S 35 AL 654/04

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
35
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 35 AL 654/04
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei der Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit an Arbeitnehmer aus EU-Mitgliedsstaaten, die nicht Grenzgänger sind (sog. unechte Grenzgänger) ist als Bemessungsentgelt das Entgelt zugrunde zulegen, das im Mitgliedssaat der letzten Beschäftigung erzielt wurde.
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 03.02.2003 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2004 Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01.01.2003 bis 30.06.2003 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des an den Kläger zu zahlenden Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 01.01.2003 bis 30.06.2003, und dabei insbesondere die Anwendung der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 streitig.

Der 1961 geborene Kläger war vom 06.05.1991 bis 05.03.1999 als Elektroinstallateur versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 29.05.1999 bis 13.06.1999 bezog er Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines wöchentlichen Bemessungsentgelts in Höhe von 560,00 DM. Zum 14.06.1999 nahm er eine Beschäftigung als Elektriker in den Niederlanden auf, die er zunächst bis 16.01.2000 ausübte. Im Anschluss daran, ab 20.01.2000, bezog der Kläger erneut Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines wöchentlichen Bemessungsentgelts von 560,00 DM (Restanspruch aus dem vorangegangenen Arbeitslosengeldbezug). Mit Veränderungsmitteilung meldete sich der Kläger zum 07.02.2000 erneut in Arbeit ab. Er nahm zu diesem Zeitpunkt eine Tätigkeit als Elektromonteur bei V. in den Niederlanden auf. Dieses Arbeitsverhältnis wurde zum 31.12.2002 betriebsbedingt gekündigt. Am 23.12.2002 meldete sich der Kläger erneut arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld. Dabei fügte er die Bescheinigung E-301 des Arbeitgebers bei, der für den Zeitraum vom 14.06.1999 bis 31.12.2002 für 920 Tage ein Entgelt in Höhe von 68.153,60 EUR bestätigte.

Mit Bewilligungsbescheid vom 03.02.2003 bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld ab 01.01.2003 auf der Grundlage eines wöchentlichen Bemessungsentgelts in Höhe von 295,00 EUR für 326 Tage mit einem wöchentlichen Leistungssatz von 142,31 EUR. Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 24.02.2003 Widerspruch eingelegt, wobei er sich gegen den ermittelten wöchentlichen Leistungssatz wendete. Dieser Leistungssatz sei nicht nach dem Verdienst seines ehemaligen niederländischen Arbeitgebers berechnet worden, obwohl der Beschäftigungszeitraum länger als 52 Wochen war. Dies sei auch aus dem E-301-Schein ersichtlich. Das Arbeitslosengeld sei nach dem zuletzt verdienten Entgelt in den Niederlanden zu berechnen. Zum 01.07.2003 nahm der Kläger erneut eine Beschäftigung als Elektriker auf.

Die Beklagte prüfte den Widerspruch und kam zu dem Ergebnis, der Kläger sei als "unechter Grenzgänger" einzustufen, weshalb eine fiktive Einstufung vorzunehmen sei. Mit Änderungsbescheid vom 10.02.2004 bewilligte die Beklagte daraufhin Arbeitslosengeld ab 01.01.2003 für 326 Kalendertage auf der Grundlage eines wöchentlichen Bemessungsentgelts von 320,00 EUR, ausgehend vom Tarifvertrag für das Elektrohandwerk in Sachsen (Lohngruppe VI). Es ergab sich ein wöchentlicher Leistungsbetrag in Höhe von 149,94 EUR und für den Zeitraum vom 01.01.2003 bis 30.06.2003 eine Nachzahlung in Höhe von 197,29 EUR.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.02.2004 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Beklagte erläuterte die Berechnung des Arbeitslosengeldes, ausgehend von § 129 Nr. 1 SGB III. Im Bemessungszeitraum (von 3 Jahren vor der Entstehung des Anspruchs, § 133 Abs. 4 SGB III) könne ein Zeitraum von mindestens 39 Wochen mit Anspruch auf Entgelt nicht festgestellt werden, so dass das Bemessungsentgelt aus dem tariflichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung zu ermitteln sei, auf die das Arbeitsamt die Vermittlungsbemühungen für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat (§ 133 Abs. 4 SGB III). Das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung in den Niederlanden könne bei der Bemessung keine Berücksichtigung finden. Der Kläger sei als "unechter Grenzgänger" anzusehen. Er war wegen der Montagetätigkeit in den Niederlanden ohne festen Wohnsitz und habe weiterhin seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gehabt.

Mit der hiergegen am 24.03.2004 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Rechtsbegehren weiter. Zur Begründung trägt er vor, er habe seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gehabt und keinerlei soziale Bindungen in den Niederlanden. Der Kläger sei als Montagearbeiter in den Niederlanden im Einsatz gewesen und habe dort keinen festen Wohnsitz und auch keinen ständigen Aufenthaltsort gehabt. Der Kläger schildert, wie sich die Montagetätigkeit und die Rückkehr zum Wohnort darstellte. Generell sei er fast jedes Wochenende, spätestens alle zwei Wochen nach Hause gefahren und sei dann aufgrund vieler Überstunden, die stets abgebummelt wurden, auch bis Dienstag oder Mittwoch der Folgewoche zu Hause (in Deutschland) gewesen. In den Niederlanden war er hauptsächlich in den Städten H., S. und V. beschäftigt. Unterkünfte waren stets Bungalow-Parks, Privatpensionen, selten Hotels. Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Bemessung des Arbeitslosengeldes unter Berücksichtigung des tatsächlich in den Niederlanden erzielten Einkommens zu. Die Verweisung auf ein fiktives Einkommen stelle eine Ungleichbehandlung des Klägers dar, die den Vorgaben der EWG-VO Nr. 1408/71 widerspreche. Aufgrund seiner Tätigkeit in den Niederlanden sei der Kläger als unechter Grenzgänger gemäß Art. 71 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 einzustufen. Nach seiner Auffassung bemessen sich im Falle der voll arbeitslosen echten Grenzgänger und der voll arbeitslosen unechten Grenzgänger, soweit sie sich der zuständigen Institution im Wohnsitzland zur Verfügung stellen, die Leistungen nach dem Recht des Wohnsitzstaates und seien von diesem zu tragen. So sei der Kläger drei Jahre vor Antragstellung mindestens 360 Kalendertage in den Niederlanden oder in Deutschland versichert gewesen und habe somit Anspruch auf die Zahlung von Arbeitslosengeld wie jeder deutsche Arbeitnehmer. Für die Zugrundelegung eines fiktiven Einkommens, welches wesentlich niedriger als das in den Niederlanden erzielte Einkommen ist, bestehe kein Raum.

Der Kläger beantragt,

ihm unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 03.02.2003 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2004 Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01.01.2003 bis 30.06.2003 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach ihrer Auffassung bestimme Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71, dass arbeitslose Grenzgänger die Leistung bei Vollarbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzlandes erhalten. Soweit die Beklagte Leistungen nach § 133 Abs. 4 SGB III (aufgrund fiktiver Einstufung) gewährt habe, entspreche diese Vorschrift dem Wohnsitzland. Die Beklagte verwies ferner auf Art. 68 der EWG-VO Nr. 1408/71, wonach sie bei der Berechnung der Leistung die Höhe des früheren Entgelts zugrunde zu legen habe, welches der Kläger während der Beschäftigung im Gebiet dieses Staates, also in Deutschland, erhalten habe. Soweit kein Entgelt zugrunde gelegt werden könne, sei für die Leistungsberechnung die fiktive Einstufung vorzunehmen. Die Beklagte wäre lediglich bei echten Grenzgängern, also Arbeitnehmer, die täglich pendeln, gehalten, die Bemessung nach dem erzielten Arbeitsentgelt, in diesem Falle aus den Niederlanden, vorzunehmen. Zur weiteren Begründung legte die Beklagte Auszüge aus ihrer Dienstanweisung zum Recht der EU und insbesondere zu Art. 71 Abs. 1 Buchst. a) Ziff. ii, Buchst. b) Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf zwei Bände Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist in der Sache begründet. Der Bewilligungsbescheid vom 03.02.2003 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2004 verletzt den Kläger rechtswidrig in seinen Rechten im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), soweit dort der Leistungshöhe des Arbeitslosengeldes nicht der Verdienst in den Niederlanden zugrunde gelegt wird.

