S 8 SO 1418/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Konstanz (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SO 1418/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid des Beklagten vom 10.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.04.2015 wird insoweit aufgehoben, als darin die Leistungen der Eingliederungshilfe vor dem 16.12.2013 eingestellt wurden.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
4. Die Berufung wird für den Beklagten zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger verlangt die Erstattung von offenen Schulkosten in Höhe von 547,20 EUR für die Zeit vom 16.11. bis 15.12.2013.

Der im Jahr 2003 geborene Kläger leidet unter einer kombinierten rezeptiven Sprachstörung. Nach einer ärztlichen Beurteilung des Landratsamtes Sigmaringen, Fachbereich Gesundheit, vom 16.08.2010 bestehe beim Kläger eine wesentliche Behinderung in Form einer Sprachbehinderung, und eine Beschulung in einer Sprachheilschule sei notwendig.

Seit September 2010 besucht der Kläger die Schule des Hör-Sprachzentrums A ... Er wurde in dem Hör-Sprachzentrum teilstationär aufgenommen. Die Pflegekosten hierfür wurden im Rahmen der Eingliederungshilfe zunächst vom Landkreis Sigmaringen, dem Beigeladenen, getragen, als der Kläger noch in B. S. zusammen mit seinen Eltern lebte.

Am 08.10.2012 verzog der Kläger mit seiner Mutter nach R. in den Landkreis des Beklagten. Ab diesem Zeitpunkt bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 18.02.2013 dem Kläger die Schulkosten als Eingliederungshilfe. In dem Bescheid wurde ferner mitgeteilt, dass die Schulkosten für den Besuch des sonderpädagogischen des Hör-Sprachzentrums A. bis zum Juli 2020 übernommen würden und der Kläger einen Umzug sofort mitteilen müsste.

Am 16.11.2013 verzog der Kläger mit seiner Mutter wieder in den Landkreis des Beigeladenen nach M.

Nachdem der Beklagte hiervon im Dezember 2013 Kenntnis erlangt hatte, stellte er mit Bescheid vom 10.12.2013 rückwirkend die Leistungen der Eingliederungshilfe zum 15.11.2013 ein, da die örtliche Zuständigkeit nun bei dem Beigeladenen liege. Hiergegen erhob der Kläger über seine Mutter Widerspruch.

Mit Schreiben vom 13.12.2013, eingegangen bei dem Beigeladenen am 16.12.2013, teilte das Hör-Sprachzentrum A. dem Beigeladenen die Adressänderung des Klägers mit. Mit Bescheid vom 17.04.2014 bewilligte der Beigeladene darauf dem Kläger ab 16.12.2013, d.h. ab Kenntniserlangung vom Umzug nach M., Eingliederungshilfe für die teilstationäre Unterbringung in dem Hör-Sprachzentrum. Hiergegen wurde von dem Hör-Sprachzentrum als Bevollmächtigten der Mutter des Klägers Widerspruch eingelegt, da auch vor dem 16.12.2013 Schulkosten entstanden seien. Der Zuständigkeitswechsel dürfe nicht zu Lasten des Klägers gehen, der die Beschulung benötige. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.07.2014 wies der Beigeladene den Widerspruch zurück, da eine Leistungsgewährung vor Kenntnisnahme durch den Sozialhilfeträger ausgeschlossen sei. Die hiergegen vor dem Sozialgericht Konstanz erhobene Klage (Az. S 8 SO 2096/14) ist weiterhin anhängig und ruht gegenwärtig.

Am 01.08.2014 stellte das Hör-Sprachzentrum der Mutter des Klägers die Pflegeleistungen für den stationären Schulaufenthalt vom 16.11. bis 15.12.2013 in Höhe von 547,20 EUR in Rechnung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.04.2015 wies der Beklagte schließlich den Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.12.2013 zurück. Zur Begründung führte er an, dass der Bewilligungsbescheid vom 18.02.2013 ab dem Zeitpunkt des Umzuges nach § 48 Sozialgesetzbuch (SGB) X aufzuheben gewesen sei, da der Kläger seiner Pflicht zur Mitteilung des Umzuges grob fahrlässig nicht nachgekommen sei.

Am 15.05.2015 hat der Kläger vor dem Sozialgericht R. hiergegen Klage erhoben. Er führt an, dass der Beklagte für den Überbrückungszeitraum nach § 2 Abs. 3 SGB X bis zum Eintritt des Beigeladenen vorläufig für die Leistungsgewährung weiter zuständig gewesen sei. Komplikationen beim Zuständigkeitswechsel dürften nicht zu seinen Lasten gehen. Vielmehr solle der kontinuierliche Fortgang der notwendigen Sozialleistungen gesichert bleiben.

Mit Beschluss vom 17.06.2015 hat das Sozialgericht R. den Rechtsstreit an das Sozialgericht Konstanz verwiesen.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

den Bescheid des Beklagten vom 10.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.04.2015 insoweit aufzuheben, als darin die Leistungen der Eingliederungshilfe vor dem 16.12.2013 eingestellt wurden, und die Beklagte zu verpflichten, für ihn die offenen Schulkosten des Hör-Sprachzentrums A. für die Zeit vom 16.11.2013 bis 15.12.2013 in Höhe von 547,20 EUR zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Der Beklagte führt an, dass § 2 Abs. 3 SGB X nicht auf Umzüge von Leistungsberechtigten im Bereich des SGB XII anwendbar sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten und des Beigeladenen sowie auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Entscheidungsgründe:

Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten hat die Kammer nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden.

Streitgegenständlich ist der Aufhebungsbescheid vom 10.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.04.2015. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte den Bescheid vom 18.02.2013 über die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe ab dem 16.11.2015 aufgehoben. Die erhobene Klage ist als isolierte Anfechtungsklage statthaft. Sein Klageziel, die Kostenübernahme für die Schulkosten für die Zeit vom 16.11.2013 bis 15.12.2013 zu erlangen, kann der Kläger bereits durch die isolierte Aufhebung insoweit, als darin die Leistungen der Eingliederungshilfe vor dem 16.12.2013 eingestellt wurden, erreichen, da dann die ursprüngliche Bewilligung der Kostenübernahme für die Schulkosten im Bescheid vom 18.02.2013 wieder zum Tragen kommt. Einer darüber hinausgehenden Verpflichtungsklage auf Übernahme der Schulkosten bedarf es nicht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.02.2015, Az. L 16 R 1023/14; SG für das Saarland, Urteil vom 08.12.2014, Az. S 19 P 108/13). Die Verpflichtungsklage ist daher wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig.

Die Anfechtungsklage ist begründet.

Als Rechtsgrundlage für eine Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2013 kommt hier allein § 48 Abs. 1 SGB X in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung ist dann wesentlich, wenn aufgrund veränderter Umstände der ursprüngliche Verwaltungsakt nun (so) nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG, Urteil vom 21.03.2007, Az. B 11a AL 31/06 R).

Der Umzug des Klägers von R. nach M. am 16.11.2013 stellt jedoch keine wesentliche Änderung der Verhältnisse dar und steht der Leistungsgewährung nicht entgegen. Der Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten im Sinne des § 98 Abs. 1 SGB XII regelt nämlich allein die Zuständigkeit der verschiedenen Grundsicherungsträger, er ist keine Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Leistung (vgl. zur Parallelvorschrift § 36 SGB II im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende: BSG, Urteil vom 23.05.2012, Az. B 14 AS 133/11 R; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 12.04.2011, Az. L 6 AS 45/10; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.12.2009, Az. L 7 B 409/09 AG ER; SG Berlin, Beschluss vom 11.09.2014, Az. S 147 AS 20920/14 ER m.w.N.).

Dies folgt auch aus § 2 Abs. 3 SGB X, wonach bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit die bisher zuständige Behörde die Leistungen noch so lange erbringen muss, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden. § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X enthält eine eigenständige materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage, in dem die Vorschrift einen Leistungsanspruch des Leistungsempfängers gegenüber dem bisherigen, nunmehr unzuständig gewordenen Leistungsträger begründet (Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, § 2 Rdn. 15; von Wulffen-Engelmann, Kommentar zum SGB X, § 2 Rdn. 13). Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, eine typischerweise bei einem Zuständigkeitswechsel eintretende Unterbrechung der Leistung an den Leistungsempfänger zu verhindern und einen nahtlosen Übergang der Leistungsgewährung zu erreichen (vgl. Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 8/2034 zu Art. 1 § 2; Hauck/Noftz, § 2 Rdn. 14). § 2 Abs. 3 SGB X ist im Sozialhilferecht auch anwendbar (Schlette in: Hauck/Noftz, SGB, 03/15, § 98 SGB XII, Rn. 17, OVG NRW, Urteil vom 19.12.2002, Az. 16 A 30/01). Nur im Bereich der - hier nicht einschlägigen - stationären Leistungen des § 98 Abs. 2 SGB XII wird eine speziellere Regelung getroffen, die die allgemeinere Regelung des § 2 Abs. 3 SGB X ausschließt. Im Bereich der ambulanten Leistungen kommt § 2 Abs. 3 SGB X also zum Tragen und geht den §§ 102, 105 SGB X vor (Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 12.04.2011, a.a.O., OVG Thüringen, Urteil vom 26.05.2004, Az. 3 KO 76/04).

