Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AS 1258/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 10.04.2012 gegen den Bescheid vom 12.03.2012 wird angeordnet. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlich erstattungsfähigen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
I. Zwischen den Parteien ist streitig der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.
Der Antragsteller ist spanischer Staatsbürger und stand bei dem Antragsgegner im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II.
Er beantragte im Dezember 2010 erstmals Grundsicherungsleistungen, welche dem Antragsteller seitens des Antragsgegners mit Bescheid vom 12.01.2011 (Bl. 38 d. VA) auch gewährt wurden. Bereits bei Antragstellung wurde der Antragsteller allerdings darauf hingewiesen, dass die Leistungen höchstens für einen Zeitraum von sechs Monaten gewährt werden könnten. Aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.10.2010 (Az.: B 14 AS 23/10) wurden dem Antragsteller jedoch auch über diesen Zeitraum hinaus mit Bescheid vom 02.01.2012 Leistungen für die Zeit vom 01.02.2012 bis zum 31.07.2012 i.H.v. monatlich 343,67 EUR bewilligt. Im Dezember 2011 und mit Wirkung zum 23.02.2012 erklärte die Bundesregierung einen Vorbehalt gegen die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an Bürger von Vertragsstaaten des "Europäischen Fürsorgeabkommens" (EFA).
Aufgrund dessen hob der Antragsgegner den Bewilligungsbescheid vom 02.01.2012 mit streitgegenständlichem Bescheid vom 12.03.2012 für den Zeitraum vom 01.04.2012 bis zum 31.07.2012 teilweise auf. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, dass der Antragsteller als spanischer Staatsangehöriger gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch.
Zudem hat der Antragsteller bei dem erkennenden Gericht um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 10.04.2012 gegen den Bescheid vom 12.03.2012 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner ist der Auffassung, dass der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt hinsichtlich der Reglungen des EFA den Ausschluss der Leistungen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 im vorliegenden Sachverhalt rechtfertige. Dieser sei auch europarechtskonform, womit es nicht darauf ankomme, ob sich der Antragsteller nur zum Zweck des Leistungsbezugs oder auch zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Insoweit bestehe eine Weisungslage des Antragsgegners.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist als Anordnung der aufschiebenden Wirkung des vom Antragstellers unter dem 10.04.2012 eingelegten Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom 12.03.2012 gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) statthaft. Danach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (Satz 1). Ist im Zeitpunkt der Entscheidung der Verwaltungsakt schon vollzogen, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (Satz 2).
Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben der Widerspruch und die Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, keine aufschiebende Wirkung. Ein solcher - unter § 39 SGB II fallender - Sachverhalt ist vorliegend gegeben.
Der Antrag ist auch begründet.
Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage sieht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht vor. Das Gericht entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgesetzbuch Kommentar, 9. Aufl. 2008, § 86b, Rn. 12).
Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Das vom Gesetzgeber in § 39 SGB II angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Bedeutung, dass der Antragsgegner von der ihm nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen. Das Gesetz unterstellt den Sofortvollzug keineswegs als stets, sondern nur als im Regelfall geboten und verlagert somit die konkrete Interessenbewertung auf Antrag des Antragstellers in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Daraus folgt zugleich, dass im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragsgegners umso höher sind, je höher die Erfolgsaussichten des Antragstellers sind (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rn. 12c ff.).
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X (Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ein Bewilligungsbescheid ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, denn er erschöpft sich nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage, sondern begründet inhaltlich ein auf Dauer berechnetes und in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis. Wesentlich ist die Änderung, soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt nach den nunmehr eintretenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG, 19.02.1986, 7 RAr 55/84).
Der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt stellt keine wesentliche Änderung der Sach- und/oder Rechtslage i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X dar, da an dessen Wirksamkeit und an der Verfassungsmäßigkeit des – nach Erklärung des Vorbehalts ggf. wieder anwendbaren – § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nach Auffassung des Gerichts erhebliche Zweifel bestehen, womit das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse des Antragsgegners im vorliegenden Fall überwiegt,
Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben bzw. die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.
Der Antragsteller ist Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und noch nicht die Altersgrenze erreicht, ist erwerbsfähig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD. Der Antragsteller ist auch hilfebedürftig gemäß § 9 Abs. 1 SGB II. Er verfügt über kein Einkommen und Vermögen.
Dass der Antragsteller sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt (vgl. Bl. 10 d. GA). Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift (" über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU). Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010 – Az.: B 14 AS 23/10 R).
Der Antragsteller ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).
Der Antragsteller hat erstmals im Dezember des Jahres 2010 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II beantragt und hält sich seitdem bereits länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf.
Ob dem Anspruch des Antragstellers – nach Erklärung des Vorbehalt der Bunderegierung gemäß Art. 16 lit. b) EFA – die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, ließ sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren jedoch nicht abschließend feststellen.
1. Nach Auffassung des BSG gilt der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II zunächst nicht für Unionsbürger, die unter den Anwendungsbereich des "Europäischen Fürsorgeabkommens" (EFA) fallen. Dazu führt das BSG in seinem Urteil vom 19.10.2010 (aaO) aus:
Er [ der Kläger ] ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (dazu unter a). Denn dieser Leistungsausschluss ist auf den Kläger als Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) nicht anwendbar (dazu unter b).
