S 26 AL 445/05

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
26
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 26 AL 445/05
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Seit dem 1. Januar 2004 wird Überbrückungsgeld ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachweisbaren oder nachzuweisenden Bedarf pauschal in Anlehnung an die zuletzt nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogene Entgeltersatzleistung (vgl. § 57 Abs. 5 SGB III) gewährt. Die in § 57 Abs. 1 SGB III enthaltene Formulierung \"zur Sicherung des Lebnsunterhaltes und der sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung\" beinhaltet keine eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2004 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2004 werden aufgehoben.
2. Die Beklagten wird dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Überbrückungsgeld ab 15. April 2004 zu gewähren.
3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Überbrückungsgeld (Übg) für die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit ab 15. April 2004 zusteht.

Die am 17. Oktober 19 ... geborene Klägerin bezog zuletzt seit 17. März 2004 Arbeitslosengeld nach einem wöchentlichen gerundeten Bemessungsentgelt von 320 EUR in der Leistungsgruppe A/0.

Am 14. April 2004 beantragte sie die Gewährung von Übg zur Aufnahme einer selbständi-gen Tätigkeit (Führen eines Gastronomiebetriebes in ...). Sie legte die Gewerbeanmeldung für die " ..." ab 15. April 2004 sowie eine fachkundige Stellungnahme eines Steuerberaters vor. Die Klägerin ist alleinige Gesellschafterin und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreite Geschäftsführerin der GmbH. Gemäß Arbeitsvertrag vom 15. April 2004 stand der Klägerin als Geschäftsführerin eine monatliche Bruttovergütung von 3 000 EUR zu. Die endgültige Erlaubnis nach § 2 GastG erteilte die Große Kreisstadt ... am 24. Juni 2004.

Mit Bescheid vom 30. Juni 2004 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Übg ab. Die Klägerin habe monatliche Einkünfte von ca. 3 000 EUR. Somit sei ihr Lebensunterhalt während der Anlaufphase der selbständigen Tätigkeit gesichert, so dass ein Anspruch auf Übg entfalle.

Hiergegen legte die Klägerin am 19. Juli 2004 Widerspruch ein. Sie habe sich als geschäftsführende Gesellschafterin ein Gehalt festlegen müssen, das aber – vor allem im ersten Geschäftsjahr – reine Formsache sei. Zudem sei ihr Bruttogehalt ab 1. Juli 2004 auf 1 000 EUR monatlich gesenkt worden, da das prognostizierte Betriebsergebnis in der Anlaufphase nicht erwirtschaftet werden konnte. Die Klägerin legte den geänderten Ge-schäftsführervertrag sowie Gehaltsabrechnungen für Mai bis November 20004 vor.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 28. Dezember 2004 zurück. Die Klägerin sei ab Beginn der selbständigen Tätigkeit in der Lage, ihren Lebensunterhalt und ihre soziale Sicherung einkommensmäßig selbst zu bestreiten, so dass die Gewährung von Übg nicht notwendig sei. Bei gleichzeitiger Zahlung von Gehalt und Übg sei die Klägerin ungerechtfertigt gegenüber Existenzgründern bevorteilt, denen kein Gehalt gezahlt werde. Das Gehalt sei zudem höher als das zu erwartende Übg.

Hiergegen richtet sich die am 31. Januar 2005 zum SG Leipzig erhobene Klage. Das SG Leipzig hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 21. April 2005 an das örtlich zuständige SG Chemnitz verwiesen. Die Klägerin trägt vor, alle persönlichen und vorhabenbezogenen Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen. Eine Zweckbindung zur Sicherung des Lebensun-terhalts sei entgegen der Auffassung der Beklagten keine Voraussetzung für die Gewährung von Übg. Dies würde dazu führen, dass die von der Klägerin gewählte gesellschafts-rechtliche Konstellation generell von der Gewährung des Übg ausgeschlossen wäre. Ein Existenzgründer könnte sich niemals selbst als Geschäftsführer einsetzen, da er dann Ge-halt beziehen würde, dass den Anspruch nach Ansicht der Beklagten ausschließen würde.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2004 in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 28. Dezember 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin das beantragte Übergangsgeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide und ist insbesondere der Auffassung, dass Übg nach § 57 SGB III eine zweckbestimmte Sozialleistung sei. Dies habe der Gesetzgeber mit der Gesetzesformulierung zum Ausdruck gebracht. Der Personenkreis der Anspruchsbe-rechtigten sei dadurch deutlich eingeschränkt.

