Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 R 235/07
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Kammer schließt sich der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG an, der in seinem Urteil vom 16. Mai 2006 – B 4 RA 22/05 R, SozR 4-2600 § 77 Nr. 3 SGB VI, entschieden hat, dass die Praxis der Rentenversicherungsträger, bei einem Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung, das bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahres entstanden ist, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres durch Bestimmung eines niedrigeren Zugangsfaktors (Rentenabschlag) einen Teil der vom Rentner für die Rentenversicherung erbrachten Vorleistung unberücksichtigt zu lassen, gesetz- und verfassungswidrig ist.
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Renten-beginn eine höhere Rente zu gewähren. 2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente.
Dem am 1 1948 geborenen Kläger wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 20. Dezember 2006 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. September 2005 gewährt. Bei der Rentenberechnung verminderte die Beklagte den Zugangsfaktor von 1,0 für 36 Kalendermonate um insgesamt 0,108 auf einen Wert von 0,892.
Dagegen erhob der Kläger am 2. Januar 2007 Widerspruch. Entsprechend dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) sei bei der Berechnung seiner Rente ein Zugangsfaktor von 1,0 zu berücksichtigen.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2007 als unbegründet zurück. Mit dem BSG-Urteil, auf das sich der Kläger berufe, werde eine völlig neue und der Intention des Gesetzes entgegen gesetzte Sichtweise formuliert. Anders als das BSG sei der Gesetzgeber eindeutig davon ausgegangen, dass auch die Erwerbsminderungsrenten mit einem Abschlag zu versehen sind, die vor dem 60. Lebens-jahr in Anspruch genommen werden.
Dagegen hat der Kläger am 23. Februar 2007 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Er beruft sich weiterhin auf die genannte BSG-Entscheidung.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 zu verurteilen, ihm unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn eine höhere Rente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 ist rechtswidrig soweit damit bei der Rentenberechnung ein Zugangsfaktor von unter 1,0 berücksichtigt wird und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn.
Zu Unrecht hat die Beklagte der Rentenberechnung einen um Abschläge verminderten Zugangsfaktor zugrunde gelegt. Gemäß § 77 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Durch einen niedrigeren Zugangsfaktor als 1,0 soll entsprechend § 63 Abs. 5 SGB VI der Vorteil einer längeren Rentenbezugsdauer ausgeglichen werden. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderungsrente vorzeitig in Anspruch genommen wird, kann allenfalls – ohne verfassungswidrige Willkür – und überhaupt nur eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht hat, in Betracht kommen (vgl. BSG 16. Mai 2006 – B 4 RA 22/05 R, SozR 4-2600 § 77 Nr. 3). § 77 Abs. 2 Satz 3 GB VI formuliert ausdrücklich, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist, wenn die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend.
Zu Recht führt das BSG nach Auffassung der Kammer in der hier streitigen Entscheidung (vgl. BSG a. a. O.) an, dass die Vorleistungsbezogenheit der Rente ein Grundpfeiler des Leistungsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung ist. Das heißt, dass stets der volle Wert der Vorleistung bei der Rentenhöhe berücksichtigt werden muss – also ein Zugangsfaktor von 1,0 -, es sei denn, dass besondere im Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe es ausnahmsweise erlauben, ihn teilweise unberücksichtigt zu lassen. Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers bei der Inanspruchnahme der Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr nicht gegeben.
Nach § 63 Abs. 5 SGB VI ist eine Durchbrechung des Prinzips der (vor-) leistungsbezogenen Rente auf die Fälle einer notwendigen Abschmelzung systemwidriger, ungerechtfertigter Vermögensvorteile infolge eines gegenüber dem Normalfall längeren Rentenbezugs begrenzt (vgl. BSG a. a. O.). § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI stellt klar, dass es vorzeitige Erwerbsminderungsrenten bei Rentenbeginn vor dem 63. Lebensjahr gibt, lässt aber offen, wann der Vorzeitigkeitszeitraum beginnt. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI legt den frühesten Beginn der Vorzeitigkeit wie bei den Altersrenten auf die Vollendung des 60. Lebensjahres fest. Das Gesetz schließt damit einen verringerten Zugangsfaktor für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus.
