Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KR 622/06
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 119/08
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
1. Erwachsene haben keinen Anspruch auf Versorgung mit den Medikamenten Strattera® (Wirkstoff: Atomoxetin) und Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat) im sog. Off-Label-Use zur Behandlung einer Aufmerksamketsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Versorgung mit den Medikamenten Strattera® (Wirkstoff: Atomoxetin) und Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat) im sog. Off-Label-Use zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Der 1986 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Anlässlich der elektroenzephalografischen Untersuchung einer Innenohrschwerhörigkeit wurde beim Kläger im Alter von 10 Jahren ADHS diagnostiziert. Eine medikamentöse Behandlung erfolgte zunächst nicht. Im Jahre 2005 begab sich der damals 19-jährige Kläger nach einer Hirnleistungsdiagnostik auf Überweisung seiner psychologischen Psychotherapeutin in die Behandlung zur Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dipl.-Med. M. F. Diese bestätigte die Diagnose ADHS und nahm die medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat auf, welche sie wegen erheblicher Nebenwirkungen ab Dezember 2005 auf eine Kombinationstherapie von Methylphenidat mit Atomoxetin umstellte. Die Beklagte erbrachte die Behandlung zunächst gegen Vorlage vertragsärztlicher Verordnungen als Sachleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Auf einen Hinweis der Beklagten hin, dass sie die Behandlungskosten nicht weiter übernehme und eine Umstellung der Medikation geprüft werden möge, beantragte der Kläger im September 2006 unter Vorlage eines Schreibens seiner Neurologin Dipl.-Med. F. vom 21.08.2006 die Weiterführung der Behandlung mit den Arzneimitteln Medikinet® retard und Strattera®.
Mit Bescheid vom 28.09.2006 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Die begehrten Präparate seien nicht zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen zugelassen. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use seien nicht erfüllt, weil es sich nicht um eine seltene Erkrankung handele und Behandlungsalternativen zur Verfügung stünden.
Dagegen erhob der Kläger am 12.10.2006 Widerspruch und beantragte am 24.10.2006 beim Sozialgericht Dresden den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung trug er vor, die Voraussetzungen eines Off-Label-Use lägen bei ihm vor. Er leide unter einer schweren Ausprägung von ADHS. Auf Grund dessen habe er nach seiner Ausbildung zum Krankenpflegehelfer in diesem Beruf keine Anstellung erhalten. Ohne die Medikamente sei der erfolgreiche Abschluss der nach zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit und Teilnahme an einer berufsfördernden Maßnahme am 27.06.2006 aufgenommenen Ausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen gefährdet, weil sich erst mit deren Einnahme sein psychischer Zustand stabilisiert habe. Er habe erhebliche Probleme im Interaktions- und Ausdauerleistungsverhalten. Derzeit sei kein Medikament für ADHS im Erwachsenenalter zugelassen. Auf Grund des Wirksamkeitsnachweises in klinischen Studien werde die Behandlung mit Methylphenidat in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde als medikamentöse Therapie der ersten Wahl empfohlen. Zum selben Ergebnis komme auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer. Diesem zufolge seien pharmakologische Therapien und psychotherapeutische Verfahren die spezifische Behandlungsoptionen bei ADHS im Erwachsenenalter. In der medikamentösen Behandlung seien Stimulanzien (Methylphenidat) auf Grund ihrer erwiesenen Wirksamkeit die Medikamente der ersten Wahl. Als Medikament zweiter Wahl könne nach dem derzeitigen Kenntnisstand Atomoxetin angesehen werden. Ohne Weiterbewilligung der Medikamente sei der Ausbildungsabschluss gefährdet.
Das Sozialgericht lehnte den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 09.11.2006, Az. S 15 KR 536/06 ER, ab. Seine hiergegen zum Landessozialgericht erhobene (später zurückgenommene) Beschwerde, Az. L 1 B 424/06 KR-ER, begründete der Kläger damit, bei ihm liege ein schwerer Ausprägungsgrad der Erkrankung vor. Auf Grund des zwischenzeitlichen Absetzens der Medikamente sei er am 05.11.2006 erneut arbeitsunfähig geworden. Nachdem der Psychologische Dienst des Berufsförderungswerkes in der am 27.06.2006 begonnenen Ausbildung bis zum September 2006 unter der Medikation mit den streitgegenständlichen Arzneimitteln eine gute Entwicklung beobachtet habe, sei es wieder zu erheblichen Konzentrations- und Stimmungsschwankungen, leichter Ablenkbarkeit und Blockaden der Merk- und Erinnerungsfähigkeit sowie stärkeren emotionalen Reaktionen gekommen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2006 zurück. Die Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Anwendung seien nicht erfüllt. Es fehle an einem Wirksamkeitsbeleg im Rahmen einer Phase III-Studie. Eine derzeit laufende multizentrische Zulassungsstudie sei noch nicht abgeschlossen. Es liege auch keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, vor.
Hiergegen richtet sich die am 13.12.2006 beim Sozialgericht Dresden eingegangene Klage. Der Kläger macht geltend, die Behandlung orientiere sich an Leitlinien auf Basis eines Expertenkonsensus, wonach die Behandlung mit Methylphenidat auf Grund von Studien als wirksam bewertet und als Therapie der ersten Wahl empfohlen werde. Es gebe keine effektive Alternative zur pharmakologischen Therapie mit Atomoxetin und Methylphenidat. Durch die Behandlung sei es ihm gelungen, eine berufsvorbereitende Maßnahme zu absolvieren und eine Ausbildung aufzunehmen. Nach Absetzen der Medikamente sei das Ausbildungsziel gefährdet. Die Erkrankung sei geeignet, die Lebensqualität nachhaltig zu beeinflussen und lebensbedrohliche Ausmaße anzunehmen. Wenn man sich die Nebenwirkungen der Alternativmedikamente und die Langzeitfolgen ansehe, sei die Lebensqualität nachhaltig beeinflusst. Es könne nicht darauf ankommen, dass der Patient tatsächlich schon in seinem Leben bedroht ist. Der Preisunterschied von 70,00 EUR zwischen den Medikamentenalternativen rechtfertige auch aus wirtschaftlicher Sicht nicht die Ablehnung des Antrages. Weil der Kläger das Medikament bereits, wenn auch als Erwachsener, erhalten habe, sei die Sachlage ähnlich zu beurteilen wie die Weiterverordnung von Methylphenidat im Erwachsenenalter im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes vom 13.06.2006, Az. L 5 KR 93/06.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 28.09.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.12.2006 zu verurteilen, die Kosten für die Behandlung mit den Medikamenten Strattera® (Atomoxetin) und Medikinet® retard (Methylphenidat) zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Ansicht liegen die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use der nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Medikamente nicht vor. Der Kläger leide nicht an einer schwerwiegenden lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung. Ferner lägen gegenwärtig keine ausreichend großen Phase III-Studien vor, welche die Wirksamkeit der Arzneimittel belegen würden. Eine hiervon abweichende Beurteilung ergebe sich auch nicht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, weil beim Kläger keine lebensbedrohliche oder sogar regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliege. Auf die Abgabe des Medikaments im Jahr 2005 könne sich der Kläger nicht stützen, weil die Krankenkasse bereits hierfür die Kosten nicht hätte übernehmen dürfen.
Das Gericht hat eine Auskunft der M. GmbH & Co. KG eingeholt. Diese teilte mit Schreiben vom 27.09.2007 mit, dass für das Arzneimittel Medikinet® retard eine klinische Phase III-Studie durchgeführt worden sei, deren Ergebnisse am 24.11.2006 veröffentlicht wurden; das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte habe jedoch eine Aufschlüsselung der Patientenpopulation verlangt, da nicht alle Patienten gleichermaßen von der Behandlung profitiert hätten.
Die L. GmbH teilte mit Schreiben vom 19.10.2007 mit, eine Langzeitstudie zum Beginn einer Behandlung mit Strattera® bei Erwachsenen solle Mitte des Jahres 2008 beginnen. Bislang seien eine offene Langzeitstudie und drei Kurzzeitstudien der Phase III publiziert worden. Auf Grund Letzterer seit Strattera® in den USA, Kanada, Mexiko, Australien und Neuseeland zur Behandlung Erwachsener zugelassen.
Das Gericht hat die behandelnde Ärztin des Klägers, Dipl.-Med. M. F., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, in der mündlichen Verhandlung zu den Einzelheiten des Krankheitsbildes, der Therapie, des Behandlungsverlaufs und der in Frage kommenden Behandlungsalternativen als sachverständige Zeugin gehört. Die Zeugin hat berichtet, das Krankheitsbild äußere sich beim Kläger nicht nur in der Aufmerksamkeitsstörung, die sich vor allem auf die Gedächtnisinhalte bezieht, sondern auch in einer motorischen Unruhe, inneren Angespanntheit, Nicht-abschalten-können und Ablenkbarkeit. Vor allem sei die Impulsivität sehr ausgeprägt. Da Methylphenidat nicht so stark auf die Impulskontrolle wirke und der Kläger relativ hohe Wirkungsdosen benötige, aber die Höchstdosis an Methylphenidat bereits ausgeschöpft sei, reiche die alleinige Gabe dieses Medikaments nicht aus, sondern es sei ergänzend Atomoxetin zu verordnen. Der Kläger habe unter dieser Medikation angegeben, er sei ruhig und ausgeglichen und könne seinen Tag gut strukturieren. Der Eindruck in der Untersuchung habe das bestätigt. Nachdem sie auf den Hinweis der Beklagten hin Methylphenidat nicht mehr verordnet hat, sei der Kläger im September 2006 in eine schwere depressive Phase geraten und habe berichtet, er bekomme in der Ausbildung nichts mehr mit und sei nur durch die Unterstützung seines Partners im Alltag nicht völlig verwahrlost. Daraufhin habe sie Antidepressiva verordnet, die aber kein Ersatzpräparat für das Methylphenidat darstellten. Als Ende 2006 eine Affektsteuerungsstörung mit wütenden Stimmungen, Aufgeregtheit und rasch wechselnder Verfassung in den Vordergrund getreten sei, habe sie zur besseren Affektsteuerung Valproat verschrieben, wodurch die Stimmungsschwankungen etwas abgenommen hätten, die Konzentrationsfähigkeit jedoch äußerst beeinträchtigt geblieben sei. Zudem habe der Kläger bei vorbestehender Adipositas und Hypertonie unter Valproat 18 kg zugenommen. Seit Juni 2007 sei der Kläger auf Elontril® eingestellt, ein antriebsteigerndes Antidepressivum als Medikament der dritten Wahl bei ADHS. Damit sei die Stimmungslage des Klägers derzeit ausgeglichen, jedoch bestünden weiterhin kognitive Einschränkungen, wie Konzentrationsstörungen, hohe Ablenkbarkeit und Antriebsstörungen. Ohne die Unterstützung seines Partners könne der Kläger seinen Alltag vermutlich nicht ausreichend strukturieren. Nach ungefähr zwei Stunden nehme die Konzentration stark ab. Der Kläger bedürfe mehr Pausen und arbeite ineffektiv. Daraus resultierten wiederum Selbstwertzweifel und entsprechende Stimmungsbeeinträchtigungen, die wiederum nur medikamentös abgepuffert werden können. Elontril® habe den Kläger sicherlich befähigt, die Ausbildung abzuschließen. Da es sich nicht um ein spezifisches Medikament zur Behandlung von ADHS handele, werde es ihn jedoch nicht in die Lage versetzen, effektiv strukturiert und selbstbestimmt zu arbeiten und den Alltag zu gestalten. In der anfänglichen Kombination aus Methylphenidat und Atomoxetin sei es wesentlich leichter gewesen, die Anforderungen des Alltages zu bewältigen. Als Alternativen kämen noch 2 bis 3 Antidepressiva in Betracht, die aber in ihrer Wirkung dem Elontril® ähnlich seien und keinen weitergehenden Effekt versprächen, zumal sich damit nach Expertenmeinung ohnehin nur in 20 bis 30 Prozent der Fälle überhaupt ein positiver Effekt verzeichnen lasse.
Darüber hinaus hat der Lebenspartner des Klägers, K. B., dem Gericht eine schriftliche Erklärung vom 30.08.2008 vorgelegt, in der er Beeinträchtigungen des Klägers im Alltag beschreibt und berichtet, der Kläger neige unter Stress und nach langen Konzentrationsphasen zu aggressivem Verhalten mit anschließendem Gedächtnisverlust, sei unorganisiert, lustlos und habe Probleme, den Alltag zu bewältigen. Die derzeitige Medikation verursache Depressionen und Antriebslosigkeit. Seine Arbeit bewältige der Kläger nur mit großen Problemen, da er sich unwohl und energielos fühle. Im Gegensatz zur Zeit der Einnahme des Methylphenidat fehle ihm jede Lebensfreude.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akte des Antragsverfahrens Az. S 15 KR 536/06 ER, auf die Verwaltungsakten der Beklagten und auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit der Niederschrift über die Verhandlung am 04.09.2008 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit den Medikamenten Strattera® (Atomoxetin) und Medikinet® retard (Methylphenidat) auf Grundlage von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 des Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung -.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V unter Anderem die Versorgung mit Arzneimitteln. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind.
Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt dabei den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Es kann daher nicht schon zur Leistungspflicht der Beklagten führen, dass die streitige Therapie im Falle des Klägers nach Einschätzung der behandelnden Ärztin positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte sie befürwortet haben (vgl. schon Bundessozialgericht, Urteil vom 05.07.1997, Az. 1 RK 6/95).
Bei der Arzneimittelversorgung knüpft das Krankenversicherungsrecht an das Arzneimittelrecht an, das gemäß § 21 des Arzneimittelgesetzes (AMG) für Fertigarzneimittel eine staatliche Zulassung vorschreibt und deren Erteilung vom Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments abhängig macht. Die arzneimittelrechtliche Zulassung ist damit für die Anwendung des Medikaments im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung vorgreiflich (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2002, Az. B 1 KR 37/00, Urteile vom 26.08.2006, Az. B 1 KR 1/06 R und B 1 KR 14/06 R). Ein Arzneimittel darf dabei, auch wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Wegen der Beschränkung auf die vom Hersteller genannten Anwendungsgebiete sagt die Zulassung nichts darüber aus, ob das betreffende Arzneimittel auch bei anderen Indikationen verträglich und angemessen wirksam ist. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Mittel bei einem Gebrauch außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes schädliche Wirkungen hat, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft über ein vertretbares Maß hinausgehen. Die Erweiterung des Anwendungsgebietes in den Pflichtangaben eines Arzneimittels ist deshalb zustimmungspflichtig (vgl. § 29 Abs. 2a Nr. 1 AMG) und unterliegt in diesem Rahmen einer Neubewertung des therapeutischen Nutzens und des Risikopotenzials.
Bei der vom Kläger begehrten Versorgung mit den Arzneimitteln Strattera® und Medikinet® retard handelt es sich um eine zulassungsüberschreitende Anwendung. Die Zulassungen erstrecken sich nicht auf die Therapie von ADHS bei Erwachsenen, sondern nur auf die bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen. Im Falle von Strattera® ist darüber hinaus die Fortsetzung einer bereits im Kinder- bzw. Jugendalter begonnenen Therapie, jedoch nicht die Neueinstellung, bei Erwachsenen von der Zulassung gedeckt. Da dem Kläger die Medikamente bereits als Volljährigem erstmals verordnet wurden, bewegt sich die Verordnung in beiden Fällen nicht mehr im Bereich der Arzneimittelzulassung.
Eine normative Durchbrechung findet die Beschränkung der Versorgung mit zulassungspflichtigen Arzneimitteln auf die zugelassenen Indikationen in § 35b Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 35b Abs. 2 Satz 1 SGB V und den auf § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V beruhenden Arzneimittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Nach diesen Vorschriften leitet eine Expertengruppe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmens Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz nicht zugelassen sind, dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Empfehlungen zur Aufnahme in die Arzneimittel-Richtlinien (AMR) als Grundlage für die zulassungsüberschreitende Verordnungen der betreffenden Arzneimittel im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung zu (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1525 S. 89; Abschnitt H Nr. 24 ff. in Verbindung mit Anlage 9A AMR). Ein solcher Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zu den hier streitgegenständlichen Präparaten ist bislang noch nicht ergangen. Die zuständige Expertengruppe Neurologie/Psychiatrie beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat den ihr am 20.12.2005 erteilten Arbeitsauftrag betreffend die Verordnung von Methylphenidat zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter einstweilen zurückgestellt. Aus der Untätigkeit allein resultiert indessen keine Verpflichtung der Beklagten zur Versorgung des Klägers mit diesem Arzneimittel wegen eines sog. Systemversagens (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 28.03.2000, Az. B 1 KR 1/98 R). Die fehlende Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in den Arzneimittel-Richtlinien schließt einerseits eine ausnahmsweise zulassungsüberschreitende Verordnung nach den bereits vor Inkrafttreten des § 35b Abs. 3 SGB V von der Rechtsprechung zum Off-Label-Use entwickelten Grundsätzen nicht aus. Andererseits enthält das Gesetz keine zu Gunsten der Versicherten drittgerichtete Verpflichtung der in § 35b Abs. 3 SGB V genannten Gremien zur Aufnahme von Ausnahmeindikationen in die Arzneimittel-Richtlinien, deren Verletzung kompensatorische Ansprüche auf eine zulassungsüberschreitende Versorgung mit Arzneimitteln nach anderen als den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben auslösen würde.
Nach der Rechtsprechung (Bundessozialgericht, Urteile vom 19.03.2002, Az. B 1 KR 37/00 R, vom 26.09.2006, Az. B 1 KR 1/06 R, und vom 27.03.2007, Az. B 1 KR 17/06 R) kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich nur in Betracht, wenn es (1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen, auf Grund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen Off-Label-Use sind erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Ein Off-Label-Use bedeutet, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (Bundessozialgericht, Urteil vom 14.12.2006, Az. B 1 KR 12/06 R). Nur in außergewöhnlichen Notfällen kommt deshalb eine Kostenübernahme im Rahmen einer zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln in Betracht. Dies gilt erst recht, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall bei dem Stimulans Methylphenidat um ein verschreibungspflichtiges Betäubungsmittel nach Anlage III zu § 1 Abs. 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) handelt.
Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Beklagten im Rahmen eines sog. Off-Label-Use weder im Hinblick auf die Schwere der Erkrankung noch im Hinblick auf die verfügbare Datenlage zur Qualität und Wirksamkeit der streitgegenständlichen Arzneimittel erfüllt.
Die Erkrankung des Klägers ist nicht lebensbedrohlich. Die mit ihr einhergehende nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität erreicht auch nicht die Schwere, die sie aus dem Kreis anderer Krankheiten heraushebt.
Dabei muss diese Voraussetzung im Zusammenhang mit der weiteren Voraussetzung für einen zulässigen Off-Label-Use - die Alternativlosigkeit der Behandlung - betrachtet werden. Entscheidend ist also, ob sich die Auswirkungen der Erkrankung auch unter Ausschöpfung der in Frage kommenden Behandlungsalternativen noch als lebensbedrohlich oder sonst schwerwiegend erweisen. Im vorliegenden Fall kommt es also nicht auf die Beurteilung der Schwere von unbehandeltem ADHS an, sondern auf die Beeinträchtigungen, an denen der Kläger trotz der Therapie mit anderen Medikamenten, namentlich Antidepressiva, leidet. Dass es sich um eine schwere Ausprägung von ADHS handelt, ist insoweit nicht ausreichend. Die von Dipl.-Med. F. im Schreiben vom 21.08.2006 als Beleg für die Schwere der Erkrankung angeführten Auswirkungen in mehr als einem Lebensbereich (persönlich, sozial, beruflich) stellen Kriterien für den Ausprägungsgrad von ADHS selbst und dessen Behandlungsbedürftigkeit dar, nicht aber für dessen Schwere im Vergleich mit anderen Erkrankungen. Entscheidend ist vielmehr der Vergleich mit anderen lebensbedrohlichen oder sonst einschneidenden Erkrankungen.
Die nach Ausschöpfung der alternativen Medikation verbleibenden Beeinträchtigungen des Klägers erreichen kein vergleichbar existentielles Ausmaß. Der Kläger hatte bereits vor Beginn der Behandlung mit Methylphenidat eine Ausbildung zum Krankenpfleger und auch nach Absetzen der streitgegenständlichen Arzneimittel eine weitere Berufsausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen erfolgreich abgeschlossen und eine Anstellung gefunden. Seine Belastbarkeit ist zwar gemindert, jedoch nicht in einem Maße aufgehoben, das ihn vom Erreichen einer für seine Altersgruppe normalen beruflichen Teilhabe ausschließen würde. Die geschilderten Probleme, den Alltag zu strukturieren, sind, wenn auch mit Unterstützung durch seinen Lebenspartner überwindbar. Auch in der fast zweistündigen mündlichen Verhandlung mit Zeugenvernehmung sind keine kognitiven oder Verhaltensdefizite zu Tage getreten.
Ein abgesenkter Maßstab für die Beurteilung der Schwere der Erkrankung ist hier nicht gerechtfertigt. Hier liegt kein Beyond Label-Use im Sinne des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13.06.2006, Az. L 5 KR 93/06, vor. Es kann deshalb offen bleiben, ob der diese Entscheidung tragenden Auffassung gefolgt werden kann, bei der Weiterversorgung mit einem für Kinder und Jugendliche zugelassenen Medikament nach Erreichen des Erwachsenenalters komme es nicht auf die Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung oder eine nachhaltige schwere Beeinträchtigung an, vielmehr seien Hinweise auf eine schwere Form der Erkrankung ausreichend. Denn hier geht es nicht um die Weiterführung einer als Kind oder Jugendlicher begonnenen Behandlung nach dem Eintritt der Volljährigkeit. Die Behandlung mit Methylphenidat und Atomoxetin wurde beim Kläger erst im Erwachsenenalter begonnen. An der Bewertung dieses Unterschieds ändert es nichts, dass der Kläger die Medikamente bereits eine Zeitlang als Erwachsener - nach Aussage seiner Ärztin mit gutem Therapieerfolg - eingenommen hatte. Die frühere Verabreichung des Medikaments außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes steht der vom Bayerischen Landessozialgericht beurteilten Konstellation der Weiterführung einer zunächst zulassungskonformen Behandlung über das Zielgruppenalter hinaus nicht gleich. Denn anderenfalls wäre es in das Belieben des Versicherten gestellt, durch die Selbstbeschaffung und versuchsweise Einnahme eines für seinen Fall nicht zugelassenen Medikaments die strengen, aus dem Arzneimittelrecht abgeleiteten Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use zu umgehen.
Die verfügbare Datenlage zur Qualität und Wirksamkeit der streitgegenständlichen Arzneimittel ist nicht ausreichend. Um ein Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung außerhalb seiner Zulassung verordnen zu dürfen, bedarf es während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens einer gleichen Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Nutzen und Risiken des Mittels (Bundessozialgericht, Urteil vom 26.9.2006, Az. B 1 KR 1/06 R). Die verfügbaren Erkenntnisse begründen jedoch nicht die Zulassungsreife für die hier im Streit stehende Indikation.
Dabei ist allein auf die im Inland geltenden Zulassungsmaßstäbe abzustellen. Der Umstand, dass das Methylphenidat-Präparat Concerta® seit dem 27.06.2008 und Strattera® seit 2002 in den Vereinigten Staaten auch für Erwachsene zugelassen ist, enthebt nicht von einer binnenrechtlichen Bewertung.
Für das hier streitgegenständliche Präparat Medikinet retard® hat die M. GmbH & Co. KG bereits im März 2007 einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf Basis einer Phase III-Studie gestellt. Auch wenn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts klinische Studien der Phase III grundsätzlich als geeignet erachtet werden, um den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit zur führen, sieht die Kammer hier die Zulassungsreife nicht als erwiesen an. Die Ergebnisse der von Prof. Dr. Rösler vom Universitätsklinikum des Saarlandes geleiteten multizentrischen, randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie über 24 Wochen "Erwachsene mit MPH retard zur Prüfung der Effektivität und Verträglichkeit bei ADHS" - EMMA-Studie - wurden bislang nicht in vollständiger Form veröffentlicht. Der Allgemeinheit wurden lediglich auszugsweise Präsentationen zu Design und Ergebnissen der Studie, unter anderem auf einem Ärztekongress in Berlin am 24.11.2006, zugänglich gemacht. Bei den grafischen Darstellungen ist zu beachten, dass die Diagramme zur Verlaufsbewertung an Hand des WRI-Totalscores und des CAARS-SR-Mittelwertes nicht an der Nulllinie beginnen, wodurch sich der optisch präsentierte - gleichwohl signifikante - Unterschied zwischen Verum und Placebo relativiert.
Das für die Zustimmung zur Erweiterung des Indikationsgebiets zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat nach Auskunft des Herstellers dem auf die Studie gestützten Erweiterungsantrag nicht entsprochen und beanstandet, dass die Studie unzureichend zwischen Subgruppen differenziere, denen die Therapie in unterschiedlichem Ausmaß zu Gute komme. Das Unternehmen hat daraufhin eine Nachtragsstudie veranlasst, deren Ergebnisse noch nicht vorliegen. Das Gericht sieht sich vor diesem Hintergrund mit Rücksicht auf die originäre Zuständigkeit des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte als Arzneimittelbehörde und den Grundsatz der Gewaltenteilung gehindert, eine von dessen Beurteilung abweichende Bewertung der Studie seiner Entscheidung zu Grunde zu legen.
Nicht gefolgt werden kann dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13.06.2006, Az. L 5 KR 93/06, soweit dies die Auffassung vertritt, seit der Veröffentlichung der Stellungnahme des Vorstandes der Bundesärztekammer zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im "Bundesärzteblatt" (gemeint ist offenbar die Kurzfassung der Stellungnahme in DÄBl. 102 [2005] Nr. 51/52 S. A3609) lägen außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse über die Qualität und Wirksamkeit von Methylphenidat in der Anwendung bei persistierender ADS/ADHS vor, die zuverlässig und wissenschaftlich nachgeprüft seien und auch in einschlägigen Fachkreisen Zustimmung erfahren haben. Die in dem Urteil genannten Quellen belegen nicht die - auch außerhalb eines Zulassungsverfahrens maßgebliche (Bundessozialgericht, Urteil vom 26.09.2006, Az. B 1 KR 1/06 R) - Zulassungsreife des Arzneimittels für die Indikation bei Erwachsenen. Der Senat stützt sich im Wesentlichen darauf, dass die "Studie" (die Stellungnahme vom 26.08.2005) auch von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde im Internet publiziert werde und auf einen mit 14 hochrangigen Spezialisten besetzten Arbeitskreis zurückgehe, welcher insgesamt 207 internationale Publikationen zur streitigen Erkrankung ausgewertet habe. Die Langfassung führe aus, dass bei persistierendem ADS mit klinisch bedeutsamem Schweregrad eine mehrjährige kontinuierliche Medikation bis in das Erwachsenenalter hinein indiziert sei, zudem werde die Stimulantienbehandlung mit Methylphenidat auch im Erwachsenenalter als Therapie der ersten Wahl bezeichnet. Insoweit könne sich die Stellungnahme auf die von Faraone im Jahre 2004 veröffentlichte Arbeit mit 140 Personen und einer Kontrollgruppe von 113 Testpersonen beziehen, wobei auch zu beachten sei, dass Autor/Coautor Faraone mit nicht weniger als in der Stellungnahme zehn zitierten Publikationen über ein dokumentiert anerkanntes Fachwissen verfüge.
Die Stellungnahme der Bundesärztekammer belegt zwar hinsichtlich der Verordnung von Methylphenidat als Therapie der ersten Wahl zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen einen Konsens in den einschlägigen Fachkreisen. Die konkreten Ausführungen, auf die es hier ankommt, sind dort jedoch nicht durch nachprüfbare Angaben belegt. Hierauf weist schon die Grundsatzstellungnahme der Sozialmedizinischen Expertengruppe 6 der MDK-Gemeinschaft "Verordnungsfähigkeit von Methylphenidat bei Erwachsenen mit ADHS (off-label)" vom 16.03.2004 kritisch hin (Bl. 86 ff. [97 R] der Verfahrensakte Az. S 15 KR 536/06 ER). Die Anzahl der ausgewerteten Literaturbelege ist offenkundig kein Kriterium für die wissenschaftliche Qualität der Stellungnahme, zumal jene sich nicht ausschließlich, sondern nur am Rande mit der Behandlung von ADHS bei Erwachsenen befasst; das wissenschaftliche Gewicht der Stellungnahme mit der Anzahl der darin zitierten Publikationen eines Autors als Beleg für dessen fachliche Autorität zu begründen, spricht ohnehin für sich. Die vom Bayerischen Landessozialgericht namentlich erwähnte Veröffentlichung von Faraone (vgl. Fn. 119 der Langfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer: Faraone et al., J Clin Psychopharmacol 2004; 24 [1]: 24-29) beinhaltet eine Metaanalyse, keine klinische Phase III-Studie. Sie kann deshalb keine valideren Aussagen begründen als die Daten der in ihr aggregierten Studien (sog. garbage-in-garbage-out-Problem). Zitiert wird Faraone in der Langfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer mit der Aussage, die wissenschaftliche Basis für die praktische Erfahrung, dass bei Erwachsenen eine geringere körpergewichtsbezogene Dosierung ausreiche, sei nicht eindeutig; vielmehr seien höhere Dosierungen wirksamer. Wörtlich heißt es dort auf Seite 27 f. und 29:
"Fest steht, dass eine höhere Tagesdosis-Therapie das Risiko erheblicher unerwünschter Wirkungen wesentlich vergrößert. Allerdings existieren zum Dosiswirkungsproblem bei Erwachsenen mit ADHS auch andere Befunde. So zeigten Faraone et al. (119) in einer Metaanalyse, dass bei Erwachsenen mit ADHS die höheren Dosen die beste Wirksamkeit aufwiesen, wobei diese Dosen höher lagen als die üblichen für Kinder."
"Nach praktischer Erfahrung benötigen Erwachsene im Vergleich zu Kindern in der Regel eine auf das Körpergewicht bezogene geringere Dosis der Stimulanzien (Übersicht bei (120), S. 139 - 141). Die wissenschaftliche Basis dafür ist allerdings nicht eindeutig (119, 121)."
Die vom Bayerischen Landessozialgericht als Beleg für einen evidenzbasierten fachlichen Konsens angeführte Veröffentlichung erweist sich damit vielmehr als Indiz für grundlegend divergierende Auffassungen über die Dosis-Wirkung-Beziehung von Methylphenidat bei Erwachsenen.
Was die bislang vorliegenden (Kurzzeit-) Studien zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen mit Atomoxetin betrifft, so schließt die Kammer ebenfalls aus den Umständen der bislang unterbliebenen Zulassungserweiterung, dass jene keine ausreichende Basis für einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung darstellen. In diesem Fall ist es der Hersteller selbst, der erst 2008 eine weitere Studie in Auftrag gegeben hat, um die für die Zulassungserweiterung erforderlichen Daten erst zu gewinnen. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass neuere klinische Studien mit dem für die Arzneimittelzulassung erforderlichen Evidenzniveau abgeschlossen und veröffentlicht worden wären, die nicht schon in der Grundsatzstellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Bayern von November 2004, die bereits Gegenstand des Antragsverfahrens war (Bl. 105 ff. der Verfahrensakte Az. S 15 KR 536/06 ER), berücksichtigt sind. Die dortige Einschätzung, dass die verfügbaren Studien einen zu kurzen Zeitraum umfassen, um verlässlich die langfristige Wirksamkeit und den Nutzen von Atomoxetin bei Erwachsenen zu zeigen, wird durch die eingeholte Auskunft der L. GmbH bestätigt.
Auch die Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, führen zu keiner anderen Beurteilung. Das Bundesverfassungsgericht hat in den Gründen dieser Entscheidung ausgeführt, es sei mit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, die Leistung einer selbst gewählten Behandlungsmethode zu verweigern, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Eine Erweiterung des Leistungsrahmens der Gesetzlichen Krankenversicherung fordert das Bundesverfassungsgericht also nur für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankungen, für die eine allgemein anerkannte Behandlung nicht verfügbar ist. Dabei ist nicht erforderlich, dass bereits das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht ist; eine Krankheit ist vielmehr auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren, wenn sie "erst" in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.02.2007, Az. 1 BvR 3101/06); nicht ausreichend ist es dagegen, wenn sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu realisieren droht (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.03.2007, Az. B 1 KR 30/06 R).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die beim Kläger vorliegende Erkrankung kann trotz ihrer möglicherweise schweren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung oder einem dem gleichzustellenden drohenden Verlust eines wichtigen Sinnesorgans auf eine Stufe gestellt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Versorgung mit den Medikamenten Strattera® (Wirkstoff: Atomoxetin) und Medikinet® retard (Wirkstoff: Methylphenidat) im sog. Off-Label-Use zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Der 1986 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Anlässlich der elektroenzephalografischen Untersuchung einer Innenohrschwerhörigkeit wurde beim Kläger im Alter von 10 Jahren ADHS diagnostiziert. Eine medikamentöse Behandlung erfolgte zunächst nicht. Im Jahre 2005 begab sich der damals 19-jährige Kläger nach einer Hirnleistungsdiagnostik auf Überweisung seiner psychologischen Psychotherapeutin in die Behandlung zur Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dipl.-Med. M. F. Diese bestätigte die Diagnose ADHS und nahm die medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat auf, welche sie wegen erheblicher Nebenwirkungen ab Dezember 2005 auf eine Kombinationstherapie von Methylphenidat mit Atomoxetin umstellte. Die Beklagte erbrachte die Behandlung zunächst gegen Vorlage vertragsärztlicher Verordnungen als Sachleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Auf einen Hinweis der Beklagten hin, dass sie die Behandlungskosten nicht weiter übernehme und eine Umstellung der Medikation geprüft werden möge, beantragte der Kläger im September 2006 unter Vorlage eines Schreibens seiner Neurologin Dipl.-Med. F. vom 21.08.2006 die Weiterführung der Behandlung mit den Arzneimitteln Medikinet® retard und Strattera®.
Mit Bescheid vom 28.09.2006 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Die begehrten Präparate seien nicht zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen zugelassen. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use seien nicht erfüllt, weil es sich nicht um eine seltene Erkrankung handele und Behandlungsalternativen zur Verfügung stünden.
Dagegen erhob der Kläger am 12.10.2006 Widerspruch und beantragte am 24.10.2006 beim Sozialgericht Dresden den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung trug er vor, die Voraussetzungen eines Off-Label-Use lägen bei ihm vor. Er leide unter einer schweren Ausprägung von ADHS. Auf Grund dessen habe er nach seiner Ausbildung zum Krankenpflegehelfer in diesem Beruf keine Anstellung erhalten. Ohne die Medikamente sei der erfolgreiche Abschluss der nach zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit und Teilnahme an einer berufsfördernden Maßnahme am 27.06.2006 aufgenommenen Ausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen gefährdet, weil sich erst mit deren Einnahme sein psychischer Zustand stabilisiert habe. Er habe erhebliche Probleme im Interaktions- und Ausdauerleistungsverhalten. Derzeit sei kein Medikament für ADHS im Erwachsenenalter zugelassen. Auf Grund des Wirksamkeitsnachweises in klinischen Studien werde die Behandlung mit Methylphenidat in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde als medikamentöse Therapie der ersten Wahl empfohlen. Zum selben Ergebnis komme auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer. Diesem zufolge seien pharmakologische Therapien und psychotherapeutische Verfahren die spezifische Behandlungsoptionen bei ADHS im Erwachsenenalter. In der medikamentösen Behandlung seien Stimulanzien (Methylphenidat) auf Grund ihrer erwiesenen Wirksamkeit die Medikamente der ersten Wahl. Als Medikament zweiter Wahl könne nach dem derzeitigen Kenntnisstand Atomoxetin angesehen werden. Ohne Weiterbewilligung der Medikamente sei der Ausbildungsabschluss gefährdet.
Das Sozialgericht lehnte den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 09.11.2006, Az. S 15 KR 536/06 ER, ab. Seine hiergegen zum Landessozialgericht erhobene (später zurückgenommene) Beschwerde, Az. L 1 B 424/06 KR-ER, begründete der Kläger damit, bei ihm liege ein schwerer Ausprägungsgrad der Erkrankung vor. Auf Grund des zwischenzeitlichen Absetzens der Medikamente sei er am 05.11.2006 erneut arbeitsunfähig geworden. Nachdem der Psychologische Dienst des Berufsförderungswerkes in der am 27.06.2006 begonnenen Ausbildung bis zum September 2006 unter der Medikation mit den streitgegenständlichen Arzneimitteln eine gute Entwicklung beobachtet habe, sei es wieder zu erheblichen Konzentrations- und Stimmungsschwankungen, leichter Ablenkbarkeit und Blockaden der Merk- und Erinnerungsfähigkeit sowie stärkeren emotionalen Reaktionen gekommen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2006 zurück. Die Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Anwendung seien nicht erfüllt. Es fehle an einem Wirksamkeitsbeleg im Rahmen einer Phase III-Studie. Eine derzeit laufende multizentrische Zulassungsstudie sei noch nicht abgeschlossen. Es liege auch keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, vor.
Hiergegen richtet sich die am 13.12.2006 beim Sozialgericht Dresden eingegangene Klage. Der Kläger macht geltend, die Behandlung orientiere sich an Leitlinien auf Basis eines Expertenkonsensus, wonach die Behandlung mit Methylphenidat auf Grund von Studien als wirksam bewertet und als Therapie der ersten Wahl empfohlen werde. Es gebe keine effektive Alternative zur pharmakologischen Therapie mit Atomoxetin und Methylphenidat. Durch die Behandlung sei es ihm gelungen, eine berufsvorbereitende Maßnahme zu absolvieren und eine Ausbildung aufzunehmen. Nach Absetzen der Medikamente sei das Ausbildungsziel gefährdet. Die Erkrankung sei geeignet, die Lebensqualität nachhaltig zu beeinflussen und lebensbedrohliche Ausmaße anzunehmen. Wenn man sich die Nebenwirkungen der Alternativmedikamente und die Langzeitfolgen ansehe, sei die Lebensqualität nachhaltig beeinflusst. Es könne nicht darauf ankommen, dass der Patient tatsächlich schon in seinem Leben bedroht ist. Der Preisunterschied von 70,00 EUR zwischen den Medikamentenalternativen rechtfertige auch aus wirtschaftlicher Sicht nicht die Ablehnung des Antrages. Weil der Kläger das Medikament bereits, wenn auch als Erwachsener, erhalten habe, sei die Sachlage ähnlich zu beurteilen wie die Weiterverordnung von Methylphenidat im Erwachsenenalter im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes vom 13.06.2006, Az. L 5 KR 93/06.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 28.09.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.12.2006 zu verurteilen, die Kosten für die Behandlung mit den Medikamenten Strattera® (Atomoxetin) und Medikinet® retard (Methylphenidat) zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Ansicht liegen die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use der nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Medikamente nicht vor. Der Kläger leide nicht an einer schwerwiegenden lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung. Ferner lägen gegenwärtig keine ausreichend großen Phase III-Studien vor, welche die Wirksamkeit der Arzneimittel belegen würden. Eine hiervon abweichende Beurteilung ergebe sich auch nicht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, weil beim Kläger keine lebensbedrohliche oder sogar regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliege. Auf die Abgabe des Medikaments im Jahr 2005 könne sich der Kläger nicht stützen, weil die Krankenkasse bereits hierfür die Kosten nicht hätte übernehmen dürfen.
Das Gericht hat eine Auskunft der M. GmbH & Co. KG eingeholt. Diese teilte mit Schreiben vom 27.09.2007 mit, dass für das Arzneimittel Medikinet® retard eine klinische Phase III-Studie durchgeführt worden sei, deren Ergebnisse am 24.11.2006 veröffentlicht wurden; das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte habe jedoch eine Aufschlüsselung der Patientenpopulation verlangt, da nicht alle Patienten gleichermaßen von der Behandlung profitiert hätten.
Die L. GmbH teilte mit Schreiben vom 19.10.2007 mit, eine Langzeitstudie zum Beginn einer Behandlung mit Strattera® bei Erwachsenen solle Mitte des Jahres 2008 beginnen. Bislang seien eine offene Langzeitstudie und drei Kurzzeitstudien der Phase III publiziert worden. Auf Grund Letzterer seit Strattera® in den USA, Kanada, Mexiko, Australien und Neuseeland zur Behandlung Erwachsener zugelassen.
Das Gericht hat die behandelnde Ärztin des Klägers, Dipl.-Med. M. F., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, in der mündlichen Verhandlung zu den Einzelheiten des Krankheitsbildes, der Therapie, des Behandlungsverlaufs und der in Frage kommenden Behandlungsalternativen als sachverständige Zeugin gehört. Die Zeugin hat berichtet, das Krankheitsbild äußere sich beim Kläger nicht nur in der Aufmerksamkeitsstörung, die sich vor allem auf die Gedächtnisinhalte bezieht, sondern auch in einer motorischen Unruhe, inneren Angespanntheit, Nicht-abschalten-können und Ablenkbarkeit. Vor allem sei die Impulsivität sehr ausgeprägt. Da Methylphenidat nicht so stark auf die Impulskontrolle wirke und der Kläger relativ hohe Wirkungsdosen benötige, aber die Höchstdosis an Methylphenidat bereits ausgeschöpft sei, reiche die alleinige Gabe dieses Medikaments nicht aus, sondern es sei ergänzend Atomoxetin zu verordnen. Der Kläger habe unter dieser Medikation angegeben, er sei ruhig und ausgeglichen und könne seinen Tag gut strukturieren. Der Eindruck in der Untersuchung habe das bestätigt. Nachdem sie auf den Hinweis der Beklagten hin Methylphenidat nicht mehr verordnet hat, sei der Kläger im September 2006 in eine schwere depressive Phase geraten und habe berichtet, er bekomme in der Ausbildung nichts mehr mit und sei nur durch die Unterstützung seines Partners im Alltag nicht völlig verwahrlost. Daraufhin habe sie Antidepressiva verordnet, die aber kein Ersatzpräparat für das Methylphenidat darstellten. Als Ende 2006 eine Affektsteuerungsstörung mit wütenden Stimmungen, Aufgeregtheit und rasch wechselnder Verfassung in den Vordergrund getreten sei, habe sie zur besseren Affektsteuerung Valproat verschrieben, wodurch die Stimmungsschwankungen etwas abgenommen hätten, die Konzentrationsfähigkeit jedoch äußerst beeinträchtigt geblieben sei. Zudem habe der Kläger bei vorbestehender Adipositas und Hypertonie unter Valproat 18 kg zugenommen. Seit Juni 2007 sei der Kläger auf Elontril® eingestellt, ein antriebsteigerndes Antidepressivum als Medikament der dritten Wahl bei ADHS. Damit sei die Stimmungslage des Klägers derzeit ausgeglichen, jedoch bestünden weiterhin kognitive Einschränkungen, wie Konzentrationsstörungen, hohe Ablenkbarkeit und Antriebsstörungen. Ohne die Unterstützung seines Partners könne der Kläger seinen Alltag vermutlich nicht ausreichend strukturieren. Nach ungefähr zwei Stunden nehme die Konzentration stark ab. Der Kläger bedürfe mehr Pausen und arbeite ineffektiv. Daraus resultierten wiederum Selbstwertzweifel und entsprechende Stimmungsbeeinträchtigungen, die wiederum nur medikamentös abgepuffert werden können. Elontril® habe den Kläger sicherlich befähigt, die Ausbildung abzuschließen. Da es sich nicht um ein spezifisches Medikament zur Behandlung von ADHS handele, werde es ihn jedoch nicht in die Lage versetzen, effektiv strukturiert und selbstbestimmt zu arbeiten und den Alltag zu gestalten. In der anfänglichen Kombination aus Methylphenidat und Atomoxetin sei es wesentlich leichter gewesen, die Anforderungen des Alltages zu bewältigen. Als Alternativen kämen noch 2 bis 3 Antidepressiva in Betracht, die aber in ihrer Wirkung dem Elontril® ähnlich seien und keinen weitergehenden Effekt versprächen, zumal sich damit nach Expertenmeinung ohnehin nur in 20 bis 30 Prozent der Fälle überhaupt ein positiver Effekt verzeichnen lasse.
Darüber hinaus hat der Lebenspartner des Klägers, K. B., dem Gericht eine schriftliche Erklärung vom 30.08.2008 vorgelegt, in der er Beeinträchtigungen des Klägers im Alltag beschreibt und berichtet, der Kläger neige unter Stress und nach langen Konzentrationsphasen zu aggressivem Verhalten mit anschließendem Gedächtnisverlust, sei unorganisiert, lustlos und habe Probleme, den Alltag zu bewältigen. Die derzeitige Medikation verursache Depressionen und Antriebslosigkeit. Seine Arbeit bewältige der Kläger nur mit großen Problemen, da er sich unwohl und energielos fühle. Im Gegensatz zur Zeit der Einnahme des Methylphenidat fehle ihm jede Lebensfreude.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akte des Antragsverfahrens Az. S 15 KR 536/06 ER, auf die Verwaltungsakten der Beklagten und auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit der Niederschrift über die Verhandlung am 04.09.2008 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit den Medikamenten Strattera® (Atomoxetin) und Medikinet® retard (Methylphenidat) auf Grundlage von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 des Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung -.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V unter Anderem die Versorgung mit Arzneimitteln. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind.
Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt dabei den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Es kann daher nicht schon zur Leistungspflicht der Beklagten führen, dass die streitige Therapie im Falle des Klägers nach Einschätzung der behandelnden Ärztin positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte sie befürwortet haben (vgl. schon Bundessozialgericht, Urteil vom 05.07.1997, Az. 1 RK 6/95).
Bei der Arzneimittelversorgung knüpft das Krankenversicherungsrecht an das Arzneimittelrecht an, das gemäß § 21 des Arzneimittelgesetzes (AMG) für Fertigarzneimittel eine staatliche Zulassung vorschreibt und deren Erteilung vom Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments abhängig macht. Die arzneimittelrechtliche Zulassung ist damit für die Anwendung des Medikaments im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung vorgreiflich (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2002, Az. B 1 KR 37/00, Urteile vom 26.08.2006, Az. B 1 KR 1/06 R und B 1 KR 14/06 R). Ein Arzneimittel darf dabei, auch wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Wegen der Beschränkung auf die vom Hersteller genannten Anwendungsgebiete sagt die Zulassung nichts darüber aus, ob das betreffende Arzneimittel auch bei anderen Indikationen verträglich und angemessen wirksam ist. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Mittel bei einem Gebrauch außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes schädliche Wirkungen hat, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft über ein vertretbares Maß hinausgehen. Die Erweiterung des Anwendungsgebietes in den Pflichtangaben eines Arzneimittels ist deshalb zustimmungspflichtig (vgl. § 29 Abs. 2a Nr. 1 AMG) und unterliegt in diesem Rahmen einer Neubewertung des therapeutischen Nutzens und des Risikopotenzials.
Bei der vom Kläger begehrten Versorgung mit den Arzneimitteln Strattera® und Medikinet® retard handelt es sich um eine zulassungsüberschreitende Anwendung. Die Zulassungen erstrecken sich nicht auf die Therapie von ADHS bei Erwachsenen, sondern nur auf die bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen. Im Falle von Strattera® ist darüber hinaus die Fortsetzung einer bereits im Kinder- bzw. Jugendalter begonnenen Therapie, jedoch nicht die Neueinstellung, bei Erwachsenen von der Zulassung gedeckt. Da dem Kläger die Medikamente bereits als Volljährigem erstmals verordnet wurden, bewegt sich die Verordnung in beiden Fällen nicht mehr im Bereich der Arzneimittelzulassung.
Eine normative Durchbrechung findet die Beschränkung der Versorgung mit zulassungspflichtigen Arzneimitteln auf die zugelassenen Indikationen in § 35b Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 35b Abs. 2 Satz 1 SGB V und den auf § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V beruhenden Arzneimittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Nach diesen Vorschriften leitet eine Expertengruppe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmens Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz nicht zugelassen sind, dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Empfehlungen zur Aufnahme in die Arzneimittel-Richtlinien (AMR) als Grundlage für die zulassungsüberschreitende Verordnungen der betreffenden Arzneimittel im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung zu (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1525 S. 89; Abschnitt H Nr. 24 ff. in Verbindung mit Anlage 9A AMR). Ein solcher Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zu den hier streitgegenständlichen Präparaten ist bislang noch nicht ergangen. Die zuständige Expertengruppe Neurologie/Psychiatrie beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat den ihr am 20.12.2005 erteilten Arbeitsauftrag betreffend die Verordnung von Methylphenidat zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter einstweilen zurückgestellt. Aus der Untätigkeit allein resultiert indessen keine Verpflichtung der Beklagten zur Versorgung des Klägers mit diesem Arzneimittel wegen eines sog. Systemversagens (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 28.03.2000, Az. B 1 KR 1/98 R). Die fehlende Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in den Arzneimittel-Richtlinien schließt einerseits eine ausnahmsweise zulassungsüberschreitende Verordnung nach den bereits vor Inkrafttreten des § 35b Abs. 3 SGB V von der Rechtsprechung zum Off-Label-Use entwickelten Grundsätzen nicht aus. Andererseits enthält das Gesetz keine zu Gunsten der Versicherten drittgerichtete Verpflichtung der in § 35b Abs. 3 SGB V genannten Gremien zur Aufnahme von Ausnahmeindikationen in die Arzneimittel-Richtlinien, deren Verletzung kompensatorische Ansprüche auf eine zulassungsüberschreitende Versorgung mit Arzneimitteln nach anderen als den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben auslösen würde.
Nach der Rechtsprechung (Bundessozialgericht, Urteile vom 19.03.2002, Az. B 1 KR 37/00 R, vom 26.09.2006, Az. B 1 KR 1/06 R, und vom 27.03.2007, Az. B 1 KR 17/06 R) kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich nur in Betracht, wenn es (1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen, auf Grund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen Off-Label-Use sind erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Ein Off-Label-Use bedeutet, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (Bundessozialgericht, Urteil vom 14.12.2006, Az. B 1 KR 12/06 R). Nur in außergewöhnlichen Notfällen kommt deshalb eine Kostenübernahme im Rahmen einer zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln in Betracht. Dies gilt erst recht, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall bei dem Stimulans Methylphenidat um ein verschreibungspflichtiges Betäubungsmittel nach Anlage III zu § 1 Abs. 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) handelt.
Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Beklagten im Rahmen eines sog. Off-Label-Use weder im Hinblick auf die Schwere der Erkrankung noch im Hinblick auf die verfügbare Datenlage zur Qualität und Wirksamkeit der streitgegenständlichen Arzneimittel erfüllt.
Die Erkrankung des Klägers ist nicht lebensbedrohlich. Die mit ihr einhergehende nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität erreicht auch nicht die Schwere, die sie aus dem Kreis anderer Krankheiten heraushebt.
Dabei muss diese Voraussetzung im Zusammenhang mit der weiteren Voraussetzung für einen zulässigen Off-Label-Use - die Alternativlosigkeit der Behandlung - betrachtet werden. Entscheidend ist also, ob sich die Auswirkungen der Erkrankung auch unter Ausschöpfung der in Frage kommenden Behandlungsalternativen noch als lebensbedrohlich oder sonst schwerwiegend erweisen. Im vorliegenden Fall kommt es also nicht auf die Beurteilung der Schwere von unbehandeltem ADHS an, sondern auf die Beeinträchtigungen, an denen der Kläger trotz der Therapie mit anderen Medikamenten, namentlich Antidepressiva, leidet. Dass es sich um eine schwere Ausprägung von ADHS handelt, ist insoweit nicht ausreichend. Die von Dipl.-Med. F. im Schreiben vom 21.08.2006 als Beleg für die Schwere der Erkrankung angeführten Auswirkungen in mehr als einem Lebensbereich (persönlich, sozial, beruflich) stellen Kriterien für den Ausprägungsgrad von ADHS selbst und dessen Behandlungsbedürftigkeit dar, nicht aber für dessen Schwere im Vergleich mit anderen Erkrankungen. Entscheidend ist vielmehr der Vergleich mit anderen lebensbedrohlichen oder sonst einschneidenden Erkrankungen.
Die nach Ausschöpfung der alternativen Medikation verbleibenden Beeinträchtigungen des Klägers erreichen kein vergleichbar existentielles Ausmaß. Der Kläger hatte bereits vor Beginn der Behandlung mit Methylphenidat eine Ausbildung zum Krankenpfleger und auch nach Absetzen der streitgegenständlichen Arzneimittel eine weitere Berufsausbildung zum Kaufmann im Gesundheitswesen erfolgreich abgeschlossen und eine Anstellung gefunden. Seine Belastbarkeit ist zwar gemindert, jedoch nicht in einem Maße aufgehoben, das ihn vom Erreichen einer für seine Altersgruppe normalen beruflichen Teilhabe ausschließen würde. Die geschilderten Probleme, den Alltag zu strukturieren, sind, wenn auch mit Unterstützung durch seinen Lebenspartner überwindbar. Auch in der fast zweistündigen mündlichen Verhandlung mit Zeugenvernehmung sind keine kognitiven oder Verhaltensdefizite zu Tage getreten.
Ein abgesenkter Maßstab für die Beurteilung der Schwere der Erkrankung ist hier nicht gerechtfertigt. Hier liegt kein Beyond Label-Use im Sinne des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13.06.2006, Az. L 5 KR 93/06, vor. Es kann deshalb offen bleiben, ob der diese Entscheidung tragenden Auffassung gefolgt werden kann, bei der Weiterversorgung mit einem für Kinder und Jugendliche zugelassenen Medikament nach Erreichen des Erwachsenenalters komme es nicht auf die Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung oder eine nachhaltige schwere Beeinträchtigung an, vielmehr seien Hinweise auf eine schwere Form der Erkrankung ausreichend. Denn hier geht es nicht um die Weiterführung einer als Kind oder Jugendlicher begonnenen Behandlung nach dem Eintritt der Volljährigkeit. Die Behandlung mit Methylphenidat und Atomoxetin wurde beim Kläger erst im Erwachsenenalter begonnen. An der Bewertung dieses Unterschieds ändert es nichts, dass der Kläger die Medikamente bereits eine Zeitlang als Erwachsener - nach Aussage seiner Ärztin mit gutem Therapieerfolg - eingenommen hatte. Die frühere Verabreichung des Medikaments außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes steht der vom Bayerischen Landessozialgericht beurteilten Konstellation der Weiterführung einer zunächst zulassungskonformen Behandlung über das Zielgruppenalter hinaus nicht gleich. Denn anderenfalls wäre es in das Belieben des Versicherten gestellt, durch die Selbstbeschaffung und versuchsweise Einnahme eines für seinen Fall nicht zugelassenen Medikaments die strengen, aus dem Arzneimittelrecht abgeleiteten Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use zu umgehen.
Die verfügbare Datenlage zur Qualität und Wirksamkeit der streitgegenständlichen Arzneimittel ist nicht ausreichend. Um ein Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung außerhalb seiner Zulassung verordnen zu dürfen, bedarf es während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens einer gleichen Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Nutzen und Risiken des Mittels (Bundessozialgericht, Urteil vom 26.9.2006, Az. B 1 KR 1/06 R). Die verfügbaren Erkenntnisse begründen jedoch nicht die Zulassungsreife für die hier im Streit stehende Indikation.
Dabei ist allein auf die im Inland geltenden Zulassungsmaßstäbe abzustellen. Der Umstand, dass das Methylphenidat-Präparat Concerta® seit dem 27.06.2008 und Strattera® seit 2002 in den Vereinigten Staaten auch für Erwachsene zugelassen ist, enthebt nicht von einer binnenrechtlichen Bewertung.
Für das hier streitgegenständliche Präparat Medikinet retard® hat die M. GmbH & Co. KG bereits im März 2007 einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf Basis einer Phase III-Studie gestellt. Auch wenn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts klinische Studien der Phase III grundsätzlich als geeignet erachtet werden, um den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit zur führen, sieht die Kammer hier die Zulassungsreife nicht als erwiesen an. Die Ergebnisse der von Prof. Dr. Rösler vom Universitätsklinikum des Saarlandes geleiteten multizentrischen, randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie über 24 Wochen "Erwachsene mit MPH retard zur Prüfung der Effektivität und Verträglichkeit bei ADHS" - EMMA-Studie - wurden bislang nicht in vollständiger Form veröffentlicht. Der Allgemeinheit wurden lediglich auszugsweise Präsentationen zu Design und Ergebnissen der Studie, unter anderem auf einem Ärztekongress in Berlin am 24.11.2006, zugänglich gemacht. Bei den grafischen Darstellungen ist zu beachten, dass die Diagramme zur Verlaufsbewertung an Hand des WRI-Totalscores und des CAARS-SR-Mittelwertes nicht an der Nulllinie beginnen, wodurch sich der optisch präsentierte - gleichwohl signifikante - Unterschied zwischen Verum und Placebo relativiert.
Das für die Zustimmung zur Erweiterung des Indikationsgebiets zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat nach Auskunft des Herstellers dem auf die Studie gestützten Erweiterungsantrag nicht entsprochen und beanstandet, dass die Studie unzureichend zwischen Subgruppen differenziere, denen die Therapie in unterschiedlichem Ausmaß zu Gute komme. Das Unternehmen hat daraufhin eine Nachtragsstudie veranlasst, deren Ergebnisse noch nicht vorliegen. Das Gericht sieht sich vor diesem Hintergrund mit Rücksicht auf die originäre Zuständigkeit des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte als Arzneimittelbehörde und den Grundsatz der Gewaltenteilung gehindert, eine von dessen Beurteilung abweichende Bewertung der Studie seiner Entscheidung zu Grunde zu legen.
Nicht gefolgt werden kann dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13.06.2006, Az. L 5 KR 93/06, soweit dies die Auffassung vertritt, seit der Veröffentlichung der Stellungnahme des Vorstandes der Bundesärztekammer zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im "Bundesärzteblatt" (gemeint ist offenbar die Kurzfassung der Stellungnahme in DÄBl. 102 [2005] Nr. 51/52 S. A3609) lägen außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse über die Qualität und Wirksamkeit von Methylphenidat in der Anwendung bei persistierender ADS/ADHS vor, die zuverlässig und wissenschaftlich nachgeprüft seien und auch in einschlägigen Fachkreisen Zustimmung erfahren haben. Die in dem Urteil genannten Quellen belegen nicht die - auch außerhalb eines Zulassungsverfahrens maßgebliche (Bundessozialgericht, Urteil vom 26.09.2006, Az. B 1 KR 1/06 R) - Zulassungsreife des Arzneimittels für die Indikation bei Erwachsenen. Der Senat stützt sich im Wesentlichen darauf, dass die "Studie" (die Stellungnahme vom 26.08.2005) auch von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde im Internet publiziert werde und auf einen mit 14 hochrangigen Spezialisten besetzten Arbeitskreis zurückgehe, welcher insgesamt 207 internationale Publikationen zur streitigen Erkrankung ausgewertet habe. Die Langfassung führe aus, dass bei persistierendem ADS mit klinisch bedeutsamem Schweregrad eine mehrjährige kontinuierliche Medikation bis in das Erwachsenenalter hinein indiziert sei, zudem werde die Stimulantienbehandlung mit Methylphenidat auch im Erwachsenenalter als Therapie der ersten Wahl bezeichnet. Insoweit könne sich die Stellungnahme auf die von Faraone im Jahre 2004 veröffentlichte Arbeit mit 140 Personen und einer Kontrollgruppe von 113 Testpersonen beziehen, wobei auch zu beachten sei, dass Autor/Coautor Faraone mit nicht weniger als in der Stellungnahme zehn zitierten Publikationen über ein dokumentiert anerkanntes Fachwissen verfüge.
Die Stellungnahme der Bundesärztekammer belegt zwar hinsichtlich der Verordnung von Methylphenidat als Therapie der ersten Wahl zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen einen Konsens in den einschlägigen Fachkreisen. Die konkreten Ausführungen, auf die es hier ankommt, sind dort jedoch nicht durch nachprüfbare Angaben belegt. Hierauf weist schon die Grundsatzstellungnahme der Sozialmedizinischen Expertengruppe 6 der MDK-Gemeinschaft "Verordnungsfähigkeit von Methylphenidat bei Erwachsenen mit ADHS (off-label)" vom 16.03.2004 kritisch hin (Bl. 86 ff. [97 R] der Verfahrensakte Az. S 15 KR 536/06 ER). Die Anzahl der ausgewerteten Literaturbelege ist offenkundig kein Kriterium für die wissenschaftliche Qualität der Stellungnahme, zumal jene sich nicht ausschließlich, sondern nur am Rande mit der Behandlung von ADHS bei Erwachsenen befasst; das wissenschaftliche Gewicht der Stellungnahme mit der Anzahl der darin zitierten Publikationen eines Autors als Beleg für dessen fachliche Autorität zu begründen, spricht ohnehin für sich. Die vom Bayerischen Landessozialgericht namentlich erwähnte Veröffentlichung von Faraone (vgl. Fn. 119 der Langfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer: Faraone et al., J Clin Psychopharmacol 2004; 24 [1]: 24-29) beinhaltet eine Metaanalyse, keine klinische Phase III-Studie. Sie kann deshalb keine valideren Aussagen begründen als die Daten der in ihr aggregierten Studien (sog. garbage-in-garbage-out-Problem). Zitiert wird Faraone in der Langfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer mit der Aussage, die wissenschaftliche Basis für die praktische Erfahrung, dass bei Erwachsenen eine geringere körpergewichtsbezogene Dosierung ausreiche, sei nicht eindeutig; vielmehr seien höhere Dosierungen wirksamer. Wörtlich heißt es dort auf Seite 27 f. und 29:
"Fest steht, dass eine höhere Tagesdosis-Therapie das Risiko erheblicher unerwünschter Wirkungen wesentlich vergrößert. Allerdings existieren zum Dosiswirkungsproblem bei Erwachsenen mit ADHS auch andere Befunde. So zeigten Faraone et al. (119) in einer Metaanalyse, dass bei Erwachsenen mit ADHS die höheren Dosen die beste Wirksamkeit aufwiesen, wobei diese Dosen höher lagen als die üblichen für Kinder."
"Nach praktischer Erfahrung benötigen Erwachsene im Vergleich zu Kindern in der Regel eine auf das Körpergewicht bezogene geringere Dosis der Stimulanzien (Übersicht bei (120), S. 139 - 141). Die wissenschaftliche Basis dafür ist allerdings nicht eindeutig (119, 121)."
Die vom Bayerischen Landessozialgericht als Beleg für einen evidenzbasierten fachlichen Konsens angeführte Veröffentlichung erweist sich damit vielmehr als Indiz für grundlegend divergierende Auffassungen über die Dosis-Wirkung-Beziehung von Methylphenidat bei Erwachsenen.
Was die bislang vorliegenden (Kurzzeit-) Studien zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen mit Atomoxetin betrifft, so schließt die Kammer ebenfalls aus den Umständen der bislang unterbliebenen Zulassungserweiterung, dass jene keine ausreichende Basis für einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung darstellen. In diesem Fall ist es der Hersteller selbst, der erst 2008 eine weitere Studie in Auftrag gegeben hat, um die für die Zulassungserweiterung erforderlichen Daten erst zu gewinnen. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass neuere klinische Studien mit dem für die Arzneimittelzulassung erforderlichen Evidenzniveau abgeschlossen und veröffentlicht worden wären, die nicht schon in der Grundsatzstellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Bayern von November 2004, die bereits Gegenstand des Antragsverfahrens war (Bl. 105 ff. der Verfahrensakte Az. S 15 KR 536/06 ER), berücksichtigt sind. Die dortige Einschätzung, dass die verfügbaren Studien einen zu kurzen Zeitraum umfassen, um verlässlich die langfristige Wirksamkeit und den Nutzen von Atomoxetin bei Erwachsenen zu zeigen, wird durch die eingeholte Auskunft der L. GmbH bestätigt.
Auch die Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, führen zu keiner anderen Beurteilung. Das Bundesverfassungsgericht hat in den Gründen dieser Entscheidung ausgeführt, es sei mit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, die Leistung einer selbst gewählten Behandlungsmethode zu verweigern, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Eine Erweiterung des Leistungsrahmens der Gesetzlichen Krankenversicherung fordert das Bundesverfassungsgericht also nur für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankungen, für die eine allgemein anerkannte Behandlung nicht verfügbar ist. Dabei ist nicht erforderlich, dass bereits das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht ist; eine Krankheit ist vielmehr auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren, wenn sie "erst" in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.02.2007, Az. 1 BvR 3101/06); nicht ausreichend ist es dagegen, wenn sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu realisieren droht (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.03.2007, Az. B 1 KR 30/06 R).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die beim Kläger vorliegende Erkrankung kann trotz ihrer möglicherweise schweren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung oder einem dem gleichzustellenden drohenden Verlust eines wichtigen Sinnesorgans auf eine Stufe gestellt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Rechtskraft
Aus
Login
FSS
Saved