S 195 SO 756/17 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
195
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 195 SO 756/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Im Rahmen des Eilrechtsschutzes ist für die Feststellung des aktuellen Bedarfs an Hilfe zur Pflege der pflegevertraglich vereinbarte Umfang nicht ausschlaggebend.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen der Hilfe zur Pflege ab Zugang dieses Beschlusses per Telefax bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2017, über den durch Bescheid vom 7. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. April 2017 gewährten Umfang hinaus wie folgt zu gewähren:

LK 2 (kleine Körperpflege): 1x täglich
LK 17 (Einsatzpauschale): 1x täglich

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Der Antragsgegner trägt 80 % der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten Prozesskostenhilfe gewährt.

Gründe:

Die Antragstellerin beantragt zuletzt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 18. Mai 2017 bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache über den durch Bescheid vom 7. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. April 2017 gewährten Umfang hinaus wie folgt zu gewähren: einmal täglich LK 2 und einmal täglich LK 17.

Der Antrag ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht sind.

Der Antragstellerin sind Leistungen der Hilfe zur Pflege über das mit Bescheid vom 7. Dezember 2016 gewährte Maß hinaus im tenorierten Umfang aufgrund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05) ausgeführt, dass "Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens (stellt), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären." Das BVerfG führt weiter aus: "Ist dem Gericht ( ) eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern" (BVerfG, a.a.O., m.w.N.).

Die Folgenabwägung fällt vorliegend im tenorierten Umfang zugunsten der Antragstellerin aus. Die Nachteile, die der Antragstellerin entstünden, wenn sie für einen längeren Zeitraum ohne die notwendigen Pflegeleistungen leben müsste, sind sehr viel gravierender als die rein fiskalischen Nachteile der öffentlichen Hand, die entstehen, wenn der Antragstellerin die Leistungen zur Pflege tatsächlich nicht zustehen sollten.

Die Antragstellerin ist unstreitig pflegebedürftig im Sinne des § 61 SGB XII a.F. bzw. § 61a SGB XII n.F, streitig ist nur, ob sie einen Bedarf für Hilfe bei der kleinen Körperpflege am Abend (LK 2) hat oder sie selbstständig durchführen kann. Das Gericht geht aufgrund der genannten Folgeabwägung davon aus, dass die Antragstellerin am Abend Hilfe bei der kleinen Körperpflege benötigt. Laut der Übersicht über die Leistungskomplexe (LK) nach SGB XI (Anlage 1 zur Vereinbarung gem. § 89 SGB XI über die Vergütung ambulanter Pflegedienstleistungen) gehört zum LK 2 (kleine Körperpflege) das An- und Auskleiden sowie das Teilwaschen, die Mund- und Zahnpflege und das Kämmen.

Das Gericht hält es für überwiegend wahrscheinlich, dass im linken Arm der Antragstellerin eine Parese besteht. Im Gutachten des MDK vom 13. Oktober 2016 wird ausgeführt, dass sie den linken Arm nur passiv bis Brusthöhe heben kann und mit diesem weder einen Pinzetten- noch einen Nackengriff durchführen kann. Das Gericht hat zwei Befundberichte eingeholt. Dr. T., ein Facharzt für Immunologie, behandelt die Patientin seit November 2009 mindestens monatlich und führt aus, dass sie eine "unklare Armplexusparese links" ausweist. Er teilt zudem mit: "Die Lähmungserscheinungen im linken Arm sind seit Behandlungsbeginn deutlich sichtbar und auch von Fachkollegen beschrieben. ( ) Die Beschwerden haben seit Jahren kontinuierlich zugenommen und sind jetzt ständig." Dr. S., ein Facharzt für Orthopädie, behandelte die Antragstellein seit März 2016 neun Mal. Er führt aus, die Antragstellerin sei jeweils mit ihrer Pflegerin und im Rollstuhl sitzend vorstellig gewesen, hätte eine Kraft- und Gefühlsminderung in der linken Hand angegeben. Er ergänzt: "schlaffe Parese linker Arm".

Die Gutachterin des MDK empfiehlt aufgrund der genannten Lähmungserscheinungen eine Teilübernahme für die Bereiche "Waschen Oberkörper", "Waschen Hände/Gesicht", "Zahnpflege", "Kämmen" und "Entkleiden gesamt" sowie "Entkleiden Ober-/Unterkörper". In der Individuellen ambulanten Pflegegesamtplanung (IAP) des Beklagten vom 10. Oktober 2016 kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass ein Auskleiden selbständig möglich ist, fügt aber folgende Bemerkung an: "der Antragstellerin wurde empfohlen, in der Häuslichkeit eine bequeme Hauskleidung zu tragen. Der LK2 für den Bekleidungswechsel am Abend ist daher nicht zu empfehlen". Das Gericht kann nicht nachvollziehen, ob damit gemeint ist, dass die "bequeme Hauskleidung" abends nicht abgelegt werden muss, weshalb eine Hilfe beim Ausziehen nicht nötig ist, oder ob die "bequeme Hauskleidung" leichter auszuziehen ist. Dass die Antragstellerin bei jeder Jahreszeit vollständig bekleidet schlafen soll, hält das Gericht nicht für zumutbar, selbst wenn die Kleidung bequem ist. Außerdem wäre die kleine Körperpflege am Abend vollständig bekleidet nicht durchführbar. Da nicht klar ist, wie die Ausführungen zu verstehen sind, kann das Gericht diesen nicht folgen.