Dem steht die vom Beklagten genannte Rechtsprechung des LSG Sachsen-Anhalt (Beschluss vom 27.01.2015, Az. L 4 AS 969/13 NZB) nicht entgegen. Im dortigen Fall hatte der Aufenthaltswechsel des Leistungsberechtigten neben der Regelung der Behördenzuständigkeit insbesondere noch Bedeutung für den Leistungsanspruch im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft, die sich mit einem Wohnungswechsel zwangsläufig ändern. Neben der Behördenzuständigkeitsregelung waren dort mit dem Aufenthaltswechsel also auch leistungsrelevante tatsächliche Umstände verbunden. Im vorliegenden Fall hat der örtliche Aufenthalt des Klägers für seinen Eingliederungshilfeanspruch in dem Hör-Sprachzentrum A. jedoch neben der Behördenzuständigkeit gerade keine weitere, doppelte Bedeutung. Der Kläger hat nur seinen Wohnort, der in Mengen nicht weiter von dem Hör-Sprachzentrum entfernt liegt als der frühere Wohnort R., gewechselt und ohne Unterbrechung die Schule weiter besucht. Anhaltspunkte, dass mit dem Wohnortwechsel nun eine neue Schule für den Kläger in Betracht zu ziehen gewesen wäre, bestehen nicht und werden auch nicht substantiiert vorgebracht. Dementsprechend wurde von dem Beklagten in dem streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid zur Begründung der Leistungsbeendigung auch nur auf die örtliche Zuständigkeit in § 98 SGB XII und nicht auf andere Gründe Bezug genommen. Die örtliche Zuständigkeitsregelung hat aber gerade keine anspruchsvoraussetzungsregelnde Funktion (BSG, Urteil vom 23.05.2012, a.a.O. zu § 36 Abs. 2 SGB II). Außerdem ist der Kläger vorliegend im November 2013 nur wieder in den Landkreis zurückgezogen, den er im Oktober 2012 verlassen hatte. Ein Schulwechsel war auch damals beim Wechsel in den Landkreis des Beklagten nicht von diesem veranlasst worden.

Ein (Weiterzahlungs-) Anspruch des Klägers ergibt sich nur in dem Umfang, in dem die Leistungsgewährung rechtmäßig ist und die bisher zuständige Behörde mit Rechtsgrund geleistet hat. Auf diesen Umfang ist der in § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X vorgesehenen Erstattungsanspruch des bisherigen Leistungsträgers gegen den nach den örtlichen Zuständigkeitsregeln nunmehr zuständig gewordenen Leistungsträger beschränkt (Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 12.04.2011, a.a.O., LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.04.2010, Az. L 23 SO 148/07). An der Rechtmäßigkeit der Eingliederungshilfeleistungen nach §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII durch den Beklagten an den Kläger bis zum 15.12.2013 bestehen keine Zweifel, zumal auch eine Rechnung des Hör-Sprachzentrums über den hier streitigen Zeitraum vom 16.11. bis 15.12.2013 - gerichtet an die Mutter des Klägers - vorgelegt wurde, sodass er insoweit einer Kostenbelastung ausgesetzt ist.

Der Gesetzgeber hat für den Fall des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit die einzelnen Sozialhilfeträger somit auf die in den § 102 ff SGB X geregelten Erstattungsansprüchen untereinander verwiesen. Der beklagte Sozialhilfeträger hat kein Wahlrecht dahingehend, auf den Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X zu verzichten und sich stattdessen nach den §§ 45, 48 SGB X an den Kläger zu halten. Aus Gründen der Rechtsklarheit und Verwaltungsökonomie hat sich der Gesetzgeber für eine vorrangige und im Rahmen des Sozialleistungsrechts einheitliche Form des Ausgleichs von Leistungsbewilligungen entschieden (vgl. zu alledem: Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 12.04.2011, a.a.O.; Klattenhoff in Hauck/Noftz, SGB X, § 107 Rdnr. 11; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.02.2007, Az. L 7 SO 1253/06). Dies hat zur Folge, dass der Beklagte sich nach § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X hinsichtlich der Eingliederungshilfeleistungen an den Beigeladenen hätte wenden und dort einen Erstattungsanspruch hätte geltend machen müssen. Ob dies wegen der Ausschlussfrist des § 111 Satz 2 SGB X jetzt noch möglich ist, muss an dieser Stelle nicht geklärt werden.

Nach alledem war der Klage wie tenoriert stattzugeben. Dies hat zur Folge, dass der Bewilligungsbescheid vom 18.02.2013 wieder bis zum einschließlich 15.12.2013 voll wirksam ist und der Beklagte die bis dahin angefallenen Heimkosten (547,20 EUR), die er wohl unter Missachtung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und der Klage gegen den Aufhebungsbescheid (§ 86a Abs. 1 SGG, vgl. hierzu auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.01.2006, Az.: L 8 SO 83/05 ER) bislang noch nicht bezahlt hat, endgültig zu übernehmen hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Klage ganz überwiegend erfolgreich war, hält es die Kammer für angemessen, dem Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Klägerseite ganz aufzuerlegen. Übrigen außergerichtliche Kosten, insbesondere die des Beigeladenen, sind nicht zu erstatten.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles war die Berufung für den Beklagten zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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