S 6 AS 218/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Köln (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 218/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 B 312/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 18.04.2006 gegen den Aufhebungs- und Erstattungs- bescheid vom 30.03.2006 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Der vom Antragsteller ausdrücklich gestellte Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die vom 02.10.2006 angekündigte Vollstreckung auszusetzen, ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 18.04.2006 gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 30.03.2006 gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegen. Nach § 123 SGG, der auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gilt (vgl. Meyer-Ladewig, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 123 Rn. 2), ist das Gericht bei seiner Entscheidung nicht an die Fassung des Antrags gebunden. Erforderlichenfalls ist das Rechtsschutzbegehren durch Auslegung des Antrags zu ermitteln. Im Zweifel wird der Rechtsschutzsuchende den Antrag stellen wollen, der ihm am Besten zum Ziel verhilft (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 123 Rn. 3). Der Antragsteller möchte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erreichen, dass die Antragsgegnerin Vollstreckungsmaßnahmen wegen der im Bescheid vom 30.03.2006 festgesetzten Erstattungsforderung von 446,00 Euro unterlässt. Mit dem Rechtsbehelf nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, der gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz SGG gegenüber dem Antrag auf einstweilige Anordnung vorrangig ist, kann der Antragsteller dieses Rechtsschutzziel erreichen, denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hätte zur Folge, dass die Antragsgegnerin aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30.03.2006 keine für den Antragsteller nachteiligen Folgerungen ziehen dürfte (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 86 a Rn. 5 m.w.N.) und Vollstreckungsmaßnahmen deshalb unterlassen müsste.

Der Antrag ist statthaft. Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung anordnen. Der Widerspruch vom 18.04.2006 hat nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen gilt § 39 Nr. 1 SGB II auch für auf § 50 SGB X gestützte Erstattungsbescheide, mit denen nach erfolgter rückwirkender Aufhebung der Bewilligung ganz oder teilweise zu Unrecht gewährte Leistungen nach dem SGB II zurückgefordert werden (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.07.2006, Az.: L 12 B 55/06 AS ER; Beschluss vom 31.03.2006, Az.: L 19 B 15/06 AS ER; Beschluss vom 26.07.2006, Az.: L 20 B 144/06 AS ER). Dieser Auffassung schließt sich die Kammer trotz erheblicher Bedenken und der von anderen Landessozialgerichten mit beachtlichen Argumenten vertretenen Gegenauffassung an.

Dem Antrag fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragsgegnerin mittlerweile durch Widerspruchsbescheid vom 17.10.2006 über den Widerspruch des Antragstellers entschieden hat. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung anzuordnen, zielt grundsätzlich darauf ab, diese Entscheidung für die Dauer des gesamten Verfahrens bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der angegriffenen Verwaltungsentscheidung zu erreichen. Das entspricht dem Interesse an effektivem Rechtsschutz. Dementsprechend war bereits in der Rechtsprechung zur Vorläufer-Regelung in § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bis zur Schaffung von § 80 b VwGO durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 01.12.1996 (BGBl. I 1626) anerkannt, dass die durch Beschluss angeordnete aufschiebende Wirkung bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts andauert, wenn das Gericht sie nicht befristet (vgl. BVerwGE 78, 192, 208). Dem stimmte die Literatur zu (vgl. z.B. Kopp, VwGO, 10. Auflage, § 80 Rn. 34). An diese Rechtslage hat der Gesetzgeber mit der Schaffung von § 86 b SGG angeknüpft, ohne die Regelung des § 80 b VwGO zu übernehmen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs kann damit auch noch nach Erlass des Widerspruchsbescheids angeordnet werden. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung erfasst dann auch die später erhobene Anfechtungsklage (vgl. zum ganzen Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.01.2005, Az.: L 2 B 9/03 KR ER). Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird durch § 86 b Abs. 3 SGG, wonach die Anträge nach § 86 b Abs. 1 und Abs. 2 schon vor Klageerhebung zulässig sind, bestätigt.

Der Antrag ist auch begründet. Die nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zu treffende Entscheidung steht im Ermessen des Gerichts und erfolgt auf der Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen ist zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interessen der Verwaltung an der Vollziehung der Bescheide. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu. Ergibt eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, da ein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht bestehen kann (vgl. Keller, a.a.O., § 86 b Rn. 12 c). Erweist sich demgegenüber der Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, die die Aussetzung der Vollziehung ausnahmsweise geboten erscheinen lassen. Nach diesen Grundsätzen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 30.03.2006 ist offensichtlich rechtswidrig.

Es kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen der für die im Bescheid vom 30.03.2006 erfolgte Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 06.05.2005 für die Zeit vom 01.04.2005 bis 30.09.2005 allein in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt sind. Die Entscheidung über die Aufhebung der Bewilligung ist jedenfalls mangels hinreichender Bestimmtheit rechtswidrig.

Gemäß § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich bestimmt sein. Für Aufhebungsbescheide bedeutet dies, dass sich aus dem Bescheid für den Adressaten klar und unzweideutig ergeben muss, welcher Verwaltungsakt, insbesondere welcher Verfügungssatz, ab wann und in welchem Umfang aufgehoben werden soll (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 30.03.2004, Az.: B 4 RA 26/02 R). Diesen Anforderungen genügt die im Bescheid vom 30.03.2006 erfolgte Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 06.05.2005 nicht. Es kann dahinstehen, ob dies bereits deshalb gilt, weil die Antragsgegnerin in den Verfügungssatz des Aufhebungsbescheids vom 30.03.2006 aufgenommen hat, dass sie den Bewilligungsbescheid vom 06.05.2005 "für die Zeit vom 01.04.2005 bis 30.09.2005" teilweise aufhebe, obwohl die von der Antragsgegnerin als Einkommen im Sinne von § 11 SGB II bewertete Einkommensteuererstattung dem Antragsteller im Monat Juli 2005 zugeflossen ist und die Antragsgegnerin dementsprechend nach ihren weiteren Ausführungen im Verfügungssatz des Bescheids vom 30.03.2006 auch nur für den Monat Juli 2005 eine Überzahlung von SGB II-Leistungen in Höhe von 446,00 Euro angenommen hat. Der Aufhebungsbescheid vom 30.03.2006 verstößt jedenfalls deshalb gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, weil weder aus dem Ausgangsbescheid noch aus dem Widerspruchsbescheid vom 17.10.2006 ersichtlich wird, in welchem Umfang der ursprüngliche Bewilligungsbescheid für das jeweilige Mitglied der aus dem Antragsteller, seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Sohn bestehenden Bedarfsgemeinschaft aufgehoben wird.

Nach ganz herrschender Meinung handelt es sich bei den Ansprüchen der zu einer Bedarfsgemeinschaft gehörenden Hilfebedürftigen nach dem SGB II um Individualansprüche. Einen irgendwie gearteten Gesamtanspruch der Bedarfsgemeinschaft gibt es nicht, da die Bedarfsgemeinschaft als solche nicht Zuordnungssubjekt von Rechten und Pflichten und damit noch nicht einmal teilrechtsfähig ist (vgl. dazu ausführlich Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.05.2006, L 10 AS 102/06; Brühl in LBK-SGB II § 7 Rn. 33; Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 21). Die Bewilligungsbescheide nach den SGB II sind dementsprechend gesetzeskonform dahingehend auszulegen, dass sie (jedenfalls) jeweils gesonderte Regelungen im Sinne von § 31 SGB X (Verfügungssätze) hinsichtlich der dem jeweiligen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zustehenden individuellen Leistungsansprüche enthalten. Dass dies aus den Bewilligungsbescheiden der Antragsgegnerin regelmäßig nicht eindeutig und klar hervorgeht, ist auch unter Bestimmtheitsgesichtspunkten unschädlich, da es insoweit um Regelungen zu Gunsten der Antragsteller geht und sich die Höhe des individuellen Leistungsanspruchs aus den den Bescheiden beigefügten Berechnungsbögen ermitteln lässt. Ob darüber hinaus die Bewilligungsbescheide der Antragsgegnerin eine Regelung im Sinne von § 31 SGB X im Hinblick auf die den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft monatlich zustehende Gesamtsumme der Leistungen enthält, braucht hier nicht entschieden zu werden. Aus der Notwendigkeit der individuellen Regelung der Leistungsansprüche der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft folgt jedenfalls, dass auch die Aufhebung einer Leistungsbewilligung individualisiert zu erfolgen hat, denn der Aufhebungsbescheid ist als actus contrarius zum Bewilligungsbescheid "das Spiegelbild" des Leistungsverhältnisses (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30.04.1992, Az.: 5 C 29/88; Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 12.07.1999, Az.: 8 K 2907/98). Lässt der Aufhebungsbescheid nicht erkennen, welche individuelle Leistungsbewilligung in welchem Umfang aufgehoben werden, verstößt er gegen den Bestimmtheitsgrundsatz (zum ganzen ausführlich Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 13.06.2006, Az.: S 9 AS 834/05).