Die Befundberichte kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dr. S. führt in seinem Bericht vom 21. Juni 2017 aus, dass das Entkleiden sowie Zähneputzen/Haare kämmen selbständig möglich sei. Die kleine Körperpflege am Abend sei, wenn sie im Sitzen vorgenommen wird, "allein und selbständig durchführbar". Dr. T. hingegen kommt in seinem Bericht vom 25. Juli 2017 zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin "Tätigkeiten, die beider Arme und Hände bedürfen nicht mehr durchführen, also ( ) sich nicht mehr selbst Kleiden und Entkleiden" kann. Weiter führt er aus: "Die Patientin kann sich mit der rechten Hand mit Wasser das Gesicht abreiben. Wenn sie ( ) entkleidet wurde (Fremdhilfe notwendig), kann sie (an mit) der rechten Hand zugängliche(n) Stellen mit einem Waschlappen den Körper abreiben."

Da im Eilverfahren nicht eindeutig ermittelbar ist, ob die Klägerin sich selbständig Entkleiden und die kleine Körperpflege am Abend durchführen kann oder Hilfe benötigt, geht das Gericht im Wege der Folgenabwägung von einem Hilfebedarf für den LK 2 einmal täglich (mit Einsatzpauschale) aus.

Die Kammer hält die Frage, welche Pflegeleistungen vertraglich zwischen der Antragstellerin und dem Pflegedienst wirksam vereinbart worden sind, für die Feststellung, in welchem Umfang die künftigen Leistungen der Hilfe zur Pflege zu bewilligen sind, nicht für relevant (a.A. S 212 SO 910/16 ER). Die Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII wird nach dem im Sozialhilferecht geltenden "Bedarfsdeckungsprinzip" gewährt (vgl. Krahmer/Sommer, in LPK-SGB XII, Vorbemerkung zu §§ 61ff, Rn. 1). Gem. § 9 Abs. 1 SGB XII richten sich die Leistungen der Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Bedarfs, den örtlichen Verhältnissen, den eigenen Kräften und Mitteln der Person oder des Haushalts bei der Hilfe zum Lebensunterhalt. Mit wem der Hilfesuchende in welchem Umfang einen Pflegevertrag zur Umsetzung der Pflegehilfe abgeschlossen ist, ändert nichts an seiner Bedarfslage. Dieser Bedarf ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht durch die Gewährung von Geldleistungen zu decken, die der Bedürftige dann zur Deckung seines Bedarfs gegenüber dem Pflegedienst einsetzen kann, sondern in Anwendung des Sachleistungsprinzips über eine Sachleistungsverschaffung, wobei den Sozialhilfeträger eine Gewährleistungspflicht trifft (BSG, Urteil vom 28. Oktober 2008 – B 8 SO 22/07 R). In extrema müsste der Sozialhilfeträger, sollte ein Hilfesuchender ohne abgeschlossenen Pflegevertrag dem Antragsgegner seine Pflegenotlage mitteilen, seinen Bedarf ermitteln und demensprechend Leistungen der Hilfe zur Pflege bewilligen bzw. verschaffen.

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass das Leistungserbringungsrecht in der Sozialhilfe durch ein sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis geprägt ist. Der Sozialhilfeträger muss, wenn es um die Erstattung der Kosten der geleisteten Pflege in der Vergangenheit geht, nur die Vergütung übernehmen, die der Hilfeempfänger vertraglich der Einrichtung bzw. dem Pflegedienst, der ihm Leistungen erbringt, schuldet und tritt damit (lediglich) einer bestehenden zivilrechtlichen Schuld (als Gesamtschuldner) bei (vgl. BSG, Urteil vom 28. Oktober 2008 – B 8 SO 22/07 R). Allerdings geht es vorliegend nicht um die Erstattung von entstandenen Pflegekosten sondern um die Feststellung des aktuellen Bedarfs der Antragstellerin. Bei der Ermittlung dieses aktuellen Bedarfs ist der Antragsgegner keinesfalls an den Umfang des Pflegevertrags gebunden. Sollte der Antragsgegner einen höheren Bedarf ermitteln, kann er mit seiner Leistungsbewilligung über den im Pflegevertrag festgelegten Pflegeumfang hinausgehen. Ob der Pflegevertrag wirksam und in welchem Umfang er abgeschlossen wurde, ist dann im Rahmen der Kostenerstattung zu prüfen.

Die zeitliche Begrenzung der Verpflichtung folgt hinsichtlich des Beginns daraus, dass die streitigen Leistungen nicht nachholbar sind. Daher war nicht für die Vergangenheit sondern ab Zustellung des Beschlusses zuzusprechen. Die Bewilligung bis Ende Dezember 2017 hält das Gericht für ausreichend, um die Notlage vorübergehend auszugleichen.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG. Die Kammer hat berücksichtigt, dass der Antrag hinsichtlich der für die Vergangenheit beantragten Leistungen abgelehnt wurde. Außerdem wurde er zeitlich unbefristet gestellt, das Gericht hat aber eine Befristung bis Ende des Jahres für sachgerecht gehalten.
Rechtskraft
Aus
Saved