S 8 KR 23/17 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 8 KR 23/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für das Eingreifen der Ausnahmevorschrift des § 5 Absatz 1 Nr. 9, 2. Halbsatz SGB V muss die überwiegende Ursache für die späte Studiumaufnahme gerade im Beschreiten des 2. Bildungsweges liegen.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Mit seinem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz begehrt der Antragsteller den Versicherungsstatus als pflichtversicherter Student in der gesetzlichen Krankenversicherung (KVdS) und gesetzlichen Pflegeversicherung. Des Weiteren wehrt er sich gegen die Vollstreckung von Beitragsrückständen.

Der 1984 geborene Antragsteller ist seit dem 01.04.2004 mit wenigen Unterbrechungen (01.02. – 14.02.2008, 01.06. – 15.06.2008 und 01.05.2009 – 23.09.2010) als Angehöriger einer Beschäftigten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen bei der Antragsgegnerin und der Beigeladenen versichert, teilweise war er als Beschäftigter und teilweise als Empfänger von Arbeitslosengeld versichert. Zum 01.10.2016 nahm der Antragsteller an der Universität A-Stadt ein Studium der Informatik auf, nachdem er in der Zeit vom 01.02.2014 – 31.07.2016 das Abendgymnasium für Berufstätige in A-Stadt besucht und dort die Fachhochschulreife erlangt hatte.

Am 16.08.2016 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin und der Beigeladenen die Durchführung der Mitgliedschaft in der Kranken- bzw. Pflegeversicherung der Studenten (KVdS) gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V bzw. § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 SGB XI.

Mehrere in der Folge ergangene Beitragsbescheide der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, in denen diese die Beiträge des Antragstellers nach einem freiwilligen Versicherungsverhältnis erhoben hatten, ließ der Antragsteller bestandskräftig werden.