Der Kläger hat Anspruch auf Arbeitslosengeld gemäß § 117 Abs. 1 SGB III. Danach hat Anspruch auf Arbeitslosengeld der Arbeitnehmer, der

1. arbeitslos ist, sich

2. beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und

3. die Anwartschaftszeit erfüllt hat.

Die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimmt sich nach den Regelungen in den §§ 129 ff. SGB III. Für den Kläger beträgt das Arbeitslosengeld 67 % (erhöhter Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt, § 129 Nr. 1 SGB III). Der Bemessungszeitraum umfasst die Entgeltabrechnungszeiträume, die in den letzten 52 Wochen vor der Entstehung des Anspruchs, in denen Versicherungspflicht bestand, enthalten sind und beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem Versicherungspflichtverhältnis vor der Entstehung des Anspruchs abgerechnet waren (§ 130 Abs. 1 SGB III). Davon ausgehend berechnet sich das Bemessungsentgelt nach den Regelungen in den §§ 132 ff. SGB III.

Bemessungsentgelt ist das im Bemessungszeitraum durchschnittlich auf die Woche entfallende Entgelt (§ 132 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Davon sind in § 133 SGB III Sonderfälle geregelt, wobei hier die Beklagte die fiktive Einstufung nach § 133 Abs. 4 SGB III vorgenommen hat. Kann danach ein Bemessungszeitraum von mindestens 39 Wochen mit Anspruch auf Entgelt, bei Saisonarbeitern von 20 Wochen mit Anspruch auf Entgelt, innerhalb der letzten drei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs nicht festgestellt werden, ist Bemessungsentgelt das tarifliche Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung, auf die das Arbeitsamt die Vermittlungsbemühungen für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat.

Nach Auffassung der Kammer erweist sich die von der Beklagten vorgenommene fiktive Einstufung als fehlerhaft. Für die Berechnung der Höhe des Arbeitslosengeldes ist vielmehr das in den Niederlanden erzielte Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Dies ergibt sich aus dem EU-Recht und dabei insbesondere aus der EWG-VO Nr. 1408/71.

Als supranationales Kollisionsrecht regelt die VO 1408/71 den Bereich der Arbeitslosenversicherung. Diese Verordnung bestimmt insbesondere, welcher Rechtsordnung das anzuwendende Recht zu entnehmen ist, wenn ein Sachverhalt Berührungspunkte zu mehreren Staaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr: Europäische Union, EU) aufweist, wenn Arbeitnehmer die innerhalb der Gemeinschaft ab- und zuwandern. Der Kläger hatte seinen Wohnsitz in Deutschland, war aber in den Niederlanden beschäftigt. Er ist damit Grenzgänger. Grenzgänger sind Arbeitnehmer, die die Beschäftigung im Gebiet eines Mitgliedstaates ausüben, aber im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnen, so dass Wohnsitz und Beschäftigungsstaat auseinander fallen. Unterschieden wird dabei zwischen dem echten und dem unechten Grenzgänger. Der echte Grenzgänger ist der Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt ist und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnt, in das er in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich zurückkehrt (Art. 1 Buchst. b VO 1408/71). Arbeitnehmer, die unechte Grenzgänger sind, kehren also in der Regel nicht täglich und nicht mindestens einmal pro Woche in ihren Wohnsitzstaat zurück. Beispiele sind die Saison- oder Gastarbeiter. Soweit die Beitrags- und Versicherungspflicht betroffen ist, ist für alle Grenzgänger der Beschäftigungsstaat zuständig.

Für Leistungen bei Vollarbeitslosigkeit sieht die VO Nr. 1408/71 für echte und unechte Grenzgänger verschiedene Regelungen vor. Nach Art. 71 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii VO 1408/71 erhalten echte Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen zwingend nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie wohnen, als ob während der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates für sie gegolten hätten. Der Anspruch muss sich sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der Dauer der Zahlung nach den Vorschriften des Wohnsitzstaates richten. Der Träger des Wohnsitzstaates gewährt die Leistungen zu eigenen Lasten. Er hat also keinen Erstattungsanspruch gegen den Träger des letzten Beschäftigungsstaates (vgl. zur Problematik: Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2. Auflage, § 37, Rdnr. 165).

Demgegenüber räumt die VO 1408/71 dem unechten Grenzgänger ein Wahlrecht zwischen Leistungsansprüchen gegen den Wohnsitzstaat oder den letzten Beschäftigungsstaat ein (Art. 71 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii VO 1408/71). Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und die sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates zur Verfügung stellen, in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren, erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären. Unechte Grenzgänger können dadurch, dass sie sich der Arbeitsvermittlung im Wohnsitz- oder im bisherigen Beschäftigungsstaat zur Verfügung stellen, letztlich zwischen den Trägern zweier Mitgliedstaaten wählen. Grund für dieses Wahlrecht ist darin zu sehen, dass der Verordnungsgeber bei den unechten Grenzgängern nicht eindeutig davon ausgehen konnte, dass in der Regel im Wohnsitz- oder im Beschäftigungsstaat die besseren Vermittlungschancen bestehen. Das sei vielmehr eine Frage des Einzelfalles, die der Einzelne selbst am besten durch Ausübung seines Wahlrechts entscheiden könne (vgl. zur Problematik: Spellbrink/Eicher, a. a. O. Rdnr. 166).

Nach Auffassung der Kammer ist der Kläger als so genannter unechter Grenzgänger einzustufen. Nach seiner Darlegung ist er fast jedes Wochenende, spätestens aber alle zwei Wochen nach Deutschland zu seiner Familie zurückgekehrt. Damit entspricht der Status des Klägers dem eines typischen unechten Grenzgängers, vergleichbar mit dem eines Saisonarbeiters, und nicht etwa dem eines echten Grenzgängers, der in der Regel täglich, mindestens aber einmal pro Woche in seinen Wohnsitzstaat zurückkehrt. Letzteres (tägliche Rückkehr in den Wohnsitzstaat) ist wegen der weiten Entfernung zwischen dem Wohnsitz des Klägers in W. und den Niederlanden auch realistischerweise nicht anzunehmen. Als unechter Grenzgänger hat der Kläger ein Wahlrecht, das er dahingehend ausgeübt hat, die Leistung an seinem Wohnort in Deutschland bei der Beklagten zu beantragen.

Für die Bewilligung von Arbeitslosengeld gelten die in Kapitel 6 (Arbeitslosigkeit) der EWG-VO Nr. 1408/71 festgelegten Grundsätze. Nach Art. 67 der Verordnung berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedsstaates, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig ist, soweit erforderlich, die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaats zurückgelegt wurden, als handele es sich um Versicherungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind (Art. 67 Abs. 1 1. Halbsatz). Diese Regelung gilt insbesondere für die in Art. 71 Abs. 1 genannten Fälle (vgl. Art. 67 Abs. 3 EWG-VO 1408/71). Danach hat der Kläger einen Leistungsanspruch gegen die Beklagte als Leistungsträger des Wohnsitzstaates.

Steht fest, dass der Arbeitslose gegen den nach Art. 67 Abs. 3 EWG-VO Nr. 1408/71 zuständigen Träger einen Leistungsanspruch hat, stellt sich die Frage, welches Entgelt der Leistungsberechnung zugrunde zu legen ist.

