S 16 (18) U 62/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 16 (18) U 62/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 78/07
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Umstritten ist zwischen den Beteiligten, ob bei der Klägerin eine Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) vorliegt und sie deshalb Entschädigungen beanspruchen kann.

Die 1948 geborene Klägerin war vom 01.01.1992 bis zum 06.09.1995 als chemisch-technische Assistentin in der Prüfstelle für Baustoffe beim S1 T in E tätig. Unter dem 21.08.1995 zeigte der Betriebsarzt des Landschaftsverbandes Rheinland C1 dem Beklagten den Verdacht auf eine Berufskrankheit an: Die Klägerin leide u. a. an Sehstörungen und Lähmungserscheinungen in den Händen, die sie auf berufliche Einwirkungen von Lösemitteln zurückführe. Die Klägerin teilte dazu mit, seit 1995 an einer metabolischen Encephalopathie zu leiden, bereits im Frühjahr 1992 habe sie rauschartige Zustände nach Arbeiten mit CH2CL2.gehabt. Der Beklagte zog daraufhin Befundberichte von den behandelnden Ärzten bei. L berichtete von cerebrovasculäre Insuffizienzen und pektaginösen Beschwerden sowie von einer chronischen rezidiverenden Emphysembronchitis, einer rezidivierenden Pankreatitis, einer erosiven Gastritis und einer Refluxösofaphitis (Bericht vom 26.10.1995). C1 äußerte, die Klägerin sei vom 04.07. bis zum 01.08.1994 in Behandlung wegen starker psychischer Belastungen und daraus resultierender neurovegetativer Beschwerden gewesen. Letztendlich sei ein banaler Infekt der oberen Luftwege behandelt worden. Weiter heißt es "unsere ärztlichen Diagnosen standen im krassen Gegensatz zu den Kausalitätsbedürfnissen dieser besonders schwierigen Patientin" (Bericht vom 01.11.1995). In einem Arztbrief vom 20.07.1995 von N-I ist von einem Verdacht auf rückläufige metabolische Encephalopathie die Rede. Klinisch-neurologisch habe sich kein pathologischer Befund ergeben. Es sei von einer vorübergehenden Verschlechterung der kognitiven Belastungsfähigkeit der Klägerin auszugehen. In einem Bericht vom 30.10.1995 äußerte X Anhaltspunkte für eine Makroangiopathie fänden sich nicht. Es bestünde der Verdacht auf neurogene Beschwerden. Sodann schaltete der Beklagte seinen Technischen Aufsichtsdienst ein, der ausführte, bei Durchführung physikalischer Untersuchungen, die ca. 60 bis 70 % des Zeitvolumens ausgemacht hätten, seien für Reinigungs- und Extraktionsarbeiten bis zu 20 Liter Toluol pro Tag verbraucht worden. Bei der Durchführung von Teeruntersuchungen sei bis 1994 als Lösemittel Methylenchlorid und sodann Toluol verwandt worden. Die Einsatzmengen dieser Chemikalien hätten täglich zwischen ein- bis 15 Liter geschwankt. Von Mitte 1994 an habe die Klägerin etwa die Hälfte ihrer Tätigkeiten an einen Kollegen abgegeben, da sie starke gesundheitliche Probleme bekommen habe. Dafür sei sie in der Infrarotspektroskopie tätig geworden und habe zusätzlich Umgang mit Markierungsfarben, Epoidharzen und Epichlorhydrin gehabt. Aufgrund der dabei verwandten Kleinstmengen sei nicht von einer zusätzlichen gesundheitsschädlichen Exposition auszugehen. Messungen am 20.11.1996, die während laufender Routinearbeiten durchgeführt worden seien, hätten einen Maximalwert von 2,4 mL Tuol pro Kubikmeter Luft am Arbeitsplatz ergeben. Damit sei der Grenzwert (MAK-Wert) von 50 ml/m3 nicht erreicht worden. Den beigezogenen Protokollen der Landesanstalt für Arbeitsschutz über Gefahrstoffmessungen am 09.11.1994, 02.12.1994 und 06.05.1996 ist zu entnehmen, dass die Toluolkonzentration an keinem Arbeitsplatz der Prüfstelle die Hälfte des gültigen MAK-Wertes überschritten hat. Lediglich in der Spülküche wurde am 06.05.1996 eine Tulol-Konzentration von 54,7 ppm gemessen. Dazu wird ausgeführt, es handele sich hier um keinen Dauerarbeitsplatz, da die Mitarbeiter eigenen Angaben zufolge in der Spülküche lediglich zwei- bis dreimal die Woche für jeweils eine Stunde beschäftigt gewesen seien. Nachdem der die Klägerin behandelnde Nervenarzt C2 unter dem 06.12.1995 von einer Polyneuropathie, eine Myopathie und davon berichtet hatte, bei der Klägerin bestünde ein Verdacht auf Leistungs- und Wesensänderung nach mehreren Jahren Exposition gegenüber toxischen Stoffen im Labor für Arbeitsstoffe, holte der Beklagte ein Zusammenhangsgutachten von S2 ein. Dieser kam zu dem Ergebnis bei der Klägerin lägen toxisch ausgelöst eine Polyneuropathie sowie ein leichtes organische Psychosyndrom vor, die dadurch bedingte MdE sei mit 30 vom Hundert einzuschätzen (Gutachten vom 19.01.1998). Sodann holte die Beklagte ein weiteres Zusammenhangsgutachten von dem Dipl.-Chemiker M ein: Dieser meinte, die bei der Klägerin beschriebenen Befunde seien in ihrer Ausprägung, der Art und dem zeitlichen Verlauf nicht stimmig mit der Höhe der Exposition vor allem gegenüber Methylenchlorid und Tulol. Eine Berufskrankheit liege mit der vom Gesetzgeber geforderten Wahrscheinlichkeit nicht vor (Gutachten vom 10.08.1998). Auf dieser medizinischen Grundlage lehnte der Beklagte die Feststellung und Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV ab (Bescheid vom 23.11.1998). Der Widerspruch der Klägerin war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20.10.2004).