Mit Bescheid vom 23.06.2017 lehnten die Antragsgegnerin und die Beigeladene die Durchführung der studentischen Pflichtversicherung für den Antragsteller ab dem 01.10.2016 ab. Hiergegen erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 27.07.2017 Widerspruch und führte aus, dass das Vorliegen möglicher Hinderungszeiten und gründe für ihn unerheblich sei, da er die Studienvoraussetzungen über den 2. Bildungsweg erworben habe. Der Gesetzgeber habe aber ausdrücklich den Abschluss einer Ausbildung bzw. eines Studiums fördern wollen und hierfür gerade keine Hindernisse aufstellen wollen. Zudem seien von den Antragsgegnerin und der Beigeladenen die Hinderungszeiten fehlerhaft berechnet worden. Die gesamte Zeitspanne seines Besuches der Abendschule hätte berücksichtigt werden müssen, da der Beginn des 2. Bildungsweges vor Vollendung seines 30. Lebensjahres im Februar 2014 gewesen sei. Zudem stelle seine finanzielle und persönliche Situation mit 2 Kindern und in Trennung lebend einen schwerwiegenden Grund für eine Pflichtversicherung in der KVdS dar. Aufgrund der höheren Beiträge in der freiwilligen Versicherung drohe der Studienabbruch aus finanziellen Gründen. Der Antragsteller forderte die Antragsgegnerin und die Beigeladene zudem auf, Zahlungsaufforderungen bzgl. angeblicher Rückstände aufgrund der exorbitanten Beiträge der freiwilligen Versicherung zu unterlassen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2017 wiesen die Antragsgegnerin und die Beigeladene den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 23.06.2017 als unbegründet zurück. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) seien Studenten nach Abschluss des 14. Fachsemesters oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres nur dann versicherungspflichtig, wenn die Art der Ausbildung, insbesondere der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des 2. Bildungsweges oder familiäre sowie persönliche Gründe die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigten. Dies gelte gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 Sozialgesetzbuch 11.Buch (SGB XI) analog für die Pflegeversicherung. Es kämen aber nur Gründe in Betracht, die bei objektiver Betrachtung von solchem Gewicht seien, dass sie die Aufnahme oder den Abschluss des Studiums verhindert hätten oder als unzumutbar erscheinen ließen. Die Zeiten, in denen derartige Gründe vorgelegen hätten, würden als Hinderungszeiten bezeichnet. Die Ursächlichkeit sei dann anzunehmen, wenn die Hinderungszeiten gegenüber den Zeiten überwiegen würden, in denen der Student nicht am Studium gehindert gewesen sei (Nichthinderungszeiten). Die Versicherungspflicht als Student in der gesetzlichen Krankenversicherung ende auch im Fall des nahtlosen Vorliegens von Hinderungsgründen spätestens mit dem 37. Lebensjahr (Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.10.2014 – B 12 KR 17/12 R). Als Hinderungszeiten, die eine Verlängerung der Versicherungspflicht in der KVdS über das 30. Lebensjahr hinaus rechtfertigen, kämen zudem lediglich Zeiten in Betracht, die vor Vollendung des 30. Lebensjahres zurückgelegt worden seien. Die nach Vollendung des 30. Lebensjahres verbrachten Hinderungszeiten könnten die Versicherungspflicht in der KVdS nicht verlängern, weil sie die Überschreitung der Altersgrenze nicht gerechtfertigt haben könnten (Urteile des Bundessozialgerichts vom 30.09.1992 – 12 RK 3/91 und 15.10.2014 – B 12 KR 1/13 R). Die Zeit einer vor Beschreiten des 2. Bildungsweges ausgeübten Berufstätigkeit könne nur als Hinderungszeit