Nach diesen Grundsätzen genügt die von der Antragsgegnerin im Bescheid vom 30.03.2006 getroffene Aufhebungsentscheidung dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht, da nicht ersichtlich ist, in welcher Höhe zu Lasten welches Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft die Leistungsbewilligung aufgehoben wird. Dem Bestimmtheitsgrundsatz ist auch nicht im Hinblick auf die mit Bescheid vom 06.05.2005 konkret dem Antragsteller bewilligten Leistungen genüge getan worden. Aus dem Bescheid vom 30.03.2006 geht vielmehr noch nicht einmal hinreichend deutlich hervor, ob die Antragsgegnerin überhaupt eine Aufhebung der individuellen Leistungsbewilligungen vornehmen wollte. Die Tatsache, dass sie lediglich den insgesamt angeblich zu Unrecht geleisteten Betrag im Bescheid vom 30.03.2006 ausgewiesen hat, spricht eher dagegen.

Der Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ist auch nicht durch die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 17.10.2006 beseitigt worden. Unabhängig davon, ob dies überhaupt möglich wäre (ablehnend Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24.04.2003, Az.: 12 LA 85/03) wird auch aus den Ausführungen des Widerspruchsbescheids nicht hinreichend deutlich, welche individuelle Leistungsbewilligung in welchem Umfang aufgehoben werden sollte. Insoweit besteht zudem Anlass darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen der Antragsgegnerin im Widerspruchsbescheid zur Einkommensanrechnung unzutreffend sind. Die Antragsgegnerin geht offensichtlich davon aus, dass die im Juli 2005 zugeflossene Einkommensteuererstattung zu gleichen Teilen auf den Bedarf des Antragstellers und seiner Ehefrau anzurechnen ist. Dies entspricht der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II jedoch nicht. Wenn die Einkommensteuererstattung anrechenbares Einkommen im Sinne von § 11 SGB II wäre, hätte sie entsprechend der im Bescheid vom 06.05.2005 vorgenommenen Verteilung des Gesamtbedarfs auch bei dem Sohn des Antragstellers anteilsmäßig bedarfsmindernd berücksichtigt werden müssen.

Ist dementsprechend die im Bescheid vom 30.03.2006 erfolgte Aufhebungsentscheidung offensichtlich rechtswidrig, liegen auch die Voraussetzungen für eine Erstattung gemäß § 50 Abs. 1 SGB X nicht vor. Der im Bescheid vom 30.03.2006 enthaltene Erstattungsbescheid ist darüber hinaus ebenfalls wegen eines Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz offensichtlich rechtswidrig, denn der Individualisierungsgrundsatz gilt auch für Rückforderungen, die an eine Bewilligungsaufhebung anknüpfen (vgl. Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 13.06.2006, Az.: S 9 AS 834/05). Klarstellend sei insoweit darauf hingewiesen, dass, selbst wenn die Aufhebung individuell und damit hinreichend bestimmt erfolgt wäre, der Gesamtbetrag der Überzahlung nicht insgesamt von einer Person, d.h. hier dem Antragsteller, zurückgefordert werden könnte. Das Gesetz normiert keine gesamtschuldnerische Haftung der einzelnen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft für zu Unrecht gewährte Leistungen. Der Antragsteller kommt auch nicht deshalb als alleiniger Schuldner des Erstattungsanspruchs in Betracht, weil die im Bescheid vom 06.05.2006 bewilligten Leistungen insgesamt auf sein Konto überwiesen wurden. Der Antragsteller hat auch insoweit als Empfangsbevollmächtigter und damit als Vertreter für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gehandelt. Zahlungsempfänger im materiellem Sinn war jedoch das einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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