Mit ihrer am 02.12.2004 bei Gericht eingegangenen Klage bezieht sich die Klägerin im Wesentlichen auf das Gutachten von S2 sowie den Arztbrief von C2. Darüber hinaus - meinte sie - unterschlage der Beklagte Protokolle über Messungen, die vor dem 09.01.1994 vorgenommen worden seien. Messprotokolle zur Erfassung von Methylenchlorid lägen ebenfalls nicht vor. Diese Messungen seien deshalb von Bedeutung, weil Methylenchlorid in Wechselwirkung mit dem Stoff Toluol zu einer erheblich größeren Schädigung führe. Es trete ein sog. Additionseffekt ein. Ebenso seien nicht sämtliche Stoffe erfasst, die einen sog. BK-Wert hätten. Auch hier werde der Additionseffekt schlicht weg unterschlagen. Die Messwerte seien auch insoweit manipuliert als der Toluolwert nur in kaltem Zustand erfasst worden sei. Tatsächlich hätten die Bediensteten mit erhitztem Toluol arbeiten müssen. Auffallend sei ferner, dass nach Feststellung eines Höchstwerts von Toluol keine weitere Kontrollmessungen durchgeführt worden seien.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 23.01.1998 in der Form des Widerspruchsbe- scheides vom 20.10.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an sie, die Klägerin, wegen Intoxikation am Arbeitsplatz eine Entschädigung zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat versucht von der Landesanstalt für Arbeitsschutz etwaige Messprotokolle für den Zeitraum vor dem 09.01.1994 beizuziehen. Laut Auskunft der Landesanstalt liegen jedoch keine Protokolle vor dem 09.01.1994 vor.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf die Gerichtsakten und die Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Gemäß § 123 SGG geht die Kammer davon aus, dass das Klagebegehren auf Feststellung und Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV gerichtet ist. Die Klägerin bezieht sich auf den Bericht von C2 und das Gutachten von S2. Beide Ärzte beschreiben Krankheitsbilder, die von der Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV erfasst werden. Im Übrigen ist die Feststellung nur dieser Berufskrankheit Gegenstand des angefochtenen Bescheides vom 23.01.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2004. Die Klage ist unbegründet eine durch den berufsbedingten Umgang mit organischen Lösungsmitteln oder deren Gemische verursachte Polyneuropathie oder Encephalopathie (Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV liegt bei der Klägerin nicht vor. Sie kann deshalb auch keine Entschädigung beanspruchen. Zwar ist der von dem Beklagten gehörte Gutachter S2 gegenteiliger Ansicht. Er hat vorgeschlagen, eine berufskrankheitsbedingte MdE um 30 vom Hundert anzunehmen. Diesem Vorschlag kann jedoch nicht gefolgt werden. Davon hat sich die Kammer insbesondere aufgrund der Darlegungen von M überzeugt. Danach ist die von S2 beschriebene neurotoxische Polyneuropathie ebensowenig wie das von ihm beschriebene toxischbedingte leichte organische Psychosyndrom medizinisch gesichert. Diese Krankheitsbilder sind daher nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen. Schon deshalb kann im vorliegenden Fall keine Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV festgestellt werden. Nach ständiger Rechtsprechung müssen nämlich die Krankheit (und die arbeitsbedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich ihrer Art und ihres Ausmaßes) im Sinne des Vollbeweises also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein. Lediglich für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht reicht grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - aus. M hat darauf hingewiesen, dass die von S2 erhobenen Befunde nicht ausreichen, eine Polyneuropathie anzunehmen. Zwar hat S2 eine herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus tibialis und des Nervus peroneus festgestellt. Seinem Gutachten kann jedoch nicht entnommen werden, dass er bei der Bewertung dieses Befundes die Temperatur (Körper, Umgebung) und das Alter der Klägerin berücksichtigt hat. Auch ein Hinweis auf die Untersuchungsmethode fehlt. Der Verweis von S2 auf "Normwerte" reicht nicht aus, eine Polyneuropathie feststellen zu können. Darüber hinaus deutet eine