In Art. 71 der EWG-VO Nr. 1408/71 findet sich keine Bestimmung zu der Frage, welches Einkommen der Berechnung der Leistung wegen Arbeitslosigkeit zugrunde zu legen ist, wenn die Leistung vom Träger des Wohnsitzstaates zu erbringen ist. Denkbar ist grundsätzlich, dass nur das Einkommen des letzten Beschäftigungsstaates, aber ebenso auch nur das im Ausland bezogene Entgelt oder aber beide Arbeitsentgelte bezogen auf einen bestimmten Referenzzeitraum zugrunde zu legen sind (vgl. Gagel, SGB III, 25. Ergänzungslieferung, zu Art. 71 Rdnr. 16). Art. 68 Abs. 1 Satz 1 der VO trifft die Entscheidung dahingehend, dass ausschließlich das Entgelt berücksichtigt wird, das der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet dieses Staates erhalten hat. Dabei ist "dieser Staat" der Staat, bei dem der Arbeitslose seinen Anspruch geltend macht. Hiervon ausgehend wäre der Beklagten zuzustimmen, wonach sie eine fiktive Einstufung vorzunehmen hat, da im Bemessungszeitraum in Deutschland kein versicherungspflichtiges Entgelt erzielt wurde. Diese Anwendung stellt jedoch nach Auffassung der Kammer eine europarechtswidrige Auslegung der Regelung dar, da sie zu Nachteilen für Arbeitslose mit einem internationalen Versicherungsverlauf führt, insbesondere, wenn wie hier, im Ausland ein höheres Einkommen erzielt wurde (vgl. Eichenhofer, Europäisches Sozialrecht, Art. 68 Rdnr. 2). Auch ist Art. 68 Abs. 1 der Verordnung für den Träger des Beschäftigungsstaates (hier: die Niederlande) konzipiert, wie sich aus Art. 67 Abs. 3 der Verordnung ergibt (vgl. Gagel, a.a.O. zu Art. 71 Rdnr. 56).

Grundsätzlich besteht bei Inanspruchnahme von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit im Wohnsitzstaat für die Leistungsbemessung für die leistungserbringende Behörde das Problem der schlüssigen Rechtsanwendung der Art. 68 und Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71. Danach hat der Träger des Wohnsitzstaates (also die Beklagte) die Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates (also nach dem SGB III) zu erbringen, als ob diese Leistungen für den Arbeitslosen während seiner letzten Beschäftigung gegolten hätten (Art. 71 Abs. 1 a Ziff. ii der Verordnung). Andererseits verlangt die allgemeine Vorschrift des Art. 68 der Verordnung, dass der zuständige Träger für die Berechnung der Leistungen ausschließlich das Arbeitsentgelt berücksichtigt, das der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung "im Gebiet dieses Staates" erhalten hat. Art. 68 Abs. 1 der Verordnung geht dabei erkennbar davon aus, dass der Arbeitslose die Leistungen in seinem bisherigen Beschäftigungsstaat beansprucht, der aufgrund des Beschäftigungsstatus zugleich für die Leistungsgewährung zuständig ist. Bei Art. 71 Abs. 1 a Ziff. ii der Verordnung ist jedoch zuständiger Staat im Sinne des Art. 68 der Verordnung nicht mehr der Beschäftigungs-, sondern der Wohnsitzstaat, in dessen Gebiet zuletzt gerade keine Beschäftigung ausgeübt worden ist (vgl. zum Ganzen Schlegel in: Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts § 37 Rdnr. 171).

Zur Lösung dieser Problematik hat der Europäische Gerichtshof in zwei Entscheidungen Stellung genommen (Urteil vom 28.02.1980, Az. 67/79 in SozR 6050 Art. 68 Nr. 1, "Fellinger"; Urteil vom 01.10.1992, Az. C 201/91 in SozR 3-6050 Art. 68 Nr. 1, "Kreitz, Grisvard"). Der EuGH kommt in beiden Entscheidungen zu dem Ergebnis, dass Art. 68 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung auf Konstellationen wie hier nicht zugeschnitten sei. Die Verordnung Nr. 1408/71 sei in dem Bestreben, "für die Mobilität der Arbeitskräfte bessere Voraussetzungen zu schaffen" erlassen worden, und um u.a. dem arbeitslosen Arbeitnehmer "die Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates, die für ihn zuletzt gegolten haben, zu gewährleisten". Zielsetzung sei somit, dass die Mobilität der Arbeitnehmer – einschließlich der Grenzgänger – nicht beeinträchtigt werde. Für diese seien die Beschäftigungsbedingungen und insbesondere das Entgelt zu berücksichtigen, das sie im Geltungsbereich der Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats erzielten, in dem sie ihre letzte Beschäftigung ausübten. Danach sei die Leistung unter Berücksichtigung des Entgelts zu berechnen, das der Arbeitnehmer während der letzten Beschäftigung in dem Mitgliedsstaat erhalten hat, in dem er unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit beschäftigt war. Hintergrund der Regelung sei, dass Grenzgänger häufig von Niedriglohnländern nach Ländern mit höherem Niveau wechseln. Der Umstand, dass die Leistungen bei Arbeitslosigkeit für Grenzgänger nicht auf der Grundlage des letzten Entgelts berechnet werden könnten, sei geeignet, von solchen Bewegungen abzuhalten und damit die Mobilität der Arbeitnehmer im Inneren der europäischen Gemeinschaft einzuschränken. Im Ergebnis sieht der EuGH in Art. 68 Abs. 1 den allgemeinen Grundsatz verankert, dass das zur Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit maßgebliche frühere Entgelt dasjenige ist, das der Arbeitnehmer während der letzten Beschäftigung, die er unmittelbar vor seiner Arbeitslosigkeit ausgeübt hat, tatsächlich erhalten hat (EuGH a.a.O.).