zählen, soweit die Berufstätigkeit Voraussetzung für das Beschreiten des 2. Bildungsweges gewesen sei (vgl. Urteil des BSG vom 30.09.1992 12 RK 3/91). Die Zeit einer längeren als für die Beschreitung des 2. Bildungsweges erforderlichen Berufstätigkeit hingegen sei nicht als Hinderungszeit anrechenbar (vgl. BSG vom 23.06.1994 – 12 RK 71/93). Die Durchführung der KVdS sei – so das BSG – bei Aufnahme eines Studiums nach Vollendung des 30. Lebensjahres nicht schlechthin ausgeschlossen. Sie komme allerdings nur dann in Betracht, wenn in der Zeit zwischen üblicher Abiturerlangung (etwa im Alter von 20 Jahren) und dem Beginn des 2. Bildungsweges sowie zwischen dem Abitur im 2. Bildungsweg und dem Studiumbeginn im Wesentlichen durchgehend Hinderungsgründe vorgelegen hätten. Die Zeit einer vor Beschreiten des 2. Bildungsweges ausgeübten Berufstätigkeit könne nur als Hinderungszeit zählen, soweit die Berufstätigkeit Voraussetzung für das Bestreiten des 2. Bildungsweges gewesen sei (BSG vom 30.09.1992 – 12 RK 3/91). Die Zeit einer längeren als für die Beschreitung des 2. Bildungsweges erforderlichen Berufstätigkeit oder eine langjährige Berufstätigkeit vor Erwerb der Hochschulreife hingegen gelte nicht als Hinderungsgrund (vgl. BSG vom 30.06.1993 – 12 RK 6/93 und vom 23.06.1994 12 RK 71/93). Anerkannte Hinderungszeiten seien neben der Art der Ausbildung familiäre oder persönliche Gründe. Familiäre Gründe seien z.B. Erkrankungen und Behinderungen von Familienangehörigen, soweit dadurch eine Betreuung oder Pflege durch den Studenten erforderlich sei. Persönliche Gründe könnten etwa sein: Erkrankung, Behinderung, Geburt eines Kindes und die anschließende Betreuung, Nichtzulassung zur gewählten Ausbildung im Auswahlverfahren, freiwilliger Wehr- und Zivildienst und freiwillige Dienstverpflichtung als Zeitsoldat bzw. Bundesfreiwilligendienst sowie vergleichbare anerkannte Freiwilligendienste, freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr, Entwicklungshelferdienst oder Mitarbeiter in den Gremien der Hochschulen (gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 21.03.2006, Rundschreiben 06b, Punkt1.1, Tit.1.1.3, Ergebnisniederschrift Fachkonferenzbeiträge vom 22.11.2011, TOP 1). Eine Durchführung der Mitgliedschaft in der KVdS komme nach den dargestellten Grundsätzen im Falle des Antragstellers nur in Betracht, wenn in der Zeit zwischen üblicher Abiturerlangung und den Beginn des 2. Bildungsweges sowie zwischen dem Abitur im 2. Bildungsweg und den Studienbeginn im Wesentlichen durchgehend Hinderungsgründe vorgelegen hätten. Als Hinderungszeiten könne der Zeitraum der Erlangung der allgemeinen Hochschulreife vom 01.02.2014 bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres am 18.12.2014 (10 Monate und 17 Tage) anerkannt werden. Zeiten des 2. Bildungsweges des Antragstellers nach Vollendung des 30. Lebensjahres fänden keine Berücksichtigung, da sie für die Überschreitung der Altersgrenze nicht ursächlich gewesen seien. Als Hinderungszeiten nicht anerkannt werden könne ein Zeitraum von insgesamt 7 Jahren, 11 Monaten und 29 Tagen, in denen der Antragsteller als Empfänger von Arbeitslosengeld versicherungspflichtiges Mitglied der Antragsgegnerin und der Beigeladenen gewesen sei. Somit hätten zwischen üblicher Abiturerlangung und Beschreitung des 2. Bildungsweges nicht durchgängig Hinderungsgründe vorgelegen. Die Nichthinderungszeiten würden im Falle des Antragstellers deutlich überwiegen. Demnach sei der Antrag des Antragstellers auf Aufnahme in die KVdS zutreffend abgelehnt worden.

