S 91 AS 30717/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
91
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 91 AS 30717/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 B 143/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 2007 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig mit Wirkung vom 05. Februar 2008 für die Dauer von 6 Monaten Leistungen zum Lebensunterhalt sowie Kosten für Unterkunft und Heizung ohne Berücksichtigung weiterer Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 2007 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Kosten für Unterkunft und Heizung ohne Berücksichtigung weiterer Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft zu gewähren,

ist zulässig gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der betreffende Antragsteller das Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruches (Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der begehrten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung).

1. Hiervon ausgehend sind nur für die Zeit ab der Beschwerdeentscheidung des Senats (05. Februar 2008) für die Dauer von 06 Monaten sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch zu bejahen:

Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, dass er ohne sonstige Einkünfte oder sonstiges Vermögen ausgestattet ist und einer sofortigen gerichtlichen Entscheidung zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes bedarf. Darüber hinaus ist für die Zeit ab der Beschwerdeentscheidung des Senats auch ein Anordnungsanspruch zu bejahen. Der Antragsteller erfüllt unstreitig die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II); Hinsichtlich des Fehlens einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 2 bis 3 a SGB II gilt Folgendes:

Zwar bestehen derzeit noch Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller von seiner Ehefrau nicht dauerhaft getrennt lebt und damit mit seiner Ehefrau und seinen Kindern eine Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Absatz 3 Nr. 3 a) und Nr. 4 SGB II bilden könnte.

Andererseits sprechen auch gewichtige Indizien für ein dauerhaftes Getrenntleben, denn der Antragsteller bewohnt seit Monaten eine eigene Wohnung und hat auf diese Weise den behaupteten Willen zum dauerhaften Getrenntleben auch äußerlich deutlich manifestiert. Eine Klärung, ob ein dauerhaftes Getrenntleben gegeben ist, ist erst im Wege eines Verfahrens der Hauptsache möglich. Dies bedeutet, dass das Gericht im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Folgenabwägung vorzunehmen hatte, die durch das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz verlangt wird. Hiernach sind die Folgen, die entstünden, wenn das Gericht dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht stattgäbe, mit den Folgen abzuwägen, die entstünden, wenn das Gericht zu Unrecht den Erlass einer einstweiligen Anordnung ablehnte.

Diese Folgenabwägung muss zugunsten des Antragstellers ausfallen, weil die Folgen einer zu Unrecht unterbliebenen Stattgabe für ihn sehr viel schwerer wögen als die Folgen einer zu Unrecht unterbliebenen Zurückweisung der Beschwerde für den Antragsgegner. Ungeachtet dessen hat der Senat auch berücksichtigt, dass das Sozialgericht Berlin in seinem Beschluss vom 03. Dezember 2007 (Az.: S 43 AS 30106/07 ER) – ebenfalls auf der Grundlage einer Folgenabwägung – dem Antrag der Ehefrau auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Nichtberücksichtigung des Antragstellers in der Bedarfsgemeinschaft aus der Ehefrau und den Kindern stattgegeben hat. In dieser Konfliktlage, in der der Antragsgegner gehalten ist, der Anordnung des Sozialgerichts Berlin Folge zu leisten und den Antragsteller in der Bedarfsgemeinschaft aus Ehefrau und Kindern unberücksichtigt zu lassen, kann den rechtlich schützenswerten Interessen des Antragstellers im Lichte von Art. 19 Grundgesetz effektiv dadurch Rücksicht getragen werden, dass er seinerseits Leistungen ohne Berücksichtigung weiterer Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft erhält.

2. Im Übrigen jedoch war die Beschwerde zurückzuweisen. So war zunächst die einstweilige Anordnung auf einen Zeitraum von 06 Monaten zu befristen, um so auch die Interessen des Antragsgegners angemessen zu berücksichtigen. Darüber hinaus war die Beschwerde aber auch zurückzuweisen, soweit der Antragsteller Leistungen vor dem Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung des Senats begehrt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschlüsse vom 23. Januar 2008, Az: L 25 B 43/08 AS ER, und vom 16. Januar 2008, Az: L 25 B 2274/07 AS ER) beurteilt sich in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO], § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann.

Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen.

Dies zugrunde gelegt, drohen dem Antragsteller keine schweren und unzumutbaren Nachteile, wenn seinem Begehren auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen für vergangene Zeiträume nicht sofort entsprochen wird. Weder aufgrund des Vortrags des Antragstellers noch sonst sind schwerwiegende Nachteile ersichtlich, die ausnahmsweise in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Sachprüfung eines Anspruchs auch für vergangene Zeiträume rechtfertigen könnten.

Schließlich war auch die Beschwerde zurückzuweisen, soweit sie sich gegen die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht richten sollte, denn der Antragsteller besitzt – wie sich aus den folgenden Erwägungen ergibt – einen Anspruch auf vollständige Prozesskostenerstattung gegen den Antragsgegner und ist insoweit nicht bedürftig gemäß §§ 73a SGG, 114 Zivilprozessordnung.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antragsteller mit dem weitaus überwiegenden Teil seines Rechtsschutzbegehrens Erfolg hat.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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