S 26 KR 59/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Köln (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
26
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 26 KR 59/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller bei der Antragsgegnerin nach Maßgabe des § 264 SGB V anzumelden und der Antragsgegnerin Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall sowie eines angemessenen Teils ihrer Verwaltungskosten zu gewährleisten. Die Beigeladene wird ferner verpflichtet, dem Antragsteller ab 01.05.2006 vorläufig bis zur Durchführung der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V Krankenbehandlung nach Maßgabe des § 48 Satz 1 SGB XII zu gewähren. Im Übrigen wird der Eilantrag zurückgewiesen. Kosten sind unter den Beteiligten nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Antragsgegnerin oder die Beigeladene dem Antragsteller Krankenversicherungsschutz gewähren muss. Der im Jahre 1962 geborene Antragsteller leidet unter HIV, steht laufend in ärztlicher Behandlung und wird mit Medikamenten therapiert. Nach eigenen Angaben war er von 1998 bis Dezember 2003 über das Sozialamt krankenversichert, während in der Zeit vom 01.01.2005 bis 30.04.2006 wegen des Bezuges von Arbeitslosengeld II eine Pflichtmitgliedschaft bei der Antragsgegnerin bestand. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.03.2006 lehnte die Deutsche Rentenversicherung bestandskräftig den Antrag des Klägers auf Erwerbsminderungsrente ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, nach den medizinischen Ermittlungen sei der Antragsteller seit dem 18.04.2005 bis voraussichtlich 30.11.2007 erwerbsgemindert. Dennoch bestehe kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, weil der Antragsteller die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt habe. Mit einem am 26.04.2006 bei der Antragsgegnerin eingegangenem Antrag erklärte der Antragsteller, er wolle ab 01.05.2006 Mitglied der Antragsgegnerin werden. Mit einem weiteren Schreiben vom 26.04.2006 stellte der Antragsteller bei der Beigeladenen einen Antrag auf Übernahme der Krankenhilfeleistungen ab 01.05.2006, weil zur Zeit ungeklärt sei, ob er sich bei der Antragsgegnerin freiwillig krankenversichern könne. Nachdem die ARGE Köln die Bewilligung von Arbeitslosengeld II mit Wirkung ab 01.05.2006 aufgehoben hatte, bezieht der Antragsteller ab Mai 2006 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII von der Beigeladenen. Diese hat nach eigenen Angaben den Antragsteller seinerzeit aufgefordert, bei der Antragsgegnerin eine freiwillige Weiterversicherung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V zu beantragen. Mit Bescheid vom 26.04.2006 hat die Antragsgegnerin die Durchführung einer freiwilligen Weiterversicherung des Antragstellers ab 01.05.2006 abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, Voraussetzung für den freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung sei, dass der Antrag auf die freiwillige Versicherung innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der letzten Versicherung gestellt werde und dass der Antragsteller vor dem Ausscheiden aus der Versicherung mindestens zwölf Monate ununterbrochen oder in den letzten fünf Jahren mindestens 24 Monate versichert gewesen sei; Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden habe, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen worden sei, würden nicht berücksichtigt. Der Antragsteller sei von der Agentur für Arbeit bei der Antragsgegnerin zum 01.01.2005 als Bezieher von Arbeitslosengeld II als Mitglied gemeldet worden. Nach Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 09.03.2006 sei der Antragsteller seit 18.04.2005 erwerbsgemindert. Auf Grund der Erwerbsminderung ab 18.04.2005 sei das Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen worden und die notwendige ununterbrochene Vorversicherungszeit von mindestens zwölf Monaten nicht erfüllt. Hiergegen legte der Antragsteller am 15.05.2006 Widerspruch ein und stellte am 18.05.2006 gegen die Antragsgegnerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der Antragsteller beantragt schriftlich,