Hiergegen richtet sich die am 16.10.2017 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage, die unter dem Az. angelegt wurde, und mit der der Kläger die studentische Pflichtversicherung ab dem 01.10.2016 begehrt. Gleichzeitig hat der Antragsteller den hiesigen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz erhoben, der unter dem Az. S 8 KR 23/17 ER angelegt wurde, und mit dem der Antragsteller vorläufig für den Zeitraum ab dem 01.10.2016 den Status als studentisch Pflichtversicherter als Grundlage für die Bemessung seiner Beiträge erstrebt. Gleichzeitig wehrt sich der Antragssteller im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Vorlage einer Vollstreckungsankündigung des Hauptzollamts D. vom 11.09.2017 in Höhe eines Gesamtbetrages von 421,17 Euro gegen Vollstreckungsmaßnahmen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen.

Zur Begründung der Klage hat der Antragsteller darauf hingewiesen, dass gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V Studenten nach Vollendung des 30. Lebensjahres in die studentische Pflichtversicherung zwar nur in bestimmten Ausnahmefällen aufzunehmen seien. Hierzu werde allerdings im selben Halbsatz ausdrücklich und explizit der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen auf dem 2. Bildungsweg genannt, was exakt auf seine Situation zutreffe. Er – der Antragsteller – beziehe aufgrund der Ausnahmeregelung für den 2. Bildungsweg Bafög und arbeite neben dem Studium die beim Bezug von Bafög maximal zulässige Zeit von 20 Stunden wöchentlich u.a. weil er getrenntlebender Vater von 2 Kindern sei und die Finanzierung des Studiums andernfalls nicht möglich sei. Bei einem monatlichen Beitrag wie er in der freiwilligen studentischen Versicherung anfalle, sei ein direkter unmittelbarer Studienabbruch die Folge, da er diese Beiträge kaum finanzieren könne. Seiner Auffassung nach liefen die im Widerspruchsbescheid angeführten Begründungen der Ablehnung seines Widerspruches in dieser Interpretationsweise grundsätzlich gegen den besonderen Schutz der Ausbildung, welcher vom Gesetzgeber immer wieder deutlich formuliert werde. Er – der Antragsteller - habe neben der bereits erwähnten Fachhochschulreife keinerlei Berufsabschluss oder sonstige Qualifikationen, arbeite jedoch in einer Anstellung bei Fa. E. als Programmierer und Web-Entwickler. Da er mit verschiedenen Begründungen die Ernsthaftigkeit und Motivation hinsichtlich des Studiums belegen könne, gehe er auch davon aus, dass der Gesetzgeber sein Studium der Informatik als förderungswürdig anerkenne. Darüber hinaus hat der Antragsteller im Verfahren S 8 KR 23/17 ER vorgetragen, dass der Gesetzgeber durch das Gewähren von Freibeiträgen bei der Ausbildungsförderung anerkenne, dass sich aufgrund der jeweiligen Lebenssituation das Netto stark vom Brutto unterscheiden könne wie es bei ihm aufgrund der höheren Lebenshaltungskosten im Vergleich zu einem jüngeren Studenten ohne entsprechenden Verpflichtungen der Fall sei. Eine Auslegung der Rechtslage, wie sie die Antragsgegnerin und die Beigeladene tätigten, würde seines Erachtens nach bedeuten, dass der Gesetzgeber einerseits sein Studium als förderungswürdige Ausbildung anerkenne, ihn jedoch gleichzeitig mit selbständig Berufstätigen gleichstelle (gleiche Beitragssätze bei der KV) und ihm die Finanzierung eines Studiums massiv erschwere, da die Berechnung der KV-Beiträge auf Basis des Bruttoeinkommens in keiner Weise höhere Kosten berücksichtige.

Der Antragsteller beantragt (wörtlich),
ihm einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Forderungen der Antragsgegnerin und Beigeladenen zu gewähren und diese aufzufordern, für die Dauer des Verfahrens vorläufig für den Zeitraum ab dem 01.10.2016 den Status als studentisch pflichtversichert als Grundlage für die Bemessung seiner Beträge zu nutzen und die Differenz der Kosten für die Dauer des Verfahrens als Klagebestandteil zu werten und diese als auch bereits in Vollzug befindlichen Maßnahmen (s. beigefügte Kopie der Vollstreckungsankündigung durch das Hauptzollamt D. sowie sämtliche auf den fehlerhaften Berechnungen begründete Mahngebühren, Zinsen etc. bis zur Entscheidung des Gerichts auszusetzen.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.

Sie beziehen sich im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 27.09.2017.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der beigezogenen Gerichtsakte sowie der übersandten Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin und der Beigeladenen Bezug genommen.

II.

Die zulässigen Anträge haben in der Sache keinen Erfolg.

Zunächst waren die Anträge des Antragstellers vom 16.10.2017 auszulegen.

Soweit der Antragsteller hierin beantragt, "die Antragsgegnerin und die Beigeladene aufzufordern, für die Dauer des Verfahrens vorläufig für den Zeitraum ab dem 01.10.2016 den Status als studentisch pflichtversichert als Grundlage für die Bemessung seiner Beiträge zu nutzen und die Differenz der Kosten für die Dauer des Verfahrens als Klagebestandteil zu werten", ist das Begehren des Antragstellers positiv auf die Gewährung vorläufigen Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes durch die Antragsgegnerin und durch die Beigeladene gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 9 SGB V bzw. § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 SGB XI gerichtet, so dass vorläufiger Rechtsschutz nur über § 86 b Abs. 2 SGG im Wege der einstweiligen Anordnung erlangt werden kann.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, § 86 b, RdNrn. 27 und 29 m.w.N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei sind, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., RdNrn. 16b, 16c, 40; Berlit, Info Also 2005, 3,8).

Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. etwa Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., RdNr. 42, siehe auch Schoch/Schmidt – Aßmann/Pitzner, VwGO, § 123 RdNr. 165 ff.).

Da der Antragsteller die vorläufige Aufnahme in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung begehrt, erstrebt er vorläufigen Rechtsschutz entsprechend § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer sog. Sicherungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG), bei der die Sicherung eines Status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer sog. Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen Rechtsposition, d.h. hier die Feststellung eines Versicherungspflichtverhältnisses bzw. das Bestehen der KVdS.

Die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen im Hauptsacheverfahren besteht (so OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.08.1992, DVBl. 93,66). Andererseits muss die Anwendung des vorläufigen Rechtsschutzes unter Beachtung des jeweils betroffenen Grundrechtes und des Erfordernisses effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) erfolgen. Dann müssen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, NJW 89, 827).

Nimmt der Erlass der einstweiligen Anordnung die Hauptsache aber vorweg, sind an die Prognose der Erfolgsaussichten besondere Anforderungen zu stellen. Denn mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darf grundsätzlich nicht etwas begehrt und im gerichtlichen Verfahren zugesprochen werden, was als Vorgriff auf den im Hauptsacheverfahren geltend zu machenden Anspruch anzusehen ist, weil das Gericht dem Wesen und dem Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend die Grenzen der vorläufigen Regelung grundsätzlich nicht überschreiten und damit das im Verwaltungs- und Klageverfahren verfolgte Ziel nicht vorwegnehmen darf.

Von einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit ist indes nicht auszugehen.

Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9, 1. Halbsatz SGB V sind Studenten, die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, unabhängig davon, ob sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, wenn für sie aufgrund über- oder zwischenstaatlichen Rechts kein Anspruch auf Sachleistungen besteht, bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres versicherungspflichtig (sog. KVdS). Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9, 2. Halbsatz SGB V sind Studenten nach Abschluss des 14. Fachsemesters oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres nur versicherungspflichtig, wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des 2. Bildungswegs, die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen.

Keine dieser Voraussetzungen ist im Falle des Antragstellers erfüllt.

Zwar scheint der Wortlaut der Vorschrift zunächst für den Antragsteller zu streiten, der den Erwerb der Zugangsvoraussetzungen für die Aufnahme seines Informatikstudiums in einer Ausbildungsstätte des 2. Bildungsweges erworben hat (Besuch des Abendgymnasiums für Berufstätige in A-Stadt vom 01.02.2014 – 31.07.2016 und der dortigen Erlangung der Fachhochschulreife).

Die Ausnahmeregelung in § 5 Abs. 1 Nr. 9, 2. Halbsatz SGB V ist jedoch eng auszulegen (vgl. hierzu und zum Folgenden: Peters in Kasseler Kommentar, Rdnr. 97 zu § 5 SGB V; Bundessozialgericht, Urteil vom 30.09.1992, 12 RK 40/91).

Persönliche oder familiäre Gründe im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 9 2. Halbsatz SGB V, die ausnahmsweise ein Hinausschieben der Altersgrenze rechtfertigen könnten, liegen beim Antragsteller nicht vor. Solche können z.B. die Erkrankung, Behinderung, Schwangerschaft, Nichtzulassung zu gewählten Ausbildungen im Auswahlverfahren, Eingehen einer mindestens achtjährigen Dienstverpflichtung als Soldat auf Zeit oder die Betreuung von Behinderten oder aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern sein (BSG, a.a.O.). Sofern der Antragsteller ausgeführt hat, dass er in Trennung lebend und 2 Kinder habe, ist dadurch dieser Tatbestand jedenfalls nicht erfüllt, zumal er offensichtlich nicht einmal für die Betreuung der Kinder zur Verfügung stehen muss.