Der Kammer liegen die Verwaltungsakte und die Verfahrensakte vor, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).

Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2004 und der Wider-spruchsbescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2004 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Die Klägerin hat dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) Anspruch auf Übg ab Aufnahme der selbständigen Beschäfti-gung am 15. Juni 2004.

Nach § 57 Abs. 1 SGB III (in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung) haben Arbeitneh-mer, die durch Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden oder vermeiden, zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf Überbrückungsgeld. Überbrückungsgeld wird u.a. geleistet, wenn der Arbeitnehmer in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Auf-nahme der selbständigen Tätigkeit einen Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III hatte und zur Tragfähigkeit der Existenzgründung die Stellungnahme einer fach-kundigen Stelle vorgelegt hat; fachkundige Stellen sind insbesondere die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, berufsständische Kammern, Fachverbände und Kreditinstitute (§ 57 Abs. 2 Nr. 2 SGB III). Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin bezog mindestens bis zur Aufnahme der selbständigen Tätigkeit Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung. Die Stellungnahme eines Steuerberaters als geeignete fachkundige Stelle zur Tragfähigkeit des Unternehmens lag vor. Ruhenstatbestände nach §§ 143, 143a SGB III lagen ebenso wenig wie die Voraussetzungen für eine Minderung des Arbeitslosengeldes nach § 140 SGB III (in der 2004 geltenden Fassung) vor.

Soweit die Beklagte die Voraussetzungen für die Gewährung des Überbrückungsgeldes abgelehnt hat, weil die Klägerin diese Leistung nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes oder zur sozialen Sicherung bedürfe, widerspricht diese Auslegung der vom Gesetzgeber vorgegebenen und vom Gericht nicht auf ihre sozialpolitische Sinnhaftigkeit zu untersu-chenden Gesetzeslage. Das streitige Überbrückungsgeld wird ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal in Anknüpfung an den zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldbetrag (vgl. § 57 Abs. 5 SGB III) gezahlt. Die in § 57 Abs. 1 SGB III enthaltene Formulierung "zur Sicherung des Lebensunterhaltes und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung" beinhaltet mithin keine eigen-ständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielset-zung der gesetzlichen Regelung (so auch Stark in PK-SGB III, 2. Aufl. 2004, § 57 Nr. 1 bereits zur bis 31. Dezember 2003 geltenden Fassung). In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 13/4941 S. 163 f.) zu § 57 SGB III heißt es dementsprechend: "Die Benennung des Leistungszwecks in Absatz 1 verdeutlicht lediglich die Zielsetzung des arbeitsmarktpoliti-schen Instruments Überbrückungsgeld, nämlich als Leistung zur Sicherung des Lebensun-terhaltes und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung und grenzt diese Leistung, die als Zuschuss gezahlt wird, etwa gegen Investitionszuschüsse ab." In der bis 31. Dezember 2003 geltenden Gesetzesfassung konnte der Zweck der Leistung zwar im Rahmen der Ermessensentscheidung über das "Ob" der Leistung berücksichtigt werden. Ab dem 1. Januar 2004 steht die Leistungsgewährung freilich nicht mehr im Ermessen der Beklagten. Eine "Bedürftigkeitsprüfung" – anhand welcher Maßstäbe auch immer -, findet nicht statt (vgl. auch Winkler, in: Gagel, SGB III, Stand Juni 2006; § 57 Rn. 10). Der Ge-setzgeber wollte den Betroffenen gerade mehr Rechtssicherheit verschaffen (BT-Drs. 15/1515 S. 81). Dieses Ziel würde durch die Auslegung der Beklagten allerdings geradezu konterkariert.

Mit der Feststellung, dass alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, steht zugleich fest, dass ein Geldbetrag an die Klägerin zu zahlen ist. Die Höhe des Übergangsgeldes richtet sich nach § 57 Abs. 5 SGB III in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsa-che.

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung statthaft (§§ 105, 143 f. SGG), da der Wert des Beschwerdegegenstandes 500 EUR übersteigt ((§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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