Diese Auslegung wird – wie das BSG zu Recht anführt – durch die Entstehungsgeschichte des EM-Reformgesetzes, mit dem die hier maßgeblichen Vorschriften eingeführt wurden, gestützt. Denn prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor durch das EM-Reformgesetz war, die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten anzupassen und damit Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken (BT-Drucks. 14/4230). Ein solches Ausweichen kommt jedoch frühestens bei einem Rentenbezug nach Vollendung des 60. Lebensjahres in Betracht. Von einer Rentenkürzung bei den Erwerbsminderungs-renten ist in der Gesetzesbegründung keine Rede. Die Auslegung der Beklagten, die den Kläger so stellt, als hätte er das 60. Lebensjahr bereits vollendet, findet im Gesetz keine Stütze (vgl. BSG a. a. O.). Vielmehr legt dieses fest, dass Erwerbsminderungsrenten erst dann einer Bestimmung des Zugangsfaktors unterworfen sind, wenn der Rentner das 60. Lebensjahr vollendet hat und damit erstmals ein Ausweichen vor Abschlägen bei Altersrenten überhaupt theoretisch möglich ist (vgl. BSG a. a. O.). § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI stellt insoweit klar, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres, bei denen ein Ausweichen vor den Abschlägen bei vorzeitigen Altersrenten schlechthin nicht in Betracht kommt, ordnet das Gesetz also ausdrücklich an, dass keine unterschiedliche (längere) Rentenbezugsdauer im Vergleich zu den 63- bis 65-jährigen Erwerbsminderungs-rentnern und kein zu vermeidender Vorteil im Sinne des § 63 Abs. 5 SGB VI vorliegt (vgl. BSG a. a. O.).
Die Kammer schließt sich mit dieser Auslegung auch dem Deutschen Gewerkschaftsbund an, der zu Recht anführte, dass es bei Erwerbsminderungsrenten geradezu zynisch ist, den Eintritt des Versicherungsfalls vor dem 60. Lebensjahr mit einem "vorzeitigen" Rentenbezug zu vergleichen (vgl. Mey "Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten unter 60?" RVaktuell 3/2007, Seite 48 m. w. N.). Denn die Erwerbsminderung tritt völlig unabhängig vom Willen der Versicherten ein. Sie haben im Gegensatz zu den Altersrentnern schlichtweg keine Wahlmöglichkeit, ob sie bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze weiterarbeiten oder eine vorzeitige Rente in Anspruch nehmen möchten. So führt schließlich auch Plagemann – bei aller Kritik – in seiner Urteilsbesprechung vom 5. Oktober 2006 an, dass man auch mit dem BSG aus sozialstaatlicher Sicht argumentieren "könnte", dass eine Rente wegen Erwerbsminderung vor dem 60. Lebensjahr gerade nicht die gleiche Funktion hat wie eine Erwerbsminderungsrente danach, die einen Entgeltausfall finanzieren soll, der mit einem höheren Unterhaltsbedarf korrespondiert: Vor dem 60. Lebensjahr könnten z. B. noch Unterhaltspflichten bestehen. Der "Häuslebauer" kalkuliert den Schuldenabtrag in aller Regel für die Dauer eines durchschnittlichen Erwerbslebens usw. (Plagemann JurisPR-SozR 20/2006 Anm. 4).
Zwar mag es zwar richtig sein, dass der Gesetzgeber – wie die Beklagte anführt – einen verminderten Zugangsfaktor auch für die Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 60. Lebensjahr einführen wollte (so auch Mey a. a. O., Seite 44 ff., unter Hinweis auf die gleichzeitig angehobene Zurechnungszeit). Die Ausgestaltung die der Gesetzgeber dazu aber – unterstellt er beabsichtigte eine solche Regelung – gewählt hat, erfüllt nicht die Anforderungen, die an eine solche Regelung zu stellen sind. Denn eine Rentenkürzung der Erwerbsminderungsrenten (und nur um eine solche handelt es sich, wenn man den Willen des Gesetzgebers im o. g. Sinne unterstellt) entgegen dem Systemgrundsatz der (vor-) leistungsbezogenen Rente erfordert wie das BSG richtig ausgeführt hat eine ausdrücklich und klar ausgestaltete Regelung. Der Gesetzgeber hat aber stattdessen eine völlig offene Regelung gewählt, die mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt. Die Auslegung hat daher verfassungskonform zum Schutz der Versicherten zu erfolgen. Bei der verfassungskonformen Auslegung sind die Gerichte und die Behörden dazu berechtigt und verpflichtet, von mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige vorzuziehen, die mit der Verfassung am besten in Einklang steht. Diese Auslegung muss sich lediglich innerhalb des Rahmens halten, der durch den Wortlaut und eindeutige (!) gesetzgeberische Ziele gezogen sind. Solche eindeutigen Ziele des Gesetzgebers vermag die Kammer in diesem Fall nicht zu erkennen. Allein der Tatsache, dass der Gesetzgeber gleichzeitig die Zurechnungszeit erhöhte, ist ein "klar erkennbarer" Wille nicht zu entnehmen (a. A. Plagemann a. a. O.). Denn die Erhöhung der Zurechnungszeit mildert die hinzunehmenden Abschläge auch nach der Auslegung des BSG für die Versicherten ab, die vor Beginn des 60. Lebensjahres und darüber hinaus eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese "Milderung" erscheint insoweit auch sachgerecht, als andererseits gerade denjenigen Versicherten, die erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres erwerbsgemindert werden und somit erstmals an ein "Ausweichen" in die Erwerbsminderungsrente denken könnten, nicht von der Anhebung der Zurechnungszeit profitieren. Dies entspricht den für die Kammer "klar erkennbaren" Zielen des Gesetzgebers, nämlich der Verhinderung von Ausweichsituationen.
Keinesfalls darf in die Auslegung der Norm das Argument der Folgekosten für die Sozialver-sicherung mit hineingezogen werden (so aber SG Aachen 9. Februar 2007 – S 8 R 96/06). Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung sind gerade nicht durch die volkswirt-schaftlichen Auswirkungen einer bestimmten Auslegungsmöglichkeit zu ziehen. Vielmehr haben sich die Gerichte und Behörden bei der Auslegung allein an den Wertungen der Verfassung und wie hier an den Systemgrundsätzen der Sozialversicherung zu orientieren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente.
Dem am 1 1948 geborenen Kläger wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 20. Dezember 2006 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. September 2005 gewährt. Bei der Rentenberechnung verminderte die Beklagte den Zugangsfaktor von 1,0 für 36 Kalendermonate um insgesamt 0,108 auf einen Wert von 0,892.
Dagegen erhob der Kläger am 2. Januar 2007 Widerspruch. Entsprechend dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) sei bei der Berechnung seiner Rente ein Zugangsfaktor von 1,0 zu berücksichtigen.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2007 als unbegründet zurück. Mit dem BSG-Urteil, auf das sich der Kläger berufe, werde eine völlig neue und der Intention des Gesetzes entgegen gesetzte Sichtweise formuliert. Anders als das BSG sei der Gesetzgeber eindeutig davon ausgegangen, dass auch die Erwerbsminderungsrenten mit einem Abschlag zu versehen sind, die vor dem 60. Lebens-jahr in Anspruch genommen werden.
Dagegen hat der Kläger am 23. Februar 2007 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Er beruft sich weiterhin auf die genannte BSG-Entscheidung.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 zu verurteilen, ihm unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn eine höhere Rente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 ist rechtswidrig soweit damit bei der Rentenberechnung ein Zugangsfaktor von unter 1,0 berücksichtigt wird und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn.
Zu Unrecht hat die Beklagte der Rentenberechnung einen um Abschläge verminderten Zugangsfaktor zugrunde gelegt. Gemäß § 77 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Durch einen niedrigeren Zugangsfaktor als 1,0 soll entsprechend § 63 Abs. 5 SGB VI der Vorteil einer längeren Rentenbezugsdauer ausgeglichen werden. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderungsrente vorzeitig in Anspruch genommen wird, kann allenfalls – ohne verfassungswidrige Willkür – und überhaupt nur eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht hat, in Betracht kommen (vgl. BSG 16. Mai 2006 – B 4 RA 22/05 R, SozR 4-2600 § 77 Nr. 3). § 77 Abs. 2 Satz 3 GB VI formuliert ausdrücklich, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist, wenn die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend.
Zu Recht führt das BSG nach Auffassung der Kammer in der hier streitigen Entscheidung (vgl. BSG a. a. O.) an, dass die Vorleistungsbezogenheit der Rente ein Grundpfeiler des Leistungsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung ist. Das heißt, dass stets der volle Wert der Vorleistung bei der Rentenhöhe berücksichtigt werden muss – also ein Zugangsfaktor von 1,0 -, es sei denn, dass besondere im Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe es ausnahmsweise erlauben, ihn teilweise unberücksichtigt zu lassen. Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers bei der Inanspruchnahme der Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr nicht gegeben.
Nach § 63 Abs. 5 SGB VI ist eine Durchbrechung des Prinzips der (vor-) leistungsbezogenen Rente auf die Fälle einer notwendigen Abschmelzung systemwidriger, ungerechtfertigter Vermögensvorteile infolge eines gegenüber dem Normalfall längeren Rentenbezugs begrenzt (vgl. BSG a. a. O.). § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI stellt klar, dass es vorzeitige Erwerbsminderungsrenten bei Rentenbeginn vor dem 63. Lebensjahr gibt, lässt aber offen, wann der Vorzeitigkeitszeitraum beginnt. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI legt den frühesten Beginn der Vorzeitigkeit wie bei den Altersrenten auf die Vollendung des 60. Lebensjahres fest. Das Gesetz schließt damit einen verringerten Zugangsfaktor für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus.
Diese Auslegung wird – wie das BSG zu Recht anführt – durch die Entstehungsgeschichte des EM-Reformgesetzes, mit dem die hier maßgeblichen Vorschriften eingeführt wurden, gestützt. Denn prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor durch das EM-Reformgesetz war, die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten anzupassen und damit Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken (BT-Drucks. 14/4230). Ein solches Ausweichen kommt jedoch frühestens bei einem Rentenbezug nach Vollendung des 60. Lebensjahres in Betracht. Von einer Rentenkürzung bei den Erwerbsminderungs-renten ist in der Gesetzesbegründung keine Rede. Die Auslegung der Beklagten, die den Kläger so stellt, als hätte er das 60. Lebensjahr bereits vollendet, findet im Gesetz keine Stütze (vgl. BSG a. a. O.). Vielmehr legt dieses fest, dass Erwerbsminderungsrenten erst dann einer Bestimmung des Zugangsfaktors unterworfen sind, wenn der Rentner das 60. Lebensjahr vollendet hat und damit erstmals ein Ausweichen vor Abschlägen bei Altersrenten überhaupt theoretisch möglich ist (vgl. BSG a. a. O.). § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI stellt insoweit klar, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres, bei denen ein Ausweichen vor den Abschlägen bei vorzeitigen Altersrenten schlechthin nicht in Betracht kommt, ordnet das Gesetz also ausdrücklich an, dass keine unterschiedliche (längere) Rentenbezugsdauer im Vergleich zu den 63- bis 65-jährigen Erwerbsminderungs-rentnern und kein zu vermeidender Vorteil im Sinne des § 63 Abs. 5 SGB VI vorliegt (vgl. BSG a. a. O.).
Die Kammer schließt sich mit dieser Auslegung auch dem Deutschen Gewerkschaftsbund an, der zu Recht anführte, dass es bei Erwerbsminderungsrenten geradezu zynisch ist, den Eintritt des Versicherungsfalls vor dem 60. Lebensjahr mit einem "vorzeitigen" Rentenbezug zu vergleichen (vgl. Mey "Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten unter 60?" RVaktuell 3/2007, Seite 48 m. w. N.). Denn die Erwerbsminderung tritt völlig unabhängig vom Willen der Versicherten ein. Sie haben im Gegensatz zu den Altersrentnern schlichtweg keine Wahlmöglichkeit, ob sie bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze weiterarbeiten oder eine vorzeitige Rente in Anspruch nehmen möchten. So führt schließlich auch Plagemann – bei aller Kritik – in seiner Urteilsbesprechung vom 5. Oktober 2006 an, dass man auch mit dem BSG aus sozialstaatlicher Sicht argumentieren "könnte", dass eine Rente wegen Erwerbsminderung vor dem 60. Lebensjahr gerade nicht die gleiche Funktion hat wie eine Erwerbsminderungsrente danach, die einen Entgeltausfall finanzieren soll, der mit einem höheren Unterhaltsbedarf korrespondiert: Vor dem 60. Lebensjahr könnten z. B. noch Unterhaltspflichten bestehen. Der "Häuslebauer" kalkuliert den Schuldenabtrag in aller Regel für die Dauer eines durchschnittlichen Erwerbslebens usw. (Plagemann JurisPR-SozR 20/2006 Anm. 4).
Zwar mag es zwar richtig sein, dass der Gesetzgeber – wie die Beklagte anführt – einen verminderten Zugangsfaktor auch für die Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 60. Lebensjahr einführen wollte (so auch Mey a. a. O., Seite 44 ff., unter Hinweis auf die gleichzeitig angehobene Zurechnungszeit). Die Ausgestaltung die der Gesetzgeber dazu aber – unterstellt er beabsichtigte eine solche Regelung – gewählt hat, erfüllt nicht die Anforderungen, die an eine solche Regelung zu stellen sind. Denn eine Rentenkürzung der Erwerbsminderungsrenten (und nur um eine solche handelt es sich, wenn man den Willen des Gesetzgebers im o. g. Sinne unterstellt) entgegen dem Systemgrundsatz der (vor-) leistungsbezogenen Rente erfordert wie das BSG richtig ausgeführt hat eine ausdrücklich und klar ausgestaltete Regelung. Der Gesetzgeber hat aber stattdessen eine völlig offene Regelung gewählt, die mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt. Die Auslegung hat daher verfassungskonform zum Schutz der Versicherten zu erfolgen. Bei der verfassungskonformen Auslegung sind die Gerichte und die Behörden dazu berechtigt und verpflichtet, von mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige vorzuziehen, die mit der Verfassung am besten in Einklang steht. Diese Auslegung muss sich lediglich innerhalb des Rahmens halten, der durch den Wortlaut und eindeutige (!) gesetzgeberische Ziele gezogen sind. Solche eindeutigen Ziele des Gesetzgebers vermag die Kammer in diesem Fall nicht zu erkennen. Allein der Tatsache, dass der Gesetzgeber gleichzeitig die Zurechnungszeit erhöhte, ist ein "klar erkennbarer" Wille nicht zu entnehmen (a. A. Plagemann a. a. O.). Denn die Erhöhung der Zurechnungszeit mildert die hinzunehmenden Abschläge auch nach der Auslegung des BSG für die Versicherten ab, die vor Beginn des 60. Lebensjahres und darüber hinaus eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese "Milderung" erscheint insoweit auch sachgerecht, als andererseits gerade denjenigen Versicherten, die erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres erwerbsgemindert werden und somit erstmals an ein "Ausweichen" in die Erwerbsminderungsrente denken könnten, nicht von der Anhebung der Zurechnungszeit profitieren. Dies entspricht den für die Kammer "klar erkennbaren" Zielen des Gesetzgebers, nämlich der Verhinderung von Ausweichsituationen.
Keinesfalls darf in die Auslegung der Norm das Argument der Folgekosten für die Sozialver-sicherung mit hineingezogen werden (so aber SG Aachen 9. Februar 2007 – S 8 R 96/06). Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung sind gerade nicht durch die volkswirt-schaftlichen Auswirkungen einer bestimmten Auslegungsmöglichkeit zu ziehen. Vielmehr haben sich die Gerichte und Behörden bei der Auslegung allein an den Wertungen der Verfassung und wie hier an den Systemgrundsätzen der Sozialversicherung zu orientieren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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