Ein ausnahmsweises Hinausschieben der Altersgrenze könnte im Fall des Antragstellers somit nur unter dem Aspekt erfolgen, dass er seine Hochschulzugangsberechtigung in einer Ausbildungsstätte des 2. Bildungsweges erworben hat, doch auch dieser Ansatz greift letztlich nicht durch.

Das BSG hat in einer weiteren Entscheidung vom 23.06.1994 zum Az. 12 RK 71/93 unter Randnummer 12 ausgeführt, dass bei Absolventen des 2. Bildungsweges, die diesen so spät beschritten haben, dass sie erst nach Vollendung des 30. Lebensjahres mit dem Studium beginnen konnten, die Überschreitung der Altersgrenze in der Regel nicht mehr im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 9 Halbsatz 2 SGB V gerechtfertigt ist. Die Überschreitung sei dann nämlich regelmäßig nicht mehr durch den Erwerb der Zugangsvoraussetzungen im 2. Bildungsweg, sondern durch eine langjährige Berufsausübung vor dessen Beginn verursacht. Nach dieser Entscheidung komme bei solchen Studenten wegen des Ausnahmecharakters des § 5 Abs. 1 Nr. 9 Halbsatz 2 SGB V und weil der Altersbereich zwischen 19 und 30 Jahren, für den die KVdS vorgesehen sei, vollkommen verlassen werde, eine Versicherungspflicht grundsätzlich nicht in Betracht. Ausnahmsweise seien solche Studenten nur versicherungspflichtig, wenn bei ihnen im Alter zwischen etwa 20 Jahren und der Altersgrenze von 30 Jahren sowie weiter bis zum Beginn des Studiums Hinderungsgründe bestanden hätten, die für einen so späten Studienbeginn ursächlich gewesen seien und damit das Überschreiten der Altersgrenze rechtfertigen würden. Dem Urteil des BSG vom 30.09.1992 zum Az. 12 RK 50/91 sei zu entnehmen, dass bei einem Nebeneinander von Hinderungs- und Nichthinderungszeiten die Altersgrenze von 30 Jahren nicht ohne weiteres um die Zeit von Semestern hinauszuschieben sei, in der Hinderungsgründe vorgelegen hätten, weil dann die erforderliche Ursächlichkeit des Hinderungsgrundes für den späten Studienbeginn nicht geprüft, sondern als gegeben unterstellt würde. Wie das BSG in einem weiteren Urteil vom 30.06.1993 bestätigt habe, seien danach Studenten mit Studienbeginn nach Vollendung des 30. Lebensjahres in der KVdS nur dann versicherungspflichtig, wenn bei ihnen in der Zeit zwischen etwa der Vollendung des 20. Lebensjahres und dem Beginn des 2. Bildungsweges sowie zwischen dem Abitur im 2. Bildungsweg und dem Studienbeginn im Wesentlichen durchgehend Hinderungsgründe vorgelegen hätten.

Letztlich kommt im Falle des Antragstellers nur die Zeit vom 01.02.2014 (Aufnahme des Abendgymnasiums für Berufstätige in A-Stadt) bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres am 18.12.2014 als Hinderungszeit in dem o.g. Sinne in Betracht. Denn das BSG hat in seiner Entscheidung vom 30.09.1992 zum Az. 12 RK 3/91 unter Rdnr. 16 ausgeführt, dass Absolventen des 2. Bildungsweges an der Aufnahme des Studiums in der Zeit gehindert waren, die sie vor Vollendung des 30. Lebensjahres in einer entsprechenden Ausbildungsstätte für den Erwerb der Zugangsvoraussetzungen benötigt haben. Die nach Vollendung des 30. Lebensjahres im 2. Bildungsweg verbrachte Zeit komme demgegenüber nicht mehr in Betracht, weil sie die Überschreitung der Altersgrenze nicht gerechtfertigt haben kann.