Verschlechterung der Nervenleitgeschwindigkeit in der Zeit von 1996 bis 1997, also nach Expositionsende (1995) darauf hin, dass - sofern man die Diagnose einer Polyneuropathie unterstellt - diese nicht durch toxische Einwirkungen am Arbeitsplatz verursacht worden ist. In dem Merkblatt zur Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV heißt es ausdrücklich, die lösungsmittelbedingte Polyneuropathie entwickele sich in der Regel in engen zeitlichen Zusammenhang mit der beruflichen Lösungsmittelexposition, nur vereinzelt seien Krankheitsverläufe beobachtet worden, bei denen es zwei bis drei Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu einer Verschlechterung der Bewegungsfähigkeit gekommen sei. Darüber hinaus lässt sich eine toxische Encephalopathie nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Die Auffassung von S2 bei der Klägerin liege eine Hirnschädigung vor, weil sie 5 Zahlen nicht nachsprechen könne, ist nicht plausibel. Die Feststellung einer organischen Hirnschädigung im Sinne einer Encepahlopathie setzt testpsychometrische Untersuchungen vorraus. Solche, umfangreichen psychologischen "Testbatterien" sind von der Klägerin nicht absolviert worden. Das fehlerhafte Aufzählen von 5 Zahlen reicht jedenfalls nicht aus, um eine Encephalopathie vom Schweregrad 1 anzunehmen. Auch die Befunde zweier 1995 vorgenommener Hirn-SPECT-Untersuchungen sind nicht geeignet, eine toxische Encephalopathie zu belegen. Solche Untersuchungen ergeben nur in Verbindung mit strukturabbildenden Verfahren Hinweise auf neurotoxische Ursachen. Entgegen der Auffassung von S2 reicht das Ergebnis der SPECT-Untersuchungen zum Nachweis einer etwaigen Hirnschädigung der Klägerin nicht aus. M hat darauf hingewiesen, dass der untersuchende Arzt N-I zu Recht die Ergebnisse der SPECT-Untersuchungen in Relation zum klinischen Befund gesetzt und geäußert hat, klinisch-neurologisch liege kein patholoscher Befund vor. Anders als S2 hat auch N-I die Auffassung vertreten, die Hirn-SPECT-Untersuchungen zeigten eine diffuse Perfusionsstörung, die allerdings bei angegebenen passageren Defiziten nicht als spezifisch anzusehen sei. Darüber hinaus lässt sich ein Zusammenhang der von S2 beschriebenen Krankheitsbilder mit der Arbeitsplatzbelastung der Klägerin durch Toluol und Methylenchlorid schon deshalb nicht herstellen, weil die nachweisbaren Belastungen am Arbeitsplatz der Klägerin zu gering gewesen sind: Es ist nicht beweisbar, dass die MAK-Werte überschritten worden sind. Messergebnisse zu Toluol haben eine Luftkonzentration von 2,4 ml/m3 ergeben. Der arbeitsmedizinische Grenzwert für Tulol beträgt demgegenüber 50 ml/m3. Es kann deshalb - darauf hat M hingewiesen - davon ausgegangen werden, dass nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand auch bei wiederholter und langfrister, in der Regel achtstündiger Exposition bei Einhaltung einer durschnittlichen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden Gesundheitsgefahren nicht bestanden haben. Zur Expostionshöhe von Methylenchlorid liegen zwar keine Messergebnisse vor. Bei vergleichbaren Umgangsmengen und Arbeitsmethoden (Extraktion (Auflösen), aber einem im Vergleich zu Toluol erhöhtem Dampfdruck ist - so M - zwar eine höhere Raumluftkonzentration zu erwarten, da jedoch der MAK-Wert für Methylenchlorid mit 100 ml/m3 und 350 mg/m3 mehr als doppelt so hoch ist als bei Toluol ist die Schlussfolgerung möglich, dass auch für Methylenchlorid mit Wahrscheinlichkeit keine regelmäßige Überschreitung des arbeitsmedizinischen Grenzwerts bestanden hat. Selbst wenn die Messergebnisse - wie die Klägerin meint - ihre Belastungssituation nur unzureichend wiederspiegelen, lässt es sich deshalb nicht mit der erforderlichen Sicherheit beweisen, dass sie Toluol und Methylenchloridkonzentrationen in gesundheitschädigendem Ausmaß ausgesetzt gewesen ist. Die Last des nicht erbrachten Beweises von anspruchsbegründenden Tatsachen trägt aber auch im sozialgerichtlichen Verfahren stets derjenige, der aus der behaupteten, aber nicht beweisbaren Tatsache Rechte herleiten will. Das ist hier die Klägerin.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved