammenspiel der beiden Regelungen ist von dem Gesetzgeber da-bei ausdrücklich intendiert gewesen (Bundestagsdrucksache 14/4230, Seite 24, 26). Auf-grund des Zusammenwirkens dieser beiden Vorschriften ist es nicht angezeigt, § 77 Abs. 2 SGB VI so zu verstehen, dass eine Minderung des Zugangsfaktors für Rentenbezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht eintritt. Bei diesem Verständnis der Norm wä-re eine gleichzeitige Ausdehnung der Zurechnungszeit und die damit verbundene Besser-stellung gegenüber den vorherigen Berechnungsregelungen nicht geboten gewesen: Würde man dem Verständnis der Regelung des 4. Senates des BSG folgen, würden Erwerbsmin-derungsrentner vor dem 60. Lebensjahr von der Verlängerung der Zurechnungszeit unein-geschränkt (da nach BSG keine Abschläge zu beachten wären) profitieren und wären Er-werbsminderungsrentner, deren Rente nach dem 60. Lebensjahr beginnt, nur mit Abschlä-gen belastet (ohne Kompensation durch eine erweiterte Zurechnungszeit, da diese sich nur bis zum 60. Lebensjahr erstrecken kann). Vorstehendes Ergebnis wäre im höchsten Maße unbefriedigend und mit dem Willen des Gesetzgebers unvereinbar. Nach der Gesetzesbegründung bezweckte der Gesetzgeber, die Höhe der Erwerbsminde-rungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten in der Wei-se anzugleichen, dass diese Renten mit einem Abschlag von höchstens 10,8 % versehen werden (BT-Drs. 14/4230, S. 24). Zwar beginnen Altersrenten nicht vor dem 60. Lebens-jahr. Gleichwohl wird in der Gesetzesbegründung nicht zwischen Versicherten, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, und solchen, die das 60. Lebensjahr nicht vollendet haben, differenziert. Vielmehr wird deutlich, dass auch die Versicherten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahrs eine Rente wegen Erwerbsminderung beziehen, von der Verminderung des Zugangsfaktors erfasst werden. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. a. a. O.) heißt es: "Die Auswirkungen einer solchen Regelung werden dadurch abgemildert, dass die Zeit zwischen dem vollendeten 55. und 60. Lebensjahr (statt wie im geltenden Recht zu einem Drittel) künftig voll als Zurechnungszeit angerechnet wird. ( ...) Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung ergibt sich jedoch bei einem Eckrentner eine gegenüber dem geltenden Recht nur um 3,3 % (Rentenfall bis zum Lebensalter 56 Jahre und 8 Mona-te) bzw. um max. 10,8 % (Rentenfall bei Lebensalter 60 Jahre) niedrigere Rente."
Für dieses Verständnis von § 77 Abs. 2 SGB VI spricht auch die detaillierte Regelung des § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI, der die Erhöhung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor von weniger als 1,0 bei Nichtin-anspruchnahme dieser Rente zwischen Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres re-gelt. Diese Vorschrift ergibt nur einen Sinn, wenn man § 77 Abs. 2 SGB VI so versteht, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung mit Zugangs-faktor mindernder Wirkung grundsätzlich auch bei Inanspruchnahme dieser Rente für Zei-ten vor Vollendung des 60. Lebensjahres vorliegt.
Auch das Rentenversicherungsaltersgrenzenanpassungsgesetz (Gesetz vom 20. April 2007, BGBl. I Seite 554 ff) hat die Kammer in ihrer Rechtsansicht bestärkt: Der § 77 wird geändert werden (Artikel 1 Nr. 23, in Kraft tretend am 1. Januar 2008 nach Art 27 Abs. 1). In der Begründung zum Gesetzentwurf (Bundestagsdrucksache 16/3794) wird auf Seite 36 in wünschenswerter Klarheit dargelegt, dass "die Abschläge bei den Erwerbsminderungs-renten in Höhe von 10,8% entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes (!) und entgegen einer Entscheidung des 4. Senates des Bundessozialgerichtes – Urteil vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R – in allen Fällen vorzunehmen (sind), in denen die Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird".
Das Gericht schließt sich daher im Ergebnis den Entscheidungen des Sozialgerichts Al-tenburg vom 22. März 2007 (S 14 KN 64/07), des Sozialgerichts Aachen vom 9. Februar 2007 (S 8 R 96/06) und vom 20. März 2007 (S 13 R 76/06), des Sozialgerichtes Köln vom 12. April 2007 (S 29(25)R 337/06), des Sozialgerichtes Augsburg vom 23. April 2007 (S 3 R 26/07), des Sozialgerichtes Nürnberg vom 30. Mai 2007 (S 14 R 4013/07), des Sozi-algerichtes für das Saarland vom 08. Mai 2007 (S 14 R 82/07) und des Sozialgerichtes Berlin vom 26. Juni 2007 (S 10 R 2610/06) und 17. Juli 2007 (S 6 R 2423/07) sowie des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 13. Dezember 2006 (L 2 R 466/06 ER) an, ebenso Polster in Kasseler Kommentar, 53. Ergänzungslieferung 2007, § 77 Rn. 21 und Kreikebohm, SGB VI, 2. Auflage 2003, § 77 Rn. 12. Den abweichenden Entschei-dungen des Landessozialgerichtes für das Saarland vom 9. Februar 2007 (L 7 R 40/06) und des Bundessozialgerichtes vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) folgt das Gericht hin-gegen aus den dargestellten Gründen nicht.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Inhalt des § 77 Abs.2 SGB VI nach der hier vorgenommenen Interpretation bestehen aus Sicht der Kammer nicht. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG vor. Das Rentenversicherungsverhältnis ist kein unabänderliches. Es beruht im Unterschied zum Privatversicherungsverhältnis von Anfang an nicht auf dem reinen Versicherungsprinzip, sondern wesentlich auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs. Die Gestaltungsfreiheit des Ge-setzgebers verengt sich jedoch in dem Maße, in dem Rentenanwartschaften durch den per-sonalen Anteil eigener Leistungen der Versicherten geprägt sind, was vor allem in ein-kommensbezogenen Beitragszahlungen Ausdruck findet (so zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2007, Az. 1 BvL 10/00 mit weiteren Nachweisen). Der durch Verminde-rung des Zugangsfaktors bewirkte Eingriff dient dem legitimen Zweck der Verhinderung von Ausweichreaktionen von Altersrenten in Renten wegen verminderter Erwerbsfähig-keit. Unter Berücksichtigung der Anhebung der Zurechnungszeit in § 59 SGB VI ist die Regelung verhältnismäßig. Der Abschlag, den die betroffenen Versicherten hinnehmen müssen, wird durch die Anhebung der Zurechnungszeit sowie Übergangsregelungen kom-pensiert. Die Abschlagsregelung und die erweiterte Anrechnung der Zurechnungszeit ste-hen als "Paketlösung" in einem engen Zusammenhang. Beide Regelungen wurden nicht unmittelbar, sondern gemäß §§ 253a, 264c SGB VI schrittweise eingeführt (Kreikebohm a. a. O., Rn. 13), so dass den Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit Genüge getan ist.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und orientiert sich am Ergebnis der Haupt-sache, da Anhaltspunkte für eine abweichende Kostenentscheidung nicht ersichtlich wa-ren.
Die Revision war gemäß § 161 Abs. 2 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, weil das Gericht von dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht.
Rechtskraft
Aus
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BRB
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