Ob darüber hinaus Zeiten der Berufstätigkeit des Antragstellers als Hinderungszeiten insofern zu berücksichtigen sind, als sie evtl. Voraussetzung für das spätere Beschreitendürfen des 2. Bildungsweges waren, brauchte das Gericht nicht weiter aufzuklären. Denn insgesamt war das 3. Lebensjahrzehnt des Antragstellers von Zeiten der Arbeitslosigkeit geprägt (über 7 Jahre). In der Zusammenschau waren diese Zeiten überwiegend ursächlich für die späte Aufnahme des Studiums, nicht aber der zwischenzeitliche Besuch der Einrichtung des 2. Bildungsweges.

Ein schematisches Hinausschieben der Altersgrenze bei Vorliegen irgendwelcher Hinderungszeiten ohne Berücksichtigung der Kausalität verbietet sich jedoch.

Das Gericht sieht hierbei auch keinen Wertungswiderspruch zu § 10 Abs. 3 BAföG, denn die Vorschriften knüpfen mit abweichendem Ziel an unterschiedliche Sachverhalte an: Während der Gesetzgeber in § 10 Abs. 3 BAföG bestimmt hat, dass Ausbildungsförderung auch nach dem 30. Lebensjahr geleistet werden darf, wenn der Auszubildende die Zugangsvoraussetzungen z.B. an einem Kolleg erworben hat und die Ausbildung unverzüglich nach Erreichen der Zugangsvoraussetzungen aufgenommen wird, verbietet § 5 Abs. 1 Nr. 9, 2. Halbsatz SGB V jeden Automatismus bei Beurteilung des Pflichtversicherungsstatus: In jedem Falle muss die überwiegende Ursache für die späte Studienaufnahme im Beschreiten des 2. Bildungsweges zu sehen sein. Von der Möglichkeit des Bezuges von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetzes darf nicht ohne weiteres auf fortbestehende Pflichtversicherung in der KVdS geschlossen werden (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.02.2009, Az. L 9 KR 230/06).

Die überwiegende Ursache für die späte Studienaufnahme ist im Fall des Antragstellers aber gerade nicht im Beschreiten des 2. Bildungsweges zu sehen.

Sofern der Antragsteller darüber hinaus beantragt, "ihm einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Forderungen der Antragsgegnerin und Beigeladenen zu gewähren und in Vollzug befindlichen Maßnahmen sowie sämtliche auf den fehlerhaften Berechnungen begründeten Mahngebühren, Zinsen etc. bis zur Entscheidung des Gerichts auszusetzen", richtet sich dieser Antrag ebenfalls in zutreffender Weise gegen die Antragsgegnerin und die Beigelade, obwohl der Antragsteller insofern eine Vollstreckungsankündigung des Hauptzollamts D. vom 11.09.2017 vorgelegt hat. Aus den weiteren Ausführungen des Antragstellers ergibt sich nämlich, dass er sich mit diesem Antrag nicht gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung wendet, wofür richtiger Antragsgegner das Hauptzollamt D. gewesen wäre und nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung der Finanzrechtsweg hätte eingeschlagen werden müssen. Vielmehr betreffen seine Einwendungen ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Beitragsbescheide der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, die er aus einer fehlerhaften Einstufung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen in eine freiwillige Versicherung bei diesen ableitet. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die den Antragsteller belastenden Beitragsbescheide der Antragsgegnerin und der Beigeladenen wäre insofern nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG nachzusuchen, weil Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Beitragsbescheide nach § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung haben. Insofern ist jedoch zu beachten, dass der Antragsteller weder gegen die der Vollstreckungsankündigung des Hauptzollamts D. vom 11.09.2017 zugrundeliegende Mahnung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen vom 19.05.2017 noch gegen die Vollstreckungsankündigung vom 11.09.2017 noch gegen die Beitragsbescheide der Antragsgegnerin und der Beigeladenen Widerspruch erhoben hat.

Nach alledem waren die Anträge im einstweiligen Rechtsschutz insgesamt abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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