[ ]
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist allerdings hier deswegen nicht anwendbar, weil der Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369, 373 ff; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 14.1.2010 - L 14 AS 1565/09 B ER - juris; SG Berlin Urteil vom 25.3.2010 - S 26 AS 8114/08 - juris; Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 7 RdNr 35; Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II RdNr 128, Stand Juni 2010; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2008 - L 5 B 801/08 AS ER - juris; SG Reutlingen Urteil vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 - juris; Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a; offen gelassen von LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 26.2.2010 - L 6 B 154/09 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16.7.2008 - L 19 B 111/08 AS ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.1.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 30.5.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris).
Nach Art 1 des Abkommens, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (und daneben Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien) unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.
Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht (dazu unter aa), dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (dazu unter bb). Darüber hinaus steht seiner Anwendung nicht entgegen, dass inzwischen an die Stelle des Abkommens europäisches Koordinationsrecht getreten wäre (dazu unter cc). Auch liegen im Einzelnen die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EFA (dd).
Im vorliegenden Fall ist der Antragsteller als spanischer Staatsbürger mithin grundsätzlich unter den subjektiven Schutzbereich des EFA zu fassen.
Mit Wirkung vom 23. Februar 2012 hat die Bundesregierung allerdings von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach Art. 16 lit. b) EFA hinsichtlich der Geltung des SGB II einen Vorbehalt zu erklären. Danach ist die Anwendbarkeit des EFA auf Personen, die Staatsangehörige der anderen Vertragschließenden sind und die in Deutschland Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nachsuchen, nach dem Willen der Bundesregierung nicht (mehr) gegeben.
Das BSG (aaO, Rz. 35) führt zu der ursprünglichen Rechtslage noch wie folgt aus:
Die Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten abgegeben (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA). Nach dem bislang abgegebenen Vorbehalt übernimmt die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung, die im BSHG "in der jeweils geltenden Fassung" vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (vgl § 30 BSHG) und die dort vorgesehene Hilfe zur Überwindung besonderer sozialen Schwierigkeiten (vgl § 72 BSHG) an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, ohne gleichwohl auszuschließen, dass diese Hilfen in geeigneten Fällen gewährt werden können (vgl Neubekanntmachung des Anhangs II zum EFA, BGBl II 2001, 1098). Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob dieser Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) mit Wirkung vom 1.1.2005 "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung anzuwenden ist. Denn bereits im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG hatte sich die Bundesrepublik gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten vorbehalten. Mit der Regelleistung nach § 20 SGB II beansprucht der Kläger aber alleine eine solche, den Lebensunterhalt sichernde, Hilfe.
Insoweit unterliegt der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt hinsichtlich der Rechtsmäßigkeit nach der Auffassung der erkennenden Kammer weitreichenden Bedenken.
Bei dem "nachträglichen" Vorbehalt handelt es sich nach Auffassung des Gerichts nicht um einen echten Vorbehalt, sondern ggf. um eine verdeckte Teilkündigung des Abkommens gemäß Art. 24 EFA. Vorbehalte schränken sinnlogisch lediglich die Bereitschaft ein, eine noch nicht bestehende Verpflichtung zu übernehmen. Sie wirken nicht auf bereits bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen ein und können daher grundsätzlich – sofern der Vertrag keine entsprechende Möglichkeit eröffnet – nicht "nachträglich" erklärt werden. Da es im EFA gemäß Art. 16 lit. b EFA nur eine Spezialregelung für die Einschränkung der Bereitschaft, neue Sozialleistungen dem Anwendungsumfang des EFA zu unterwerfen, gibt, setzt die Zulässigkeit des Vorbehalts voraus, dass es sich bei der SGB-II-Leistung – Grundsicherung für Arbeitssuchende – um neue Fürsorgeleistungen handelt. Hieran fehlt es. Bis Ende 2011 waren die Leistungen nach dem SGB II gar nicht im Anhang zum EFA aufgeführt. Dies war auch nicht notwendig, da die Aufnahme einer Leistung in den Anhang nicht konstitutiv erforderlich ist, um den Anwendungsbereich des EFA zu eröffnen. Die Vertragsstaaten sollen nach Art. 16 lit. b) EFA zwar entsprechende Mitteilungen über Neuregelungen machen, diese sind aber rein deklaratorisch. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Leistungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch als "Nachfolgegesetz" des BSHG (Bundessozialhilfegesetz) im Wege eines Automatismus an die Stelle der Regelungen des BSHG treten, womit der eindeutige Wortlaut des Art. 16 lit. b EFA nicht erfüllt ist.
Dort heißt es: "Jeder Vertragschließende hat dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen." Insoweit ergibt sich im Rahmen einer systematischen Auslegung, dass sich das Wort "neuen" nicht auf die (erstmalige) Aufnahme der Leistungen in den Anhang des EFA bezieht, sondern auf den Erlass der Rechtsvorschriften nach Abschluss des Fürsorgeabkommens. Wenn man der Argumentation der Kammer folgt, dass das SGB II im Grundsatz lediglich die Nachfolge des BSHG angetreten hat, so muss man zu dem Schluss kommen, dass das BSHG und damit auch das soziale Leistungssystem des SGB II im Grundsatz bereits bei Abschluss des Europäischen Fürsorgeabkommens existent – und damit im Zeitpunkt des erklärten Vorbehalts nicht "neu" – waren.
2. Die obigen Überlegungen können jedoch dahinstehen, da der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nach der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer Bedenken hinsichtlich der Europarechtskonformität eröffnet (SG Düsseldorf, Beschluss v. 09.06.2010 – Az.: S 10 AS 2097/10 ER).
Der Antragsteller kann sich als spanischer Staatsangehöriger auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 AEU-Vertrag (= früher Art. 39 EG-Vertrag) berufen. Er bedarf hierfür nicht mehr der Genehmigung gemäß § 284 SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Mehrere Gesichtspunkte sprechen dafür, dass diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.
a) Fraglich ist bereits, ob der Tatbestand dieser Vorschrift erfüllt ist, insbesondere ob der Antragsteller nicht auch ein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, das unabhängig vom Zweck der Arbeitssuche besteht.
Der Antragsteller ist gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Arbeitssuche in Deutschland aufenthaltsberechtigt.
Daneben enthält Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag, früher: Art. 18 EG-Vertrag) ein von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich um ein unmittelbar anwendbares subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zusteht (LSG Bayern, Beschluss v. 22.12.2010, Az.: L 16 AS 767/10 B ER; BVerwG, Urteil vom 10.11.1999, Az. 6 C 30/98 = BVerwGE 110, 40, Rdnr. 45 bei juris; BayVGH, Beschluss vom 16.01.1999 Az. 19 C 08.3271, BayVBl 2009, 633, Rdnr. 4 bei juris mit Nachweisen aus der st. Rspr. des EuGH).
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II könnte bereits deshalb tatbestandlich leerlaufen, weil Unionsbürgern neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit immer auch ein nicht zweckgebundenes Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEU-Vertrag zustehe (NZS 2009, 652, 656). Ob sich der Antragsteller neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die allgemeine zweckungebundene Unionsbürgerfreizügigkeit berufen kann, hängt davon ab, ob die Unionsbürgerfreiheit in den Fällen, in denen die Betroffenen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, eingeschränkt werden kann, wie es Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie - UBRL, ABl. der EU vom 30.04.2004 L 158/77) vorsieht. Ob sich hieraus Zweifel ergeben, ob der Tatbestand des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall erfüllt ist, kann letztlich dahinstehen, da die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bereits aus anderen Gründen zweifelhaft ist.
b) Selbst wenn die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ihrem eigenen Tatbestand nach erfüllt wäre, könnte ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II gegeben sein, weil
1. der Anwendungsvorrang von entgegenstehendem Europarecht eingreifen
oder
2. der Leistungsausschluss wegen eines Verstoßes gegen innerstaatliches Verfassungsrecht teilweise verfassungswidrig sein könnte.
Zu Nr. 1:
aa) In Rechtsprechung und Literatur ist nicht geklärt, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen die in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit, gegen das in Art. 18 AEU-Vertrag gewährleistete Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit oder gegen die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 AEU-Vertrag verstößt. Die Vorschrift geht zurück auf Art. 24 Abs. 2 UBRL. Nach dieser Vorschrift ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während eines längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie gibt Unionsbürgern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat zum Zweck der Arbeitssuche aufhalten, ein zeitlich unbegrenztes Aufenthaltsrecht, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass für sie eine begründete Aussicht besteht, eingestellt zu werden.
Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist also dann europarechtskonform, wenn es sich beim Arbeitslosengeld II um "Sozialhilfe" im Sinne des Art. 24 Abs. 2 UBRL handelt und diese Vorschrift ihrerseits mit dem höherrangigen Primärrecht der EU in Einklang steht.
Das LSG NRW (Beschluss vom 25.03.2010 - L 7 B 172/09 AS ER) führt dazu aus:
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die einen Leistungsausschluss ohne entsprechende Öffnungsklausel insbesondere für Alt-Unionsbürger normiert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. (vgl. u. a. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008 - L 7 AS 3031/08 ER-B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009 - B 34 AS 790/09 B ER; SG Reutlingen, Urteil vom 29.04.2008 - S 2 AS 295 2/07; LSG NRW, Beschluss vom 16.07.2008 - L 19 B 111/08 AS ER; Brühl/Schoch in LPK, § 7 Rn. 20 ff.; Schreiber info also 2008, 3 ff. und 2009,, 195 ff.; Kunkel/Frey, ZFSH 07/2008, 387 ff.; Husmann, NZS 2009, 547 ff., 652 ff.; Hailbronner, ZFSH 2009, 195 ff.; Dr. Piepenstock, jurisPR-SozR, 23/09 Anm. 1). Diese Frage lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären. Eine Vorlagepflicht der deutschen Gerichte an den Europäischen Gerichtshof, der für die Auslegung der hier in Betracht kommenden Art. 39 und 12 EGV zuständig ist, besteht indes nur für das Hauptsacheverfahren, nach h. M. aber nicht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren. Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung und des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II ist nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deshalb eine Folgenabwägung vorzunehmen.
Diese Folgenabwägung geht zugunsten des Antragstellers aus. Danach war dem Antragsteller die Regelleistung einstweilen und vorläufig zu bewilligen. Dabei hat der Senat maßgeblich berücksichtigt, dass die Anspruchsvoraussetzungen insoweit nach derzeitigem Stand unstreitig vorliegen und der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für einen italienischen Staatsangehörigen als Alt-Unionsbürger unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken begegnen. Diese folgen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) insbesondere in den Verfahren D (Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02) und W,L (Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 und C-23/08). Nach der Rechtsprechung des EuGH darf der Mitgliedsstaat die Gewährung einer Beihilfe davon abhängig machen, dass das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden zum Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wird. Diese kann sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat. Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedsstaat sind und tatsächlich Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 04.06.2009, Rn. 38 ff.; Urteil vom 23.03.2004, Rn. 69 f jeweils zitiert nach juris). Zudem hat der EuGH darauf hingewiesen, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht auf Gleichbehandlung erfahren hat, nicht mehr möglich sei, eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EG, der eine Ausprägung des Art. 12 EG sei, auszunehmen.
bb) Letztlich bestehen Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch unter dem Gesichtspunkt des Inkrafttretens der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Abl L 166 vom 30.04.2004, S. 1-123 zum 1. Mai 2010 (Verabschiedung der Durchführungsverordnung 987/2009 - Abl L 284 vom 30.10.2009, S. 1-31). Darin ist der persönliche Anwendungsbereich erweitert worden und es ist von einem umfassenden Gleichbehandlungsgebot der EU-Ausländer mit Wohnsitz in Deutschland mit Deutschen auszugehen. Eine Verordnung der EU ist ein Rechtsakt, der gemäß Art. 288 Abs. 2 der Vertrages über die Arbeitsweise der EU (Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon - konsolidierte Fassung bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 47) allgemeine Geltung hat, in allen Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gilt, ohne dass (zuvor) eine Umsetzung in nationales Recht zu erfolgen hat. Modifikationen der in einer Verordnung vorgegebenen Regelungen durch den einzelnen Mitgliedsstaat sind nicht möglich, es sei denn die Verordnung erlaubt entsprechende Anpassungen an nationales Recht. Anders als in Art. 2 der Vorgängerregelung - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – erfasst der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 nicht mehr nur Arbeitnehmer, sondern "alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen". Nunmehr ist also der Wohnort das maßgebliche Kriterium und dementsprechend muss die sozialrechtliche Stellung von Unionsbürger/-innen auch im Rahmen der deutschen Rechtsordnung neu bewertet werden.
Zudem sind die Leistungen nach dem SGB II in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung einbezogen. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X der Verordnung (EG) 883/2004 besagt ausdrücklich, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 Verordnung (EG) 883/2004 auch im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II Anwendung findet (so auch SG Berlin, Urteil v. 27.03.2012 – Az.: S 110 AS 28262/11, dass. Beschluss vom 26.03.2012 – Az.: S 96 AS 6145/12 ER).
Zu Nr. 2: Bedenklich erscheint zudem der zeitlich unbeschränkte völlige Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der durch den gleich formulierten Ausschluss von Sozialhilfe in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII (dort eingefügt mit Wirkung vom 07.12.2006) flankiert wird, im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet wird (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 Az. 1 BvL 1/09, NJW 2010, 505, Rdnr. 133 bei juris m.w.N.). Da es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein Grundrecht nur für Deutsche, sondern um ein Menschenrecht handelt, gilt es auch für Ausländer, die sich in Deutschland aufhalten, vor allem wenn dieser Aufenthalt - wie im Fall der Antragstellerin - rechtmäßig ist. Zwar gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der zur Gewährleistung dieses Existenzminimums zu erbringenden Leistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Es fragt sich aber, ob nicht der zeitlich unbegrenzte Ausschluss jeglicher Leistungen für Ausländer, die sich rechtmäßig zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, in den von Art. 19 Abs. 2 GG für unantastbar erklärten Wesensgehalt dieses Grundrechts eingreift. Ob der zeitlich unbefristete Ausschluss von Leistungen an arbeitsuchende Unionsbürger mit der Begründung gerechtfertigt werden kann, dass diese auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen werden könnten (so LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010, Az. L 15 AS 30/10 B ER Rdnr. 30), dürfte – je nach Ausgestaltung des Sozialsystems im Heimatland des Hilfesuchenden – zumindest zweifelhaft sein (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 22.12.2010, Az.: L 16 AS 767/10 B ER).
Ferner ist im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zweifelhaft, ob eine durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darin liegt, dass Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, wenigstens das "reduzierte" Existenzminimum nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG), dagegen Ausländer, die die Unionsbürgerschaft besitzen und sich legal in Deutschland aufhalten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ohne zeitliche Begrenzung von jeglichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sind.
Aufgrund der obigen Zweifel an der Wirksamkeit des erklärten Vorbehalts und der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist im Rahmen einer Folgenabwägung von einem vorrangigen Aussetzungsinteresse des Antragstellers auszugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Gründe:
I. Zwischen den Parteien ist streitig der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.
Der Antragsteller ist spanischer Staatsbürger und stand bei dem Antragsgegner im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II.
Er beantragte im Dezember 2010 erstmals Grundsicherungsleistungen, welche dem Antragsteller seitens des Antragsgegners mit Bescheid vom 12.01.2011 (Bl. 38 d. VA) auch gewährt wurden. Bereits bei Antragstellung wurde der Antragsteller allerdings darauf hingewiesen, dass die Leistungen höchstens für einen Zeitraum von sechs Monaten gewährt werden könnten. Aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.10.2010 (Az.: B 14 AS 23/10) wurden dem Antragsteller jedoch auch über diesen Zeitraum hinaus mit Bescheid vom 02.01.2012 Leistungen für die Zeit vom 01.02.2012 bis zum 31.07.2012 i.H.v. monatlich 343,67 EUR bewilligt. Im Dezember 2011 und mit Wirkung zum 23.02.2012 erklärte die Bundesregierung einen Vorbehalt gegen die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an Bürger von Vertragsstaaten des "Europäischen Fürsorgeabkommens" (EFA).
Aufgrund dessen hob der Antragsgegner den Bewilligungsbescheid vom 02.01.2012 mit streitgegenständlichem Bescheid vom 12.03.2012 für den Zeitraum vom 01.04.2012 bis zum 31.07.2012 teilweise auf. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, dass der Antragsteller als spanischer Staatsangehöriger gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch.
Zudem hat der Antragsteller bei dem erkennenden Gericht um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 10.04.2012 gegen den Bescheid vom 12.03.2012 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner ist der Auffassung, dass der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt hinsichtlich der Reglungen des EFA den Ausschluss der Leistungen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 im vorliegenden Sachverhalt rechtfertige. Dieser sei auch europarechtskonform, womit es nicht darauf ankomme, ob sich der Antragsteller nur zum Zweck des Leistungsbezugs oder auch zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Insoweit bestehe eine Weisungslage des Antragsgegners.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist als Anordnung der aufschiebenden Wirkung des vom Antragstellers unter dem 10.04.2012 eingelegten Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom 12.03.2012 gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) statthaft. Danach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (Satz 1). Ist im Zeitpunkt der Entscheidung der Verwaltungsakt schon vollzogen, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (Satz 2).
Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben der Widerspruch und die Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, keine aufschiebende Wirkung. Ein solcher - unter § 39 SGB II fallender - Sachverhalt ist vorliegend gegeben.
Der Antrag ist auch begründet.
Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage sieht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht vor. Das Gericht entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgesetzbuch Kommentar, 9. Aufl. 2008, § 86b, Rn. 12).
Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Das vom Gesetzgeber in § 39 SGB II angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Bedeutung, dass der Antragsgegner von der ihm nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen. Das Gesetz unterstellt den Sofortvollzug keineswegs als stets, sondern nur als im Regelfall geboten und verlagert somit die konkrete Interessenbewertung auf Antrag des Antragstellers in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Daraus folgt zugleich, dass im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragsgegners umso höher sind, je höher die Erfolgsaussichten des Antragstellers sind (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rn. 12c ff.).
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X (Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ein Bewilligungsbescheid ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, denn er erschöpft sich nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage, sondern begründet inhaltlich ein auf Dauer berechnetes und in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis. Wesentlich ist die Änderung, soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt nach den nunmehr eintretenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG, 19.02.1986, 7 RAr 55/84).
Der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt stellt keine wesentliche Änderung der Sach- und/oder Rechtslage i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X dar, da an dessen Wirksamkeit und an der Verfassungsmäßigkeit des – nach Erklärung des Vorbehalts ggf. wieder anwendbaren – § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nach Auffassung des Gerichts erhebliche Zweifel bestehen, womit das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse des Antragsgegners im vorliegenden Fall überwiegt,
Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben bzw. die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.
Der Antragsteller ist Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und noch nicht die Altersgrenze erreicht, ist erwerbsfähig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD. Der Antragsteller ist auch hilfebedürftig gemäß § 9 Abs. 1 SGB II. Er verfügt über kein Einkommen und Vermögen.
Dass der Antragsteller sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt (vgl. Bl. 10 d. GA). Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift (" über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU). Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010 – Az.: B 14 AS 23/10 R).
Der Antragsteller ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).
Der Antragsteller hat erstmals im Dezember des Jahres 2010 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II beantragt und hält sich seitdem bereits länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf.
Ob dem Anspruch des Antragstellers – nach Erklärung des Vorbehalt der Bunderegierung gemäß Art. 16 lit. b) EFA – die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, ließ sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren jedoch nicht abschließend feststellen.
1. Nach Auffassung des BSG gilt der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II zunächst nicht für Unionsbürger, die unter den Anwendungsbereich des "Europäischen Fürsorgeabkommens" (EFA) fallen. Dazu führt das BSG in seinem Urteil vom 19.10.2010 (aaO) aus:
Er [ der Kläger ] ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (dazu unter a). Denn dieser Leistungsausschluss ist auf den Kläger als Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) nicht anwendbar (dazu unter b).