die Antragsgegnerin im Eilverfahren zu verurteilen, ihm umgehend Krankenversicherungsschutz zu gewähren, hilfsweise die Beigeladene zu verpflichten, für die Kosten der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V aufzukommen, wobei die Krankenbehandlung von der Antragsgegnerin übernommen werden solle, beziehungsweise ihm Krankenversicherungsschutz zur Verfügung zu stellen.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftlich,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen auf § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V und vertritt im Ergebnis die Auffassung, dass materiellrechtlich geprüft werden müsse, ob der Antragsteller das Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 18.04.2005 bis zum 30.05.2006 zu Unrecht bezogen habe. Dies sei der Fall, da der Antragsteller in diesem Zeitraum bereits voll erwerbsgemindert gewesen sei (vgl. Schreiben der Deutschen Rentenversicherung vom 24.05.2006 an die Antragsgegnerin, Blatt 27 Verwaltungsakte der Antragsgegnerin). Auf die formelle Betrachtung komme es hingegen nicht an. Unerheblich sei deshalb, dass die ARGE Köln das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 18.04.2005 bis 30.04.2006 möglicherweise nicht vom Antragsteller zurückfordere, weil es sich bei dem ursprünglich, diese Leistung bewilligenden Bescheid um einen begünstigenden Verwaltungsakt handele, dessen Rücknahme für die Vergangenheit nicht möglich sei. Zuständig für die Gewährung von Krankenversicherungsschutz sei hier die Stadt Köln als offensichtlich zuerst angegangener Leistungsträger, welche den Antragsteller aber an die Antragsgegnerin verwiesen habe.

Die Beigeladene beantragt schriftlich,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig bis zur Bestandskraft des Bescheides der Antragsgegnerin vom 26.04.2006 als freiwillig Versicherten in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen.

Sie meint, die Antragsgegnerin sei der zuerst angegangene Leistungsträger und schon deshalb zur Leistung verpflichtet. Im Übrigen dürfe § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2. Halbsatz SGB V nicht rückwirkend, sondern erst ab 31.12.2005 angewendet werden. Die Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II seien bei Berechnung der Vorversicherungszeiten zu berücksichtigen, da der Leistungsbezug nicht zu Unrecht erfolgt sei. Denn Rechtsgrund für den Leistungsbezug seien die Bescheide der ARGE Köln, die erst mit Wirkung vom 01.05.2006 aufgehoben worden seien. Im Übrigen sei § 44 a Satz 1 SGB II zu beachten. Danach stelle die Agentur für Arbeit (beziehungsweise ARGE) fest, ob der Arbeitssuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig sei. Die Feststellung eines unrechtmäßigen Bezuges von Arbeitslosengeld II wegen Erwerbsunfähigkeit obliege mithin der ARGE. Auf Grund der eindeutigen Rechtslage sei der Verweis der Antragsgegnerin auf die Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialhilfe für die Beigeladene nicht zumutbar.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

Der Eilantrag ist zulässig und im Sinne des Hilfsantrages auch begründet. Der Hauptantrag hingegen war zurückzuweisen.