Die vom EuGH (a.a.O.) aufgestellten Grundsätze für zwei Fälle von echten Grenzgängern lassen sich nach Auffassung der Kammer auch auf den hier vorliegenden Fall eines unechten Grenzgängers übertragen. Die Tatsache, dass der unechte Grenzgänger ein Wahlrecht zwischen Leistungsansprüchen gegen den Wohnsitzstaat oder gegen den letzten Beschäftigungsstaat hat, kann nicht dazu führen, ihn bei der Leistungsberechnung schlechter zu stellen, als den echten Grenzgänger. Der vom EuGH in Art. 68 Abs. 1 der VO gesehene allgemeine Grundsatz entspricht den Erfordernissen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne von Art. 42 des EWG-Vertrages und der in der Verordnung Nr. 1408/71 zugrunde liegenden Forderung, den Arbeitnehmern bei Arbeitslosigkeit Leistungen zuzusichern, die in angemessenem Verhältnis zur Höhe des Entgelts stehen, das sie zu dem Zeitpunkt erhielten, zu dem sie arbeitslos wurden. Die Begründung des EUGH in den Entscheidungen, die auf die Mobilität der Arbeitnehmer und das Grundprinzip der Freizügigkeit abstellt, lässt sich auch auf die unechten Grenzgänger übertragen. Auch hier würde die strikte Anwendung der Regelungen in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung dazu führen, dass dieser in der Regel in dem Staat, in dem er seine Ansprüche geltend macht, kein versicherungspflichtiges Entgelt erzielt hat. Dies würde auch bei dem unechten Grenzgänger dazu führen, dass die in Art. 68 Abs. 1 der Verordnung geregelte Ausnahme zum Regelfall wird. Die Kammer geht mit dem EuGH davon aus, dass für Grenzgänger (gleich, ob echte oder unechte Grenzgänger), deren Ansprüche sich nach Art. 71 der EWG-VO Nr. 1408/71 beurteilen, das Bemessungsentgelt aus dem im Beschäftigungsstaat erzielten Einkommen zu errechnen ist. Ausgehend von diesen Prinzipien hat die Beklagte dem Bemessungsentgelt das in den Niederlanden erzielte Arbeitsentgelt zugrunde zu legen.

Schließlich verkennt die Beklagte bei dem strikten Festhalten an der Anwendung des Art. 68 der Verordnung, dass dieser sich im Abschnitt 1 des Kapitel 6 der Verordnung ("Gemeinsame Vorschriften") befindet, während für Arbeitslose, die während ihrer letzten Beschäftigung in einem anderen Mitgliedsstaat als dem zuständigen Staat wohnten, der Abschnitt 3 des Kapitel 6 als Sonderregelung maßgeblich ist. Die Beklagte zieht somit einen Zirkelschluss, wenn sie nach der Feststellung, dass der Sonderfall des Art. 71 gegeben ist, auf die allgemeine Regelung des Art. 68 verweist.

Danach muss die Beklagte das Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung der in der Bescheinigung E-301 festgelegten Verdienste ermitteln.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Umstand, dass der Klage in vollem Umfang stattzugeben war.

Die Berufung ist kraft Gesetzes zulässig (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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