S 40 U 225/16 WA

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
40
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 40 U 225/16 WA
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Es wird festgestellt, dass der geschlossene Prozessvergleich vom 6. Februar 2015 das Verfahren S 40 U 68/11 beendet hat. 2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob das ursprüngliche Hauptsacheverfahren durch einen Prozessvergleich beendet wurde.

Im ursprünglichen Verfahren (S 40 U 68/11) stritten die Beteiligten in einem Überprüfungsverfahren über die Änderung der Veranlagung des Unternehmens der Klägerin zu den Gefahrklassen und die entsprechende Beitragsrelevanz.

Mit Wirkung zum 1. Januar 2012 überwies die Beklagte das Unternehmen der Klägerin an die B.

In einem Erörterungstermin bei Gericht am 6. Februar 2015 schlossen die Beteiligten nach langer und ausführlicher Diskussion zur Erledigung des Rechtstreites folgenden Vergleich:

1. Die Verfahren werden übereinstimmend für erledigt erklärt. 2. Die Klägerseite kann der Beklagten die Veranlagung der B. für das Jahr 2012 in der Weise vorlegen und nachweisen, dass bei der B. der Imbiss als Hilfsunternehmen veranlagt wurde (Gefahrtarif Klasse 4,2 und nicht 7,7, als Nebenunternehmen). In diesem Fall würde die Beklagte die Beiträge für die Jahre 2009, 2010 und 2011 entsprechend korrigieren und der Klägerseite erstatten. 3. In Anbetracht des Prozessrisikos für beide Beteiligten werden die Kosten von Beiden jeweils zur Hälfte getragen. 4. Nach Diskussion verzichten beide Beteiligten auf ein Rücktrittsrecht vom Vergleich. Laut diktiert und genehmigt, auf Vorspielen wird verzichtet. Beschluss: Im Verfahren S 40 U 68/11 wird der Streitwert auf 5.000 Euro festgesetzt. Im Verfahren S 40 U 276/11 wird der Streitwert auf 5.423,57 Euro festgesetzt. Die Beteiligten erklären einen Rechtsmittelverzicht gegen diesen Beschluss. Laut diktiert und genehmigt, auf Vorspielen wird verzichtet.

Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2015 reichte der Bevollmächtigte der Klägerin seine Kostennote bei Gericht ein. Mit Schriftsatz vom 13. März 2015 führte die Beklagte aus, gegen die Festsetzung der Kosten würden keine Bedenken bestehen. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 13. April 2015 wurden die Kosten entsprechend festgesetzt und von der Beklagten beglichen.

Mit Schriftsatz vom 27. April 2016 – Eingang bei Gericht am 2. Mai 2016 – beantragte die Beklagte die Fortführung des Verfahrens mit der Begründung, der Prozessvergleich sei wegen Formmangels nichtig. Zur Erläuterung hat die Beklagte ausgeführt, dass sie nach "reiflicher Überlegung" zum Ergebnis gekommen sei, dass nach eingehender Prüfung des Sachverhaltes der Prozessvergleich das Verfahren nicht wirksam beendet habe. Zur Begründung hat die Beklagte weiter vorgetragen, dass sich die Nichtigkeit aus formalen Gründen ergebe. Nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) seien Vergleiche im Protokoll, also auch in der Niederschrift im Sinne des § 101 Sozialgerichtsgesetz (SGG), festzustellen. Nach § 162 Abs. 1 ZPO sei das Protokoll insoweit, als es Feststellungen nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 ZPO enthalte, den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen. Bei einer vorläufigen Aufzeichnung genüge das Vorlesen oder Abspielen der Aufzeichnung. Wie sich aus dem Protokoll über den Termin vom 6. Februar 2015 ergebe, sei die dortige Vereinbarung nur "laut diktiert und genehmigt" worden. Auf das Vorlesen sei verzichtet worden. Dies widerspreche der Regelung des § 162 Abs. 1 ZPO. Der Verzicht auf das Vorlesen des Diktats sei gemäß dieser Vorschrift ausschließlich in den Fällen des § 160 Abs. 3 Nr. 4 und 5 ZPO zulässig. Durch die nicht ordnungsgemäße Protokollierung sei insoweit kein prozessbeendender Vergleich geschlossen worden, daher müsse das Verfahren fortgesetzt werden. Weiter hat die Beklagte umfangreich ausgeführt, dass es sich auch nicht um einen außergerichtlichen Vergleich handeln würde, denn dieser sei aufgrund der erforderlichen Schriftform unwirksam.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen (sinngemäß gefasst), festzustellen, dass das Verfahren nicht durch den Prozessvergleich von 6. Februar 2015 beendet wurde, sondern fortzusetzen ist. Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

festzustellen, dass der geschlossene Prozessvergleich vom 6. Februar 2015 das Verfahren beendet hat. Die Klägerin ist der Auffassung, dass das Verfahren durch den geschlossenen Vergleich im gerichtlichen Termin am 6. Februar 2015 beendet wurde. Sie hat hierzu ebenfalls umfangreich vorgetragen.

Das Gericht hat mit den Beteiligten am 14. Oktober 2016 einen weiteren ausführlichen Erörterungstermin durchgeführt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakten (S 40 U 276/11 – S 40 U 226/16 WA und S 40 U 68/11 - S 40 U 225/16 WA) und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der Erörterung und Entscheidungsfindung der Kammer.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (vgl. § 124 Abs. 2 SGG).

Die Kammer stellt fest, dass der in der nichtöffentlichen Sitzung des Gerichts am 6. Februar 2015 im Protokoll zur Niederschrift festgehaltene Vergleich den Rechtsstreit nach § 101 SGG beendet hat.

Nach § 101 Abs. 1 SGG können die Beteiligten zur Niederschrift des Gerichts oder des Vorsitzenden oder des beauftragten oder ersuchten Richters einen Vergleich schließen, um den geltend gemachten Anspruch vollständig oder zum Teil zu erledigen, soweit sie über den Gegenstand der Klage verfügen können. Ein gerichtlicher Vergleich kann auch dadurch geschlossen werden, dass die Beteiligten einen in der Form eines Beschlusses ergangenen Vorschlag des Gerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters schriftlich gegenüber dem Gericht annehmen.

Diese Wirkung ist, nachdem angesichts des Streites über deren Wirksamkeit der Rechtstreit fortgesetzt worden ist, durch Urteil festzustellen. Der Prozessvergleich ist wirksam und hat das gerichtliche Ausgangsverfahren beendet. Die Beteiligten konnten wirksam über den Streitgegenstand des Vergleiches verfügen.

Nach der herrschenden Rechtsprechung und Literatur hat ein gerichtlicher Vergleich eine Doppelnatur. Er ist sowohl ein öffentlich-rechtlicher Vertrag, als auch eine Prozesshandlung der Beteiligten. Aufgrund einer möglichen bestehenden Ungewissheit über den Anspruch der Beteiligten soll durch gegenseitiges Nachgeben – sowohl materieller und oder prozessualer Art – über den Streitgegenstand eine Regelung zur Beendigung des Rechtsstreites getroffen werden. Der Anwendungsbereich eines gerichtlichen Vergleiches im sozialgerichtlichen Verfahren ist sehr umfangreich. Wesentliche Grundvoraussetzung für die wirksame Schließung eines Prozessvergleiches sind, dass die Beteiligten prozessfähig und beteiligten fähig sind, und über den Streitgegenstand verfügen können. Weiter sind prozessrechtliche Voraussetzungen zu beachten. Insoweit gelten die Vorschriften der Zivilprozessordnung gemäß § 122 SGG, insbesondere die §§ 160ff ZPO.

Nach § 162 Abs. 1 ZPO ist das Protokoll insoweit, als es Feststellungen nach § 160 Abs. 1 Nummer 3 enthält, den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen. Ist der Inhalt des Protokolls nur vorläufig aufgezeichnet, so genügt es, wenn die Aufzeichnungen vorgelesen oder abgespielt werden. In dem Protokoll ist zu vermerken, dass dies geschehen und die Genehmigung erteilt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind.

Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass die vorläufige Aufzeichnung des protokollierten Vergleiches nicht abgespielt wurde, dies führt jedoch nicht zur formellen Unwirksamkeit des geschlossenen Vergleiches. Bereits aus § 162 Abs. 1 Satz 3 ZPO ergibt sich, dass im Protokoll zu vermerken ist, dass dies geschehen ist, und die Genehmigung erteilt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind. Das Gericht hat im Termin am 6. Februar 2015 den gerichtlichen Vergleich als vorläufige Aufzeichnung laut diktiert und sich dieses "laute Diktat" von den rechtskundigen Beteiligten genehmigen lassen. Die Beteiligten haben auf ausdrückliches Nachfragen des Gerichts auf das Vorspielen der vorläufigen Aufzeichnung ausdrücklich verzichtet. Damit sind gerade keine Einwendungen im Sinne des § 162 Abs. 1 Satz 3 ZPO erhoben worden. Weder die Klägerseite, noch die Beklagte haben hinsichtlich des geschlossenen Vergleiches inhaltliche oder formelle Bedenken geäußert, sondern ausdrücklich auf ein Vorspielen, welches vom Gericht angefragt wurde, verzichtet.

Dieser ausdrückliche Verzicht kann nach Auffassung der Kammer gerade im vorliegenden Fall nicht dazu führen, dass die Beklagte, als rechtskundiger Beteiligter, nach knapp 15 Monaten (!) "nach reiflicher Überlegung" zu dem Ergebnis kommt, sich auf eine Rechtsunwirksamkeit des geschlossenen (Prozess-)Vergleiches zu berufen.

Es handelt sich vorliegend nicht um die bloße "floskelhafte" Auskürzung "v.u.g." bzw. "laut diktiert und genehmigt", die nach herrschender Auffassung, der sich der Kammer anschließt, regelmäßig zur formellen Unwirksamkeit eines prozessbeenden Vergleiches führt. Vorliegend handelt es sich um den wesentlich abweichenden Fall, dass die rechtskundigen Beteiligten ausdrücklich auf ihr prozessuales Recht "des nochmaligen Vorspielens der vorläufigen Aufzeichnung" bewusst verzichtet haben. Mit diesem formalen Erfordernis sollen Missverständnisse und Protokollierungsfehler vermieden werden (Richtigkeitsgewähr) vgl. Stadler in Musielak/Voit, ZPO 13. Auflage 2016 zu § 162 Rz.: 1.). Vorliegend kann in keinster Weise von Missverständnissen oder sonstigen Fehlern ausgegangen werden, denn die Beteiligten haben sich gerade auf diesen Inhalt des Vergleiches – nach langen Verhandlungen – verständigt.

Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist eine "Richtigkeitsgewähr" mit der Überprüfungsmöglichkeit des wesentlichen Protokollinhaltes durch die Beteiligten (vgl. Stöber in Zöller ZPO-Kommentar 31. Aufl. 2017, zu § 162 Rn. 1 ZPO). Zu Recht weisen Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann (Kommentar zur Zivilprozessordnung 73. Aufl. 2017, zu § 162 ZPO Rz. 1) darauf hin, dass man den Formalismus des § 162 nicht übertreiben sollte. Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an. Gerade der vorliegende Fall zeigt, dass das Berufen auf einen möglichen "formellen Mangel" zu schnell in eine Rechtsmissbräuchlichkeit führen kann. Es ist mit der herrschenden Meinung klar darauf abzustellen, dass die Formvorschrift des § 162 ZPO eine Richtigkeitsgewähr mit der Überprüfungsmöglichkeit des wesentlichen Protokollinhaltes durch die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung garantieren soll. Nach langen Verhandlungen vor Gericht ist es nicht Sinn und Zweck der (Form-)Vorschrift, dass sich ein Beteiligter lange nach Abschluss eines – schwierigen – Rechtstreites auf formelle Mängel berufen soll, wenn diese tatsächlich nicht vorliegen. Ist ein vorläufig aufgezeichneter Vergleich inhaltlich nicht identisch mit dem, was tatsächlich "Vergleichsgegenstand" der Prozesserklärung vor Gericht war, dann kann und muss ein Beteiligter das (formelle) Recht haben, den Inhalt und die Form zu rügen, wenn der Vergleich nicht vorgespielt wurde und die abgegebene prozessuale Erklärung nicht dem entspricht. So liegt der Fall hier aber nicht. Es würde dem Sinn und Zweck der Norm zuwiderlaufen, wenn ein (möglicher) Formmangel nicht unverzüglich, sondern Wochen oder Monate, sogar Jahre später gerügt und zu einer Fortführung eines abgeschlossenen Verfahrens führen würden. Die Kammer folgt einer solchen strengen Auslegung des § 162 Abs. 1 ZPO nicht. Insbesondere wird aus den einschlägigen Kommentierungen zur ZPO nicht klar benannt, welche Sachverhalte konkret dieser strengen Auffassung zu Grunde liegen sollen. Der vorliegende Sachverhalt zeigt gerade, dass die Auffassung von Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann (Kommentar zur Zivilprozessordnung 73. Aufl. 2017, zu § 162 ZPO Rz. 1) zutreffend ist, und ein "Formalismus" zu prüfen ist, bevor eine formelle Unwirksamkeit festgestellt wird.

Vorliegend ergibt sich aus dem geschlossenen Vergleich ebenfalls, dass die Beklagte rechtswirksam auf ein "Rücktrittsrecht vom Vergleich" verzichtet hatte, und sich daher an den Vergleich gebunden hatte. Auch einen Rechtsmittelverzicht gegen den Streitwertbeschluss hatten die Beteiligten erklärt. Entsprechend wirksam konnte die Beklagte, wie auch die Klägerin, auf das formale erforderliche Vorspielen verzichten. Eine unverzügliche Rüge ist nicht erfolgt.

Ob der Fall möglicherweise anders zu beurteilen wäre, wenn sich ein Beteiligter unverzüglich nach Kenntnis eines protokollierten Vergleiches auf die formelle Unwirksamkeit beruft, und insoweit die Fortsetzung des Verfahrens beantragt, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, denn ein solcher Fall liegt nach fast 15 Monaten nicht vor.

Im vorliegenden Fall verstößt es im Übrigen gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), wenn sich die Beklagte nach knapp 15 Monaten auf die formelle Unwirksamkeit des Vergleiches beruft.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtordnung.
Rechtskraft
Aus
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