Nach § 86 b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes voraus; bei Abwägung aller betroffenen Interessen muss es dem Antragsteller unzumutbar sein, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Nach herrschender Meinung darf jedoch grundsätzlich eine einstweilige Anordnung die endgültige Entscheidung nicht vorweg nehmen (wie hier vom Antragsteller mit dem Hauptantrag beantragt). In der Regel ist es deshalb nicht zulässig, eine Behörde zum Erlass eines im Hauptsacheverfahren beantragten Verwaltungsakt oder – wie hier – zur Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung zu verpflichten. Nur ausnahmsweise kann es im Interesse der Effektivität des einstweiligen Rechtsschutzes erforderlich sein, der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst Rechtsschutz nicht erreichbar und dies für den Antragsteller unzumutbar wäre (vgl. Meyer-Ladewig, 8. Auflage, § 86 b SGG, RdNr. 31 m. w. N.). Eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Aufnahme des Antragsteller als freiwilliges Mitglied kommt im Eilverfahren deshalb nur dann in Betracht, wenn der Antragsteller mit einer entsprechenden Klage aller Voraussicht nach obsiegen würde: Denn nur dann drohen ihm unzumutbare Nachteile. Hier fehlt es in Bezug auf die Antragsgegnerin bereits an einem Anordnungsanspruch, weil der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 26.04.2006 nach kursorischer Prüfung rechtmäßig ist. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V sind Personen in der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld II nach dem SGB II beziehen, grundsätzlich versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung; dies gilt auch, wenn die Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist. Abweichend hiervon regelt § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2. Halbsatz SGB I, dass bei den erforderlichen Vorversicherungszeiten für die freiwillige Versicherung Zeiten der Mitgliedschaft nicht berücksichtigt werden, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde. Mit diesem durch Gesetz vom 22.12.2005 eingefügten Passus wollte der Gesetzgeber für die Zeit ab 31.12.2005 insbesondere verhindern, dass ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger Bezug von Arbeitslosengeld II dazu führt, dass im Anschluss daran eine dauerhafte freiwillige Mitgliedschaft begründet werden kann (vgl. Bundestags-Drucksache 16/245, Seite 9, 10). Hieraus leitet das Gericht ab, dass es im Rahmen der Vorversicherungszeit nach § 9 SGB V (anders als in der Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V hinsichtlich der Versicherungspflicht) nicht auf die formelle, sondern auf die materielle Rechtswidrigkeit des Leistungsbezuges ankommt, also auf Bedürftigkeit und Erwerbsfähigkeit nach § 19 SGB II. Die Nichtberücksichtigung als Vorversicherungszeit setzt daher nicht zusätzlich auch die rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheides über Arbeitslosengeld II voraus. Die Krankenkassen, die die Beitrittsberechtigung und damit die Frage der Nichtberücksichtigung dieser Zeit zu prüfen und zu beachten haben, müssen daher von Amts wegen die Frage des unrechtmäßigen Leistungsbezuges klären (vgl. Jahn, Sozialgesetzbuch für die Praxis, § 9 RdNrn. 20 a, 20 g und 20 h). Die entgegen stehende, von der Beigeladenen zitierte Rechtsprechung ist entweder noch nicht bestandskräftig, oder zu einem anderen Thema (Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V) ergangen. Da die Deutsche Rentenversicherung dem Antragsteller nach medizinischen Ermittlungen ab 18.04.2005 bis November 2007 volle Erwerbsminderung attestiert hat, hat dieser das Arbeitslosengeld II materiellrechtlich mindestens seit 18.04.2005 zu Unrecht bezogen. Die verbleibende Pflichtversicherung des Antragstellers vom 01.01. bis 18.04.2005 bei der Antragsgegnerin erfüllt aber weder die kleine noch die große Vorversicherungszeit nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, welche die Antragsgegnerin richtig in ihrem Bescheid vom 26.04.2006 dargestellt hat. Soweit die Beigeladene auf § 43 Abs. 1 SGB I verweist, ist festzustellen, dass nach dem bisherigen Stand der Dinge nach Auffassung des Gerichts keine Verpflichtung der Antragsgegnerin besteht, den Antragsteller als freiwilliges Mitglied aufzunehmen. § 43 Abs. 1 SGB I regelt jedoch den Fall, dass die Anspruchsvoraussetzungen gegen jeden Leistungsträger unstreitig gegeben sind, diese sich jedoch lediglich nicht über die Zuständigkeit einigen können. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Da die Möglichkeit der freiwilligen Krankenversicherung nicht offensichtlich ist, sondern nach Auffassung des Gerichts sogar ausgeschlossen erscheint und die oben dargelegte Problematik der materiellen oder formellen Rechtmäßigkeit noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ist eine Verpflichtung der Antragsgegnerin nicht sachdienlich. Anders als die im Rahmen des vertragsärztlichen Systems durchgeführte freiwillige Krankenversicherung ist die Durchführung der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V auf Grund der ohnehin stattfindenden Erstattung der Aufwendungen im Einzelfall problemlos rückabzuwickeln, falls sich in einem Hauptsacheverfahren ergibt, dass die freiwillige Krankenversicherung doch durchzuführen wäre.

Die Beigeladene hat dem Antragsteller nach § 48 SGB XII Hilfe bei Krankheit zu gewähren, wobei die Krankenbehandlung nach § 264 SGB V der Regelung nach § 48 Satz 1 SGB XII vorgeht. Eine rückwirkende Übernahme der Krankenbehandlung ist in § 264 SGB V nicht vorgesehen. Sollte der Antragsteller seit dem 01.05.2006 Krankenbehandlung in Anspruch genommen haben, wäre die Beigeladene verpflichtet, diese nach § 48 Satz 1 SGB XII zu übernehmen. Dasselbe gilt für den Fall, dass sich die Durchführung der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V verzögert. Dass im Falle des chronisch kranken Antragstellers, der fortlaufend Krankenbehandlung benötigt, ein Anordnungsgrund vorliegt, ist zwischen allen Beteiligten unstreitig. Nach der ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin hat der Antragsteller derzeit keinen Krankenversicherungsschutz. Die Beigeladene lehnt Hilfe bei Krankheit oder die Gewährleistung einer Krankenbehandlung nach § 264 SGB V ab. Da der Antragsteller mittellos ist, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten, um die weitere Krankenbehandlung des chronisch kranken Antragstellers sicherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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