[ ]
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist allerdings hier deswegen nicht anwendbar, weil der Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA berufen kann (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.1.2008 - L 8 SO 88/07 ER - FEVS 59, 369, 373 ff; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 14.1.2010 - L 14 AS 1565/09 B ER - juris; SG Berlin Urteil vom 25.3.2010 - S 26 AS 8114/08 - juris; Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 7 RdNr 35; Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II RdNr 128, Stand Juni 2010; aA Bayerisches LSG Beschluss vom 4.5.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2008 - L 5 B 801/08 AS ER - juris; SG Reutlingen Urteil vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 - juris; Schumacher in Oestreicher, SGB II/SGB XII, Stand Februar 2010, § 7 SGB II, RdNr 11a; offen gelassen von LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 26.2.2010 - L 6 B 154/09 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16.7.2008 - L 19 B 111/08 AS ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.1.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 30.5.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris).
Nach Art 1 des Abkommens, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (und daneben Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien) unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.
Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht (dazu unter aa), dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (dazu unter bb). Darüber hinaus steht seiner Anwendung nicht entgegen, dass inzwischen an die Stelle des Abkommens europäisches Koordinationsrecht getreten wäre (dazu unter cc). Auch liegen im Einzelnen die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EFA (dd).
Im vorliegenden Fall ist der Antragsteller als spanischer Staatsbürger mithin grundsätzlich unter den subjektiven Schutzbereich des EFA zu fassen.
Mit Wirkung vom 23. Februar 2012 hat die Bundesregierung allerdings von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach Art. 16 lit. b) EFA hinsichtlich der Geltung des SGB II einen Vorbehalt zu erklären. Danach ist die Anwendbarkeit des EFA auf Personen, die Staatsangehörige der anderen Vertragschließenden sind und die in Deutschland Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nachsuchen, nach dem Willen der Bundesregierung nicht (mehr) gegeben.
Das BSG (aaO, Rz. 35) führt zu der ursprünglichen Rechtslage noch wie folgt aus:
Die Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten abgegeben (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA). Nach dem bislang abgegebenen Vorbehalt übernimmt die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung, die im BSHG "in der jeweils geltenden Fassung" vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (vgl § 30 BSHG) und die dort vorgesehene Hilfe zur Überwindung besonderer sozialen Schwierigkeiten (vgl § 72 BSHG) an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, ohne gleichwohl auszuschließen, dass diese Hilfen in geeigneten Fällen gewährt werden können (vgl Neubekanntmachung des Anhangs II zum EFA, BGBl II 2001, 1098). Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob dieser Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) mit Wirkung vom 1.1.2005 "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung anzuwenden ist. Denn bereits im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG hatte sich die Bundesrepublik gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten vorbehalten. Mit der Regelleistung nach § 20 SGB II beansprucht der Kläger aber alleine eine solche, den Lebensunterhalt sichernde, Hilfe.
Insoweit unterliegt der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt hinsichtlich der Rechtsmäßigkeit nach der Auffassung der erkennenden Kammer weitreichenden Bedenken.
Bei dem "nachträglichen" Vorbehalt handelt es sich nach Auffassung des Gerichts nicht um einen echten Vorbehalt, sondern ggf. um eine verdeckte Teilkündigung des Abkommens gemäß Art. 24 EFA. Vorbehalte schränken sinnlogisch lediglich die Bereitschaft ein, eine noch nicht bestehende Verpflichtung zu übernehmen. Sie wirken nicht auf bereits bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen ein und können daher grundsätzlich – sofern der Vertrag keine entsprechende Möglichkeit eröffnet – nicht "nachträglich" erklärt werden. Da es im EFA gemäß Art. 16 lit. b EFA nur eine Spezialregelung für die Einschränkung der Bereitschaft, neue Sozialleistungen dem Anwendungsumfang des EFA zu unterwerfen, gibt, setzt die Zulässigkeit des Vorbehalts voraus, dass es sich bei der SGB-II-Leistung – Grundsicherung für Arbeitssuchende – um neue Fürsorgeleistungen handelt. Hieran fehlt es. Bis Ende 2011 waren die Leistungen nach dem SGB II gar nicht im Anhang zum EFA aufgeführt. Dies war auch nicht notwendig, da die Aufnahme einer Leistung in den Anhang nicht konstitutiv erforderlich ist, um den Anwendungsbereich des EFA zu eröffnen. Die Vertragsstaaten sollen nach Art. 16 lit. b) EFA zwar entsprechende Mitteilungen über Neuregelungen machen, diese sind aber rein deklaratorisch. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Leistungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch als "Nachfolgegesetz" des BSHG (Bundessozialhilfegesetz) im Wege eines Automatismus an die Stelle der Regelungen des BSHG treten, womit der eindeutige Wortlaut des Art. 16 lit. b EFA nicht erfüllt ist.
Dort heißt es: "Jeder Vertragschließende hat dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen." Insoweit ergibt sich im Rahmen einer systematischen Auslegung, dass sich das Wort "neuen" nicht auf die (erstmalige) Aufnahme der Leistungen in den Anhang des EFA bezieht, sondern auf den Erlass der Rechtsvorschriften nach Abschluss des Fürsorgeabkommens. Wenn man der Argumentation der Kammer folgt, dass das SGB II im Grundsatz lediglich die Nachfolge des BSHG angetreten hat, so muss man zu dem Schluss kommen, dass das BSHG und damit auch das soziale Leistungssystem des SGB II im Grundsatz bereits bei Abschluss des Europäischen Fürsorgeabkommens existent – und damit im Zeitpunkt des erklärten Vorbehalts nicht "neu" – waren.
2. Die obigen Überlegungen können jedoch dahinstehen, da der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nach der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer Bedenken hinsichtlich der Europarechtskonformität eröffnet (SG Düsseldorf, Beschluss v. 09.06.2010 – Az.: S 10 AS 2097/10 ER).
Der Antragsteller kann sich als spanischer Staatsangehöriger auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 AEU-Vertrag (= früher Art. 39 EG-Vertrag) berufen. Er bedarf hierfür nicht mehr der Genehmigung gemäß § 284 SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Mehrere Gesichtspunkte sprechen dafür, dass diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.
a) Fraglich ist bereits, ob der Tatbestand dieser Vorschrift erfüllt ist, insbesondere ob der Antragsteller nicht auch ein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, das unabhängig vom Zweck der Arbeitssuche besteht.
Der Antragsteller ist gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Arbeitssuche in Deutschland aufenthaltsberechtigt.
Daneben enthält Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag, früher: Art. 18 EG-Vertrag) ein von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich um ein unmittelbar anwendbares subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zusteht (LSG Bayern, Beschluss v. 22.12.2010, Az.: L 16 AS 767/10 B ER; BVerwG, Urteil vom 10.11.1999, Az. 6 C 30/98 = BVerwGE 110, 40, Rdnr. 45 bei juris; BayVGH, Beschluss vom 16.01.1999 Az. 19 C 08.3271, BayVBl 2009, 633, Rdnr. 4 bei juris mit Nachweisen aus der st. Rspr. des EuGH).
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II könnte bereits deshalb tatbestandlich leerlaufen, weil Unionsbürgern neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit immer auch ein nicht zweckgebundenes Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEU-Vertrag zustehe (NZS 2009, 652, 656). Ob sich der Antragsteller neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die allgemeine zweckungebundene Unionsbürgerfreizügigkeit berufen kann, hängt davon ab, ob die Unionsbürgerfreiheit in den Fällen, in denen die Betroffenen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, eingeschränkt werden kann, wie es Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie - UBRL, ABl. der EU vom 30.04.2004 L 158/77) vorsieht. Ob sich hieraus Zweifel ergeben, ob der Tatbestand des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall erfüllt ist, kann letztlich dahinstehen, da die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bereits aus anderen Gründen zweifelhaft ist.
b) Selbst wenn die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ihrem eigenen Tatbestand nach erfüllt wäre, könnte ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II gegeben sein, weil
1. der Anwendungsvorrang von entgegenstehendem Europarecht eingreifen
oder
2. der Leistungsausschluss wegen eines Verstoßes gegen innerstaatliches Verfassungsrecht teilweise verfassungswidrig sein könnte.
Zu Nr. 1:
aa) In Rechtsprechung und Literatur ist nicht geklärt, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen die in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit, gegen das in Art. 18 AEU-Vertrag gewährleistete Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit oder gegen die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 AEU-Vertrag verstößt. Die Vorschrift geht zurück auf Art. 24 Abs. 2 UBRL. Nach dieser Vorschrift ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während eines längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie gibt Unionsbürgern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat zum Zweck der Arbeitssuche aufhalten, ein zeitlich unbegrenztes Aufenthaltsrecht, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass für sie eine begründete Aussicht besteht, eingestellt zu werden.
Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist also dann europarechtskonform, wenn es sich beim Arbeitslosengeld II um "Sozialhilfe" im Sinne des Art. 24 Abs. 2 UBRL handelt und diese Vorschrift ihrerseits mit dem höherrangigen Primärrecht der EU in Einklang steht.
Das LSG NRW (Beschluss vom 25.03.2010 - L 7 B 172/09 AS ER) führt dazu aus:
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die einen Leistungsausschluss ohne entsprechende Öffnungsklausel insbesondere für Alt-Unionsbürger normiert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. (vgl. u. a. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008 - L 7 AS 3031/08 ER-B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009 - B 34 AS 790/09 B ER; SG Reutlingen, Urteil vom 29.04.2008 - S 2 AS 295 2/07; LSG NRW, Beschluss vom 16.07.2008 - L 19 B 111/08 AS ER; Brühl/Schoch in LPK, § 7 Rn. 20 ff.; Schreiber info also 2008, 3 ff. und 2009,, 195 ff.; Kunkel/Frey, ZFSH 07/2008, 387 ff.; Husmann, NZS 2009, 547 ff., 652 ff.; Hailbronner, ZFSH 2009, 195 ff.; Dr. Piepenstock, jurisPR-SozR, 23/09 Anm. 1). Diese Frage lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären. Eine Vorlagepflicht der deutschen Gerichte an den Europäischen Gerichtshof, der für die Auslegung der hier in Betracht kommenden Art. 39 und 12 EGV zuständig ist, besteht indes nur für das Hauptsacheverfahren, nach h. M. aber nicht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren. Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung und des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II ist nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deshalb eine Folgenabwägung vorzunehmen.
Diese Folgenabwägung geht zugunsten des Antragstellers aus. Danach war dem Antragsteller die Regelleistung einstweilen und vorläufig zu bewilligen. Dabei hat der Senat maßgeblich berücksichtigt, dass die Anspruchsvoraussetzungen insoweit nach derzeitigem Stand unstreitig vorliegen und der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für einen italienischen Staatsangehörigen als Alt-Unionsbürger unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken begegnen. Diese folgen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) insbesondere in den Verfahren D (Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02) und W,L (Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 und C-23/08). Nach der Rechtsprechung des EuGH darf der Mitgliedsstaat die Gewährung einer Beihilfe davon abhängig machen, dass das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden zum Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wird. Diese kann sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat. Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedsstaat sind und tatsächlich Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 04.06.2009, Rn. 38 ff.; Urteil vom 23.03.2004, Rn. 69 f jeweils zitiert nach juris). Zudem hat der EuGH darauf hingewiesen, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht auf Gleichbehandlung erfahren hat, nicht mehr möglich sei, eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EG, der eine Ausprägung des Art. 12 EG sei, auszunehmen.
bb) Letztlich bestehen Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch unter dem Gesichtspunkt des Inkrafttretens der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Abl L 166 vom 30.04.2004, S. 1-123 zum 1. Mai 2010 (Verabschiedung der Durchführungsverordnung 987/2009 - Abl L 284 vom 30.10.2009, S. 1-31). Darin ist der persönliche Anwendungsbereich erweitert worden und es ist von einem umfassenden Gleichbehandlungsgebot der EU-Ausländer mit Wohnsitz in Deutschland mit Deutschen auszugehen. Eine Verordnung der EU ist ein Rechtsakt, der gemäß Art. 288 Abs. 2 der Vertrages über die Arbeitsweise der EU (Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon - konsolidierte Fassung bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 47) allgemeine Geltung hat, in allen Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gilt, ohne dass (zuvor) eine Umsetzung in nationales Recht zu erfolgen hat. Modifikationen der in einer Verordnung vorgegebenen Regelungen durch den einzelnen Mitgliedsstaat sind nicht möglich, es sei denn die Verordnung erlaubt entsprechende Anpassungen an nationales Recht. Anders als in Art. 2 der Vorgängerregelung - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – erfasst der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 nicht mehr nur Arbeitnehmer, sondern "alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen". Nunmehr ist also der Wohnort das maßgebliche Kriterium und dementsprechend muss die sozialrechtliche Stellung von Unionsbürger/-innen auch im Rahmen der deutschen Rechtsordnung neu bewertet werden.
Zudem sind die Leistungen nach dem SGB II in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung einbezogen. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X der Verordnung (EG) 883/2004 besagt ausdrücklich, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 Verordnung (EG) 883/2004 auch im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II Anwendung findet (so auch SG Berlin, Urteil v. 27.03.2012 – Az.: S 110 AS 28262/11, dass. Beschluss vom 26.03.2012 – Az.: S 96 AS 6145/12 ER).
Zu Nr. 2: Bedenklich erscheint zudem der zeitlich unbeschränkte völlige Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der durch den gleich formulierten Ausschluss von Sozialhilfe in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII (dort eingefügt mit Wirkung vom 07.12.2006) flankiert wird, im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet wird (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 Az. 1 BvL 1/09, NJW 2010, 505, Rdnr. 133 bei juris m.w.N.). Da es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein Grundrecht nur für Deutsche, sondern um ein Menschenrecht handelt, gilt es auch für Ausländer, die sich in Deutschland aufhalten, vor allem wenn dieser Aufenthalt - wie im Fall der Antragstellerin - rechtmäßig ist. Zwar gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der zur Gewährleistung dieses Existenzminimums zu erbringenden Leistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Es fragt sich aber, ob nicht der zeitlich unbegrenzte Ausschluss jeglicher Leistungen für Ausländer, die sich rechtmäßig zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, in den von Art. 19 Abs. 2 GG für unantastbar erklärten Wesensgehalt dieses Grundrechts eingreift. Ob der zeitlich unbefristete Ausschluss von Leistungen an arbeitsuchende Unionsbürger mit der Begründung gerechtfertigt werden kann, dass diese auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen werden könnten (so LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010, Az. L 15 AS 30/10 B ER Rdnr. 30), dürfte – je nach Ausgestaltung des Sozialsystems im Heimatland des Hilfesuchenden – zumindest zweifelhaft sein (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 22.12.2010, Az.: L 16 AS 767/10 B ER).
Ferner ist im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zweifelhaft, ob eine durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darin liegt, dass Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, wenigstens das "reduzierte" Existenzminimum nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG), dagegen Ausländer, die die Unionsbürgerschaft besitzen und sich legal in Deutschland aufhalten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ohne zeitliche Begrenzung von jeglichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sind.
Aufgrund der obigen Zweifel an der Wirksamkeit des erklärten Vorbehalts und der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist im Rahmen einer Folgenabwägung von einem vorrangigen Aussetzungsinteresse des Antragstellers auszugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
Saved