S 8 KR 739/17 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 739/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 651/17 ER
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I. Der Antragsteller begehrt im Rahmen des einstweiligen Anordnungsverfahrens die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Kostenübernahme für das Erlernen der Gebärdensprache im Rahmen eines Hausgebärdensprachkursus.

Der am 00.00.2011 geborene Antragsteller ist von Geburt an gehörlos. Er wurde im Juli 2012 mit einem Cochlear-Implantat (CI) versorgt. Die nachfolgende Betreuung erfolgte durch das D Implantat Centrum der HNO-Universitätsklinik L, die Kinderärztin P sowie mittels einer heilpädagogischen Frühförderung im Bereich "Hören und Kommunikation" durch die MWS1-M1-M2-Schule (Frau F S2). Im März 2016 stellten die Therapeuten des D Implantat Centrums L fest, dass beim Antragsteller bei einem Lebensalter von 4; 9 Jahren ein Höralter mit CI von ca. 3; 10 Jahren besteht. Bezogen auf das ungefähre Höralter von drei Jahren zeige sich ein durchschnittlicher Wert für den Wortschatz. Die Artikulation sei weiterhin auffällig. Aufgrund der Diskrepanz zwischen Höralter/Sprachentwicklungsalter und dem Lebensalter könne über weitere sprachtherapeutische Maßnahmen nachgedacht werden (Bericht vom 03.03.2016).

Am 29.08.2016 beantragte der Antragsteller bei der Beigeladenen unter Vorlage von Stellungnahmen der behandelnden Ärztin P und der Sonderschullehrerin F. S2 die Bewilligung von Hilfe durch eine gehörlose Fachkraft des Vereins H A e.V. im familiären Umfeld als Eingliederungshilfe. Der Verein H A werde zeitnah die entsprechenden Unterlagen über den geschätzten Therapiebedarf und die Therapiekosten einreichen.

Diesen Antrag leitete die Beigeladene am selben Tag an die Antragsgegnerin weiter und teilte dies dem Antragsteller mit. Unter dem 06.04.2017 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass sie zur Prüfung des weitergeleiteten Antrags den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) einschalte. Dieser kam am 19.04.2017 zu der Einschätzung, dass es sich bei dem beantragten Unterricht um eine Eingliederungshilfe gemäß SGB IX handele und im Rahmen der Frühförderung in die Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers falle. Eine medizinische oder Rehabilitations-Leistungen lägen nicht vor. Daraufhin wandte sich die Antragsgegnerin am 20.04.2017 mit dem Ersuchen von Amtshilfe an die Beigeladene und teilte dies dem Antragsteller mit. Am 30.05.2017 reichte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin den Kostenvoranschlag der H A e.V. ein, der den Behandlungs- und Betreuungsbedarf auf eine Zeitstunde pro Woche taxierte mit einem Therapiekostenansatz von 64,60 EUR pro Zeitstunde und daraus folgend 258,40 EUR pro Monat. Ohne eine Antwort der Beigeladenen erhalten zu haben, erteilte die Antragsgegnerin den Bescheid vom 12.06.2017, mit dem sie die Kostenübernahme für den gewährten Sprachkurs ablehnte. Es handele sich um eine Leistung der Eingliederungshilfe gemäß SGB XII, welche die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit voraussetze. Da ihr keinerlei Unterlagen über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse vorlägen, könnten die sonstigen Voraussetzungen nicht geprüft werden.

Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller Widerspruch.

Des Weiteren beantragte er beim Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Kostenübernahme für das Erlernen der Gebärdensprache durch die Antragsgegnerin. Es bestehe ein entsprechender Anspruch auf Eingliederungshilfe ohne die Pflicht des Antragstellers bzw. seiner Eltern, vorrangig ihr Einkommen oder Vermögen einzusetzen, § 92 SGB XII. Auf Anforderung des Gerichts hat er das Einkommen seiner Eltern mitgeteilt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Schriftsätze des Antragstellers Bezug genommen.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,

die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller eine Kostenübernahmeerklärung für das Erlernen der Gebärdensprache im Rahmen eines Hausgebärdensprachkurses in gesetzlicher Höhe und Laufzeit zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den Antrag auf Erlass einer einstweilen Anordnung abzulehnen.

Es läge weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch vor. Zum Anordnungsgrund sei nicht vorgetragen worden. Auch ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben. Der MDK sei in seiner gutachtlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei dem beantragten Gebärdensprachkurs um eine Leistung der Eingliederungshilfe gemäß dem SGB XII handele. Dies entspreche der Entscheidung des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 05.01.2017. Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V lägen nicht vor. Denn vorliegend handele es sich um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation, für die die Regelungen der §§ 14, 15 SGB IX vorrangig seien. Bereits seinem Wortlaut nach schließe § 13 Abs. 3a S. 9 SGB V die Anwendung der sog. Genehmigungsfiktion in diesen Fällen aus.

Der beigeladene Sozialhilfeträger hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt. Er macht geltend, dass die Privilegierung der Regelung des § 92 SGB XII vorliegend nicht anwendbar sei, da ein spezifischer Förderungsbedarf beim Antragsteller nicht vorliege. So weise der streitgegenständliche Gebärdensprachkurs keinen erforderlichen spezifischen Bildungsbezug auf. Die Gebärdensprache stelle kein Kriterium dar, welches der Antragsteller erfüllen müsse, um eine Schule besuchen zu können. Schulen für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche vermittelten selbst Gebärdenkenntnisse, wobei der Antragsteller durch seine heilpädagogisch ausgerichtete Frühförderung bereits über erste Gebärdenkenntnisse verfüge. Zudem könne der Antragsteller durch seine Cochlear-Implantate das Defizit bzw. das Grundbedürfnis an Hören und Kommunikation ausgleichen. Damit sei der Bedarf an weiterer Eingliederungshilfe, die eine Teilnahme am Leben der Gemeinschaft ermöglichen soll, gedeckt. Nach dem Bericht der Uniklinik L vom 03.03.2016 könne der Antragsteller durch die Implantate sich in den Kindergartenalltag gut integrieren und nehme seit dem aktiv am Leben in der Gemeinschaft teil. Soweit lediglich Auffälligkeiten bei der Artikulation des Antragstellers festzustellen seien, kämen vielmehr weitere sprachtherapeutische Maßnahmen in Betracht. Die Gebärdensprache würde demgegenüber kontraindiziert sein, da diese die Lautsprache nicht fördere.

Zur weiteren Sachdarstellung des Sachverhalts wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze und Unterlagen der Beteiligten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) können einstweilige Anordnun¬gen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig er¬scheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind insoweit glaubhaft zu machen, vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Das einst¬weilige Rechtsschutzverfahren dient vorläufigen Regelungen. Nur wenn dies zur Gewäh¬rung einstweiligen Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d.h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht, weil der Rechtsschutzsu-chenden ein bestimmter Anspruch zusteht, ist ausnahmsweise die Vorwegnahme der Hauptsache zulässig (LSG NRW, Beschluss vom 18.07.2005 - L 16 B 182/04 KR ER - m.w.N.; www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Vorliegend besteht kein Anordnungsgrund und erscheint die Entscheidung der Antragsgegnerin auch nicht offensichtlich rechtswidrig.

A. Es besteht kein Anordnungsgrund dahingehend, dass die Antragsgegnerin als zuständiger Sozialleistungsträger den begehrten Sprachkurs vorläufig, d.h. vorbehaltlich des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens, gewähren und finanzieren muss. Denn dies ist dem Antragsteller bzw. seinen Eltern selber möglich. So sind die Eltern nach ihren eigenen Angaben in der Lage, monatlich Rücklagen i.H.v. 500 EUR zu bilden (weitere Rücklagen über 6000 EUR hinaus), während der veranschlagte Kostenbedarf für den Gebärdensprachkurs 258,40 EUR pro Monat beträgt.

B. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Entscheidung der Antragsgegnerin im Ergebnis offensichtlich rechtswidrig ist und daraus eine Verpflichtung zur (vorläufigen) Leistung resultiert.

1. Es kann nicht, jedenfalls nicht mit der für eine einstweilige Verpflichtung erforderlichen Sicherheit, vom Eintritt der Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs. 3a SGB V ausgegangen werden. Zwar handelt es sich entgegen dem Standpunkt der Antragsgegnerin bei der geltend gemachten Maßnahme nicht um eine ausgeschlossene Maßnahme gemäß § 13 Abs. 3a S. 9 SGB V. Denn unter diesen Ausschluss fallen lediglich die medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen im engeren Sinne des SGB V (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R -, juris.de, Rn. 17). Insoweit wäre der begehrte Gebärdensprachkurs jedenfalls keine Rehabilitationsmaßnahme im Sinne des § 40 SGB V, sondern ein ärztlich verordnetes Heilmittel gemäß § 32 SGB V (vgl. SG Koblenz, Urteil vom 23.03.2016 - S 14 KR 760/14 -, SG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 31.05.2012 - S 1 KR 244/11-; juris.de) oder eine Rehabilitationsmaßnahme im weiteren Sinne des SGB IX. Mit der Bescheiderteilung am 12.06.2017 auf den Antrag vom 29.08.2016 oder auch nach der Weiterleitung am 29.08.2016 ist jedenfalls die vom Gesetzgeber vorgegebene Frist von drei bzw. fünf Wochen überschritten, selbst wenn die Zeit des Wartens der Antragsgegnerin auf die Amtshilfe der Beigeladenen ab dem 20.04.2017 als begründete Verzögerung anzuerkennen wäre. Nach der Weiterleitung des Antrags durch die Beigeladene, ihrer entsprechenden Mitteilung an den Antragsteller und unter Berücksichtigung verschiedener sozialgerichtlicher Entscheidungen (SG Koblenz, SG Oldenburg, a.a.O.), handelt es sich um eine Leistung, bzgl. derer der Antragsteller subjektiv hätte erwarten können, dass es sich um eine krankenversicherungsrechtliche Leistung handelt. Dementsprechend hatte er sich laut Beigeladener wohl bereits in der Vergangenheit im Jahr 2012 bei der Antragsgegnerin um eine entsprechende Leistung bemüht. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass am 29.08.2016 ein fiktionsfähiger Antrag vorgelegen hat. Es lag zwar die ärztliche Bescheinigung der behandelnden Kinderärztin P vor, die durchaus als ärztliche Verordnung qualifiziert werden könnte. Es lagen jedoch keine (verordnungstypischen) Angaben zu Frequenz und gegebenenfalls (vorläufige) Dauer der beantragten Maßnahme vor. Insoweit hatte der Antragsteller im Antragsschreiben vom 16.08.2016 auch ausdrücklich angegeben, dass entsprechende Unterlagen des Vereins H A noch eingereicht würden. Diese Unterlage wurde jedoch erst am 30.05.2017 bei der Antragsgegnerin vorgelegt, die dann in einer kürzeren Frist als drei Wochen den maßgeblichen Bescheid vom 12.06.2017 erließ. (vgl. zum hinreichend bestimmten Antrag BSG, a.a.O., Rn. 23, 24; LSG NRW, Urteil vom 06.12.2016 – L 1 KR 680/15 -, juris.de, Rn. 34, 35).

2. Unter Berücksichtigung des von der Antragsgegnerin vorgelegten Urteils des LSG Rheinland-Pfalz vom 05.01.2017 – L 5 KR 63/16 - kann nicht mit der für das einstweilige Rechtsschutzverfahren ohne Anordnungsgrund erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass ein originär gegenüber der Antragsgegnerin bestehender Anspruch auf Versorgung mit dem Heilmittel eines Gebärdensprachkurses besteht.

3. Ebenso wenig erscheint die Entscheidung der Antragsgegnerin, dass kein Eingliederungshilfeanspruch ohne Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers besteht, offensichtlich rechtswidrig. Mit den Ausführungen des Antragstellers kann lediglich von § 92 Abs. 2 Nr. 1., 2, oder 3. SGB XII als möglicher Anspruchsgrundlage ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der am 00.00.2011 geborene Antragsteller seit dem 01.08.2017 schulpflichtig ist, scheiden jedoch § 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 1. und 3. SGB XII aus, da sie lediglich Maßnahmen für noch nicht eingeschulte Kinder vorsehen. Hinsichtlich der Eingliederungshilfe zu einer angemessenen Schulbildung gemäß § 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XII ist der Einwand der Beigeladenen, dass ein Gebärdensprachkurs als Hilfe zur angemessenen Schulbildung bei Schulen für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche nicht erforderlich sei, durchaus beachtlich. Dieser Aspekt müsste gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren berücksichtigt und geklärt werden. Eine diesbezügliche Stellungnahme des Antragstellers zu diesem Punkt ist nicht erfolgt; ebenso wenig zu den gerichtsseitig gestellten Fragen, ob der Antragsteller den Gebärdensprachkurs begonnen hat und ob eine und gegebenenfalls welche Empfehlung des Hörzentrums der Uni L vorliege.

